Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Band jgo.e-reviews 1 (2011), 3, S.
Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 1 (2011), 3 Rezensionen online
Verfasst von: Monika Heinemann
Stefan Dyroff: Erinnerungskultur im deutsch-polnischen Kontaktbereich. Bromberg und der Nordosten der Provinz Posen (Wojewodschaft Poznań) 1871–1939. Osnabrück: fibre, 2007. 479 S. = Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau, 19. ISBN: 978-3-938400-20-3.
Die zu besprechende Monographie unternimmt den Versuch, die Entwicklung der regionalen Erinnerungskulturen in dem deutsch-polnisch besiedelten Gebiet um die Städte Bromberg (Bydgoszcz) und Inowrocław (Inowrazlaw/Hohensalza) in den Jahren von der deutschen Reichsgründung 1871 bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 nachzuzeichnen. Durch diese Zeit der wechselnden staatlichen Zugehörigkeit des betrachteten Gebiets – zunächst zu Preußen im Rahmen des Deutschen Reiches, seit 1920 schließlich zur wiedererstanden Polnischen Republik – geht der Autor der Frage nach, inwieweit die vielfältigen Interaktionen zwischen den Bevölkerungsteilen im Bereich der Erinnerungskultur den Prozess der Nationalisierung in dieser multikulturellen Region Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts formten. Am Beispiel verschiedener Medien und gesellschaftlicher Akteure, die sich mit der Pflege der regionalen, staatlichen und nationalen Geschichte befassten, legt der Autor Wechselwirkungen zwischen beiden nationalen Kulturen offen. Der Fokus der Analyse und der Fallbeispiele liegt dabei auf den zwei größten Städten des Untersuchungsgebietes, Bromberg und Inowrocław, bei denen der überlieferte Quellenbestand deutlich umfangreicher ist als bei kleineren Ortschaften der Region.
Der erste große Abschnitt betrachtet die Versuche der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der regionalen Vergangenheit in historischen Gesellschaften und Vereinen, archäologischen Untersuchungen und Museen und somit die Aktivitäten der gesellschaftlichen Eliten. Dyroff macht dabei überzeugend deutlich, dass sowohl deutsche als auch polnische historische Vereine Einfluss auf die Entwicklung der Vorstellungen von der Vergangenheit der Region in breiteren Bevölkerungsschichten hatten, obwohl beide bis auf wenige Ausnahmen keine Publikationen von wissenschaftlichem Wert hervorbrachten. Eine Zäsur sieht Dyroff dabei um die Jahrhundertwende: Während die deutsche Bromberger „Historische Gesellschaft“ in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts noch dazu beitrug, die polnische Vergangenheit der Region einer breiteren Bevölkerung ins Bewusstsein zu rufen und dabei auch Kontakte mit polnischen regionalhistorisch interessierten Intellektuellen unterhielt, wandelte sich diese Offenheit nach 1900 zu einer Betrachtung der Geschichte durch die „Folie der Deutschtumsgeschichte“ (S. 74), welche auch nach dem Wechsel der staatlichen Zugehörigkeit des Gebiets nach 1920 anhielt. Auf polnischer Seite waren die Aktivitäten der historischen Vereine und Gesellschaften im 19. Jahrhundert den Zielen der organischen Arbeit verpflichtet; man war in erster Linie bestrebt, ein polnisches Nationalbewusstsein zu wecken. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts und nach dem Wechsel der Staatszugehörigkeit des Gebiets sollten jedoch auch zunehmend deutsche Versuche bekämpft werden, die Vergangenheit der Region für sich zu vereinnahmen.
Im nächsten Abschnitt wird die „textuelle Erinnerungskultur für breite Schichten der Gesellschaft“ untersucht, worunter literarische und populärwissenschaftliche Beschäftigungen mit der regionalen Vergangenheit sowie schulische und außerschulische Formen der Vermittlung historischer und ‒ damit verknüpft – patriotischer Inhalte subsumiert werden. Gerade in der Literatur wird dabei deutlich, dass sich bereits vor der Jahrhundertwende bestimmte nationale Schwerpunkte und Topoi entwickelten. So konzentrierten sich deutsche Autoren überwiegend auf die jüngere Periode der preußischen Herrschaft seit 1772. Sie nahmen dabei meist auf die regionalen Landschaften Bezug, wobei sie jedoch deren polnische Aspekte und Bewohner überwiegend aussparten und stattdessen den Topos der deutschen „Kulturarbeit“ zu etablieren suchten. Die darin bereits anklingenden antipolnischen Stereotype wurden schließlich in der Zwischenkriegszeit dominant. In dieser Periode wurde aktiv versucht, auch mit literarischen Mitteln das deutsche Recht auf die Region zu behaupten. 1920 änderte sich auch der Umgang der polnischen Literatur mit der Region. Während vor der staatlichen Unabhängigkeit die nationale Vergangenheit der Region kaum behandelt wurde und eher Themen der Nationalgeschichte von vor 1772 im Fokus standen, wurde das Polentum der Region nun verstärkt zum Thema.
Im dritten Kapitel beleuchtet Dyroff die „Kodierung des öffentlichen Raums“. Insbesondere wird der Umgang mit architektonischen Relikten der Vergangenheit betrachtet, werden Beispiele von im Untersuchungszeitraum neu entstandener historisierender Architektur vorgestellt und Auseinandersetzungen um Stadt- und Straßenbenennungen sowie „künstlerische Darstellungen“ thematisiert, worunter Denkmäler, Gedenktafeln und schließlich bildliche Darstellungen der Vergangenheit gefasst werden. In diesem Abschnitt legt der Autor unter anderem dar, wie sich erst im Zuge des sich zuspitzenden Nationalitätengegensatzes zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine nationale Wahrnehmung von Bauwerken, insbesondere von Sakralbauten, entwickelte. Dass diese in der Zwischenkriegszeit zu dominieren begann, begründet Dyroff mit der mangelnden Identifikation der polnischen Bevölkerung mit den architektonischen Hinterlassenschaften der deutschen Herrschaftszeit. Im Gegensatz dazu wurde von deutscher Seite vor 1920 überwiegend versucht, polnischen Bauwerken eine deutsche Vergangenheit zuzuschreiben und sie sich damit national anzueignen. Im Bereich der künstlerischen Darstellungen identifiziert der Autor nicht nur nationale Gegensätze, sondern auf beiden Seiten auch ein Auseinanderdriften von regionaler städtischer und staatlicher Repräsentation. So rekurrierte die regionale polnische Erinnerungskultur nach 1920 mit auch explizit gegen Deutsche gerichteten Denkmälern, z.B. für Henryk Sienkiewicz, fast ausschließlich auf die „Kulturnation Polen“; Bezüge auf den neuen polnischen Staat waren in der untersuchten Region äußerst selten. Der in anderen Landesteilen die öffentliche Sphäre dominierende Piłsudski-Kult nahm keine zentrale Position ein. Gerade in kleineren Städten überwogen weiterhin religiöse Denkmäler.
Diese Tendenzen einer Radikalisierung des Nationalitätenkampfes im Bereich der Erinnerungskultur einerseits und deren Regionalisierung anderseits werden auch in den Analysen des vierten und letzten Kapitels deutlich, das staatlichen und nationalen Festen und Feiertagen gewidmet ist. Der Autor stellt hier schlüssig dar, wie die im 19. Jahrhundert noch überwiegend integrierend wirkenden staatlichen Feiertage und Jubiläen zum Ende des Jahrhunderts diese Wirkung langsam verloren und stattdessen zunehmend zur Ausgrenzung der polnischen Minderheit benutzt wurden. In Reaktion darauf begann die polnische Bevölkerung um die Jahrhundertwende, eigene Feiern zum Gedenken an nationale Ereignisse und Personen zu organisieren. Als Hinweis auf die Ausbildung einer regionalen Erinnerungskultur sieht Dyroff die Fokussierung der von Polen organisierten Feiern auf Aspekte der organischen Arbeit im Gegensatz zu der in anderen polnischen Teilungsgebieten dominierenden Erinnerung an die Tradition der polnischen Aufstände. Dyroff sieht in dieser Entwicklung eine Antwort auf den von deutscher Seite propagierten Topos der „deutschen Kulturarbeit“. Diese regionale Spezifik bestand auch im unabhängigen Polen weiter: Im Untersuchungsgebiet wurde insbesondere an den Großpolnischen Aufstand erinnert, dessen Grundlagen wiederum auf die organische Arbeit verwiesen und nicht – wie im überwiegenden Teil der Republik – auf die polnischen Legionen, die mit dem Piłsudski-Kult eng verknüpft waren.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Autor mit dieser Monographie detailreich zeigt, wie sich die Entwicklung eines Nationalbewusstseins, nationaler Konkurrenzen und schließlich die Trennung in eine deutsche und polnische Erinnerungskultur in der untersuchten Region in gegenseitiger Reaktion auf die Aktivitäten der jeweils anderen Bevölkerungsgruppe vollzogen. Die Arbeit stellt damit eine Bereicherung des weiten Feldes der historischen „memory studies“ dar, die sich immer noch überwiegend auf Themen der Zeitgeschichte konzentrieren.
Die Menge an Quellenmaterial, das der Autor analysiert hat, ist beeindruckend. Die Breite des Untersuchungsfeldes geht jedoch an manchen Stellen zu Lasten der Tiefe der Analyse, so dass die Betrachtungen zu einzelnen Elementen der regionalen Erinnerungskultur unterschiedlich überzeugend ausfallen. So erfolgt beispielsweise die Untersuchung der Denkmäler der Region größtenteils unter dem Gesichtspunkt ihrer Anzahl und Thematik bzw. Widmung; eine nähere Betrachtung der an ihnen sich manifestierenden nationalen, religiösen oder politischen Symbolik wird leider vernachlässigt. Sehr ausführlich erfolgt dagegen die Auseinandersetzung mit der Thematik und Ausgestaltung historischer Jubiläumsfeiern und deren Zielen.
Monika Heinemann, München
Zitierweise: Monika Heinemann über: Stefan Dyroff: Erinnerungskultur im deutsch-polnischen Kontaktbereich. Bromberg und der Nordosten der Provinz Posen (Wojewodschaft Poznań) 1871–1939. Osnabrück: fibre, 2007. = Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau, 19. ISBN: 978-3-938400-20-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Heinemann_Dyroff_Erinnerungskultur.html (Datum des Seitenbesuchs)
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Zitierweise: Monika Heinemann über: Stefan Dyroff: Erinnerungskultur im deutsch-polnischen Kontaktbereich. Bromberg und der Nordosten der Provinz Posen (Wojewodschaft Poznań) 1871–1939. Osnabrück: fibre, 2007. = Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau, 19. ISBN: 978-3-938400-20-3, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, jgo.e-reviews 1 (2011), 3, S. : http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Heinemann_Dyroff_Erinnerungskultur.html (Datum des Seitenbesuchs)