Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 3 Rezensionen online

Verfasst von: Felix Heinert

 

Brian Horowitz: Empire Jews. Jewish Nationalism and Acculturation in 19th and Early 20th Century Russia. Bloomington, IN: Slavica Publishers, 2009. 305 S., zahlr. Abb. ISBN: 978-0-89357-349-2.

Das erwachte Interesse an Alternativen zur teleologischen Erzählung über den Untergang des Zarenimperiums hat die historiographische Wiederentdeckung und Neubewertung retrospektiv marginalisierter, im weitesten Sinne ‚liberaler‘ Projekte, Gesellschaftsdiagnosen und Selbstverständnisse beflügelt. Es war, so scheint es, außerdem die Hinwendung zu kulturwissenschaftlichen Perspektiven, die die langlebige Dichotomie von Herrschaft und Gesellschaft in der Historiographie des Zarenreiches durch komplexere Beschreibungsversuche abgelöst hat. In der jüdischen Geschichte begann das Umdenken vor etwa dreißig Jahren, als Historiker wie der inzwischen verstorbene John D. Klier, Michael Stanislawski u. a. ein facettenreicheres Bild der Judenfrage des Imperiums sowie der russisch-jüdischen Erfahrungen zu erarbeiten begannen und eine grundlegende Revision mehrerer langlebiger Annahmen der „lachrymose conception“ der älteren Historiographie einleiteten. So wurde der Blick auf vielschichtigere Erfahrungen freigelegt.

Hier setzt das Buch von Brian Horowitz an. Die hier versammelten Essays, die aus seinen geschichts- und literaturwissenschaftlichen Forschungen der letzten zwei Dekaden hervorgegangen sind, spiegeln die Annäherung an russisch-jüdische und russische Kultur wider, in der es – ohne dass man sie mit Labels wie „Symbiose“ etikettieren müsste – durchaus Platz für unterschiedlich konfigurierte, dezidiert russisch-jüdische Bindestrich-Selbstverständnisse und weitreichende Interdependenzen gab. Horowitz exemplifiziert dieses Phänomen anhand ausgewählter prominenter und zum Teil lange Zeit vergessener Figuren. Das Ergebnis ist ein aufschlussreiches Mosaik russisch-jüdischer Biographien von Personen, die „positions in the epicenter of Russia’s artistic and intellectual life“ einnahmen (S. 1) und dabei das säkulare (jedoch nicht unbedingt das areligiöse) Feld russisch-jüdischer Erfahrungen aktiv und reichsöffentlich repräsentierten und definierten. Am Beispiel von Lev Levanda, Semen Frug, Semen An-skij, Lejb Jaffe und Vladimir „Ze’ev“ Žabotinskij wird im ersten Teil des Buches („Jewish Writers between Two Worlds“) das Verhältnis zwischen literarischen Welten und komplexen Identitäten dieser russisch-jüdischen Schriftsteller analysiert. Im zweiten Teil („Conceptualizing a Nation Apart: Politics and Historiography“) geht es in fünf Kapiteln um „liberale Nationalisten“, um Historiker oder öffentliche Aktivisten wie Semen Dubnov, Genrich Sliozberg, Michail Morgulis, Jakob Tejtel sowie um die Entwicklung der Petersburger jüdischen Intelligenzija im Umfeld der „Gesellschaft zur Verbreitung von Aufklärung unter den Juden in Russland“ (kurz: OPE). Dahinter steht die Frage, wie diese liberalen Nationalisten zwei (nur scheinbar widersprüchliche) Projekte zugleich verfolgten: die Konstruktion einer modernen jüdischen Nation sowie die Integration in die Gesellschaft des Reiches. Der Autor rekonstruiert hier „the road not taken“ (S. 98), die später marginalisierte liberale „Alternative“. Im letzten Teil („Jews in the Russian Elite“) geht es am Beispiel von Michail Geršenzon, Lev Šestov und Aaron Štejnberg um Intellektuelle russisch-jüdischer Herkunft, die sich in der russischen Elite etablierten und – von der russischen (Hoch-)Kultur zutiefst geprägt – Deutungsansprüche entwickelten, jedoch nicht ohne Widerspruch oder den gelegentlichen Vorwurf der symbolischen Grenzüberschreitung seitens selbsternannter Vertreter der russischen und jüdischen Kultur.

Die hier versammelten Essays gehen – mit zwei Ausnahmen – auf Beiträge des Autors zurück, die in englischer oder russischer Sprache im Laufe der letzten zehn bis fünfzehn Jahre zum Teil an entlegener Stelle veröffentlicht worden sind. Für Fachleute bietet die Essaysammlung daher wenig Unbekanntes, doch liegt es nicht daran, dass der Autor keine neuen Erkenntnisse zu bieten hätte (das hat er mit seiner ebenfalls 2009 erschienenen Monographie zum OPE eindrucksvoll unter Beweis gestellt). Immerhin können die Aufsätze das innerhalb der letzten zwei Dekaden gestiegene Forschungsinteresse an liberalen sowie diaspora-nationalistischen russisch-jüdischen Denkern und Streitern dokumentieren und bündeln. (Das Maskulinum scheint korrekt zu sein und verweist nicht so sehr auf eine konzeptionelle Gender-Blindheit der Forschung, sondern nicht zuletzt darauf, dass reichsöffentliche Sphären, wie sie von Horowitz untersucht wurden, um 1900 (nicht nur im Zarenreich) vordergründig  bürgerlich-patriarchalische Gender-Kodierungen aufwiesen und entsprechend konfiguriert waren.)

Kurz nach dem Fall der Berliner Mauer, als er mit dem Projekt begann, „Russian Jewry seemed more a literary trope than a living community“ (S. 7). Nun florieren Jüdische Studien im postsowjetischen Raum und weltweit. Mit der Wiederentdeckung von (einst) prominenten, aber zum Teil in Vergessenheit geratenen russisch-jüdischen Persönlichkeiten hat Horowitz dazu einen nennenswerten und wichtigen Beitrag geleistet. Mit „Empire Jews“ liegt ein Buch vor, das in der konzentrierten Zusammenschau eine dezidiert russisch-jüdische „intellectual history“ neu entfaltet und durch die Nebeneinanderstellung von Einzelbiographien die Eingangshypothese plausibilisiert, dass es viele weitere russisch-jüdische Biographien von „Empire Jews“ gab, „many more than one might think“ (S. 1).

Felix Heinert, Köln

Zitierweise: Felix Heinert über: Brian Horowitz: Empire Jews. Jewish Nationalism and Acculturation in 19th and Early 20th Century Russia. Bloomington, IN: Slavica Publishers, 2009. ISBN: 978-0-89357-349-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Heinert_Horowitz_Empire_Jews.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2011 by Osteuropa-Institut Regensburg and Felix Heinert. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@osteuropa-institut.de