Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Andreas Hilger

 

Vengerskie sobytija 1956 goda glazami KGB i MVD SSSR. Sbornik dokumentovs. [Die ungarischen Ereignisse des Jahres 1956 aus dem Blickwinkel von KGB und MVD der UdSSR. Dokumentensammlung]. Sost. A. A. Zdanovič, V. K. Bylinin, V. K. Gasanov, V. I. Korotaev i V. F. Laškul. Moskva: Obedinennaja redakcija MVD Rossii; Obščestvo izučenija istorii otečestvennych specslužb, 2009. 519 S., Abb., Tab. ISBN: 978-5-8129-0090-8.

Čechoslovackie sobytija 1968 goda glazami KGB i MVD SSSR. Sbornik dokumentov. [Die tschechoslowakischen Ereignisse des Jahres 1956 aus dem Blickwinkel von KGB und MVD der UdSSR. Dokumentensammlung]. Sost. A. A. Zdanovič, V. F. Laškul, Ju. N. Morukov, Ju. Ch. Totrov. Moskva: Obedinennaja redakcija MVD Rossii; Obščestvo izučenija istorii otečestvennych specslužb, 2010. 511 S., Tab. ISBN: 978-5-8129-0102-8.

Das schwierige Verhältnis Russlands zu seiner sowjetischen Vergangenheit sowie die komplexe Identitätssuche des post-sowjetischen Staats prägen auch die gespaltene russische Wahrnehmung der Geschichte der sowjetischen Sicherheitsdienste. Kritischen Aufarbeitungen, die beispielsweise im Umfeld von Memorial erarbeitet wurden, steht eine Fülle von Publikationen entgegen, die entweder einzelne Zeitabschnitte – wie die frühen 1920er Jahre oder die Ära Andropov – oder isolierte Themengebiete (z. B. Wirtschaftskriminalität) aus der Tätigkeit der so genannten Čekisten herausgreifen, um daraus ein geschöntes Bild der ehemaligen Staatssicherheit zu konstruieren. Aus dieser idealisierten Vergangenheit leiten die Autoren zugleich aktuelle Aufgaben und Rechtfertigungen der post-sowjetischen Nachfolgedienste ab. Unter diese zweite Kategorie russischer Geschichtsschreibung über die sowjetische Staatssicherheit fallen auch die beiden hier anzuzeigenden Editionen. Beide Bände setzen sich gemäß Klappentext zum Ziel, die Abwehr der „sorgfältig geplanten und koordinierten Expansion westlicher Geheimdienste“ nach Ungarn 1956 und in die Tschechoslowakei 1968 zu dokumentieren. Die Brücke zur aktuellen Politik wird im Band zum Ungarn-Aufstand geschlagen: die Ereignisse von 1956 gelten den Herausgebern als eine „der ersten ‚bunten‘ Revolutionen“, die Geheimdienste der USA und Westeuropas „in der zweiten Hälfte des 20. und am Anfang des 21. Jahrhunderts“ „inspiriert und organisiert“ haben sollen (Vengerskie sobytija, S. 3).

Die Herausgeber haben insgesamt mehrere Hundert Dokumente aus den Zentralarchiven der Partei (RGANI), des Militärs (RGVA) und des MVD bzw. KGB zusammengestellt; der Band über Ungarn erhebt den Anspruch, die Aktivitäten ungarischer Sicherheitsdienste mit zu erfassen, beschränkt sich jedoch ebenfalls auf die sowjetische Archivlandschaft. Die Unterlagen zur sowjetischen Intervention von 1968 sind teilweise bereits aus der Großdokumentation „Prager Frühling“ bekannt, die 2008 unter anderem vom Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung und dem RGANI publiziert wurde.

Beide Bände sind mit umfangreichen Einleitungen versehen, die westliche Aktionspläne und Einzelmaßnahmen gegen die sozialistischen Staaten seit 1945 auflisten wollen. Dabei wird selbst der alte Mythos vom amerikanisch angeleiteten „Tag X“ in der DDR 1953 reaktiviert (Vengerskie sobytija, S. 21). Flugblattaktionen von „Emigrantenzentren“ im Ausland, vermeintliche Kontakte oppositioneller Zirkel zu einer Vielzahl westlicher Institutionen – vom BND und CIA über die von sowjetischen Agenten durchsetzte NTS bis hin zum Vatikan – werden ausführlich beschrieben. Auf die desaströsen innenpolitischen Entwicklungen in Ungarn oder in der ČSSR vor 1956/1968 gehen weder die Einleitungen noch die Dokumente in adäquater Weise ein. Einen Beleg für die große Verschwörungstheorie der ehemaligen Čekisten und ihrer Nachfolger können beide Editionen nicht liefern: Das KGB nahm beispielsweise vom 4. November 1956 bis zum 1. Januar 1957 knapp 15.000 Personen vorübergehend fest, von denen es genau sechs als ausländische Agenten klassifizierte (Vengerskie sobytija, S. 350).

Die präsentierten Meldungen, Berichte und Bilanzen zeigen vielmehr erneut die ideologisierte und damit arg verengte Wahrnehmung der Ereignisse in Ungarn und in der ČSSR durch Moskauer Stellen auf. Dass westliche Geheimdienste die ungarischen und tschechoslowakischen Verwerfungen dazu nutzen wollten, ihr Wissen über Militär, Wirtschaft und Politik im Ostblock allgemein auf den neuesten Stand zu bringen, sagt nichts über ihre Aktivitäten im Vorfeld und ebenso wenig über Ziele und Motive der einheimischen Akteure aus. Auf der anderen Seite bleibt leider im Dunkeln, inwieweit KGB-Gesandte die Perzeption im sowjetischen Zentrum durch bewusste Fehlmeldungen unterstützt oder gar geformt haben: 1968 zählte das KGB beispielsweise umfangreiche Maßnahmen zur „Desinformation und Desorganisation des Gegners“ zu seinen wichtigsten Aufgaben vor bzw. während der Invasion (Čechoslovackie sobytija, S. 318). Die geheimdienstliche Vorbereitung der sowjetischen Entscheidungsfindung, die ein dringendes Forschungsdesiderat darstellt, lässt sich anhand der hier publizierten Dokumente nicht rekonstruieren. Offen bleibt auch, inwieweit die Sorge um ein Übergreifen der Aufstands- resp. Reformbewegung auf die UdSSR selbst oder auf andere Staaten des sozialistischen Lagers die Moskauer Politik beeinflusst hat.

Die Bände unterstreichen, mit welcher Wucht die UdSSR sowohl in Ungarn als auch in der Tschechoslowakei vorgingen. Die jeweiligen čekistischen Maßnahmen unterschieden sich hier eher im Detail voneinander. 1956 nahm das KGB in Ungarn noch selbst Festnahmen und Verhaftungen im großen Stil vor. Von Interesse ist hier die penible Dokumentation der Entführung Imre Nagys (Vengerskie sobytija, S. 406-409) - leider erfährt man nichts über die sowjetischen Zuarbeiten zum späteren Prozess gegen den Politiker. 1968 verließ sich das KGB auf die tschechoslowakischen Kollegen. Zugleich nutzte der sowjetische Dienst die Gelegenheit, die eigene verdeckte Präsenz in der ČSSR auszubauen (Čechoslovackie sobytija, S. 322). Diese unterschiedlichen Vorgehensweisen reflektieren den Wandel, dem die Methoden der sowjetischen Staatssicherheit nach 1953 insgesamt unterworfen waren.

Die Dokumente bieten vor allem intensive Einblicke in die Denkstrukturen sowjetischer Beobachter, die verschiedenen Institutionen angehörten. Von Bedeutung ist, dass sich die Meldungen der Botschaften vor Ort, die Interpretationen des Informationskomitees des sowjetischen Außenministeriums oder die Ansichten von KGB- und MVD-Vertretern nicht wesentlich voneinander unterschieden: Die sowjetischen Funktionäre nahmen die, aus ihrer Sicht, Fehlentwicklungen in den beiden sozialistischen Staaten zwar wahr, schrieben sie aber vor allem ideologischen Schwächen der Bruderparteien und der Wühlarbeit von innen- und außenpolitischen Gegnern zu. Auf diese Weise dokumentieren die beiden Bände, dass die sowjetische Führung weder willens noch fähig war, die eigene Weltsicht oder die eigene Politik an die Gegebenheiten im Ostblock anzupassen: Die Kritik ungarischer Bürger an der Anwesenheit der sowjetischen Armee im Land beispielsweise wurde einfach unter der Rubrik „feindliche“ oder „ungesunde“ Einstellungen verbucht. 1968 wurden Proteste sowjetischer Dissidenten gegen den Einmarsch in Prag als „anti-sowjetisch“, die Reformbewegung in Prag selbst als „zionistisch“ diffamiert (Vengerskie sobytija, S. 106, 111; Čechoslovackie sobytija, S. 200, 322). Diese Einsichten sind nicht unbedingt neu: Letztlich stellt sich der Leser nach Lektüre beider Bände die Frage, warum die Deklassifizierung derartiger Dokumente so zögerlich vonstattengeht.

Andreas Hilger, Hamburg

Zitierweise: Andreas Hilger über: Vengerskie sobytija 1956 goda glazami KGB i MVD SSSR. Sbornik dokumentov. [Die ungarischen Ereignisse des Jahres 1956 aus dem Blickwinkel von KGB und MVD der UdSSR. Dokumentensammlung]. Sost. A. A. Zdanovič, V. K. Bylinin, V. K. Gasanov, V. I. Korotaev i V. F. Laškul. Moskva: Ob”edinennaja redakcija MVD Rossii; Obščestvo izučenija istorii otečestvennych specslužb, 2009. 519 S., Abb., Tab. ISBN: 978-5-8129-0090-8. Čechoslovackie sobytija 1968 goda glazami KGB i MVD SSSR. Sbornik dokumentov. [Die tschechoslowakischen Ereignisse des Jahres 1956 aus dem Blickwinkel von KGB und MVD der UdSSR. Dokumentensammlung]. Sost. A. A. Zdanovič, V. F. Laškul, Ju. N. Morukov, Ju. Ch. Totrov. Moskva: Ob"edinennaja redakcija MVD Rossii; Obščestvo izučenija istorii otečestvennych specslužb, 2010. 511 S., Tab. ISBN: 978-5-8129-0102-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Hilger_SR_Ungarn_1956_Tschechoslowakei_1968.html (Datum des Seitenbesuchs)

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