Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 1 (2011), 3 Rezensionen online
Verfasst von: Edgar Hösch
Festschrift for Richard Hellie. Part 1–6. Ed. by Lawrence N. Langer and Peter B. Brown, in: Russian History/Histoire Russe 34 (2007), No. 1–4 [402 S.]; 35 (2008), No. 1–4 [480 S.]; 36 (2009), No. 1–3 [455 S.].
Die Zeitschrift „Russian history“ widmete ihrem langjährigen Herausgeber Richard Hellie die Jahrgänge 2007‒2009 als Festschrift zum 70. Geburtstag. Der Jubilar hat den Abschluss des aufwendigen Unternehmens, an dem sich Schüler, engere Fachkollegen und Freunde beteiligten, nicht mehr erlebt. Er starb am 24. April 2009. Aus der Festschrift wurde so eine Gedenkschrift für einen Gelehrten, der seit 1966 an der Universität Chicago das Fachgebiet der Geschichte Russlands vertreten hat und durch bahnbrechende Untersuchungen und Quellenveröffentlichungen insbesondere zur Rechts-, Militär-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Russlands hervorgetreten ist.
In der Einleitung stellt der Herausgeber Lawrence N. Langer den Gelehrten und akademischen Lehrer Hellie vor und skizziert den bleibenden wissenschaftlichen Ertrag seiner wichtigsten Veröffentlichungen (34, S. 11‒29, mit Bibliographie S. 1‒10). Die Themenvielfalt der nachfolgenden Beiträge spiegelt die breit gestreuten Interessen Hellies wider. Sie werden in den einzelnen Heften in 6 Teilen mit unterschiedlichen zeitlichen Eingrenzungen gruppiert. Den Schwerpunkt bilden die Bereiche Altrussland sowie das 16. und 17. Jahrhundert; der letzte Teil ist kultur- und literaturgeschichtlichen Fragen gewidmet. Bei insgesamt 72 Beiträgen ist keine thematische Kohärenz zu erwarten. Aus dem engeren Schülerkreis sind dem Anlass entsprechend vornehmlich Nachträge zu Forschungsprojekten, die von Hellie angeregt bzw. betreut worden waren, eingereicht worden. Gewichtigere Beiträge der engeren Fachkolleginnen und Kollegen finden sich vornehmlich in den ersten Teilen. Der Rezensent muss sich angesichts des ungewöhnlichen Informationsangebotes mit wenigen Hinweisen begnügen.
Florin Curta plädiert für eine neue Sichtweise in der frühmittelalterlichen Archäologie (34, S. 31‒62). Die adäquate Erforschung der dramatischen Veränderungen der materiellen Kultur im Areal Altrusslands zwischen 500 und 650 erfordere ein Untersuchungsverfahren, das nicht mehr vornehmlich auf ethnische Zuordnungen fixiert ist, sondern andere Formen der Gruppenidentität (Alter, Geschlecht) in den Blick nimmt. Sergei Bogatyrev thematisiert die kulturelle Transformation der Moskauer Autokratie im Gefolge der Begegnung mit dem Westen, die während des russisch-schwedischen und des Livländischen Krieges über Novgoroder kirchliche Kreise vermittelt wurde (34, S. 161‒188). Charles J. Halperin zieht ein ernüchterndes Resümee aus den modernen psychiatrischen Forschungen zum Geisteszustand Ivans des Schrecklichen (34, S. 207‒218). Lawrence N. Langer widerspricht den Thesen Ostrowskis zu den institutionellen Folgen der Mongolenherrschaft im Moskauer Russland und sieht in der Steuererhebungspraxis des 14. Jahrhunderts keine Übernahme des dualen mongolischen Systems in der Militär- und Zivilverwaltung, sondern die Fortentwicklung einer eigenständigen fürstlichen Hofhaltung und eine Anpassung der Verwaltungspraxis an die veränderten Rahmenbedingungen (34, S. 101‒129). Nach Chester S. L. Dunning hatten ‒ entgegen den neuerdings geäußerten Zweifeln ‒ die Interventionspläne Königs James’ von England in der Endphase der Smuta zur Errichtung eines Protektorates in Nordrussland einen realen Hintergrund (34, S. 277‒302 mit Abdruck des Memorandums von Sir Julius Caesar vom 14. April 1613, S. 295‒296). Gail Lenhoff kommt nach einem aufwendigen Analyseverfahren, das aus den zeitgenössischen Quellen alle relevanten Kostenfaktoren berücksichtigt, zu dem Schluss, dass der finanzielle Aufwand für die Produktion des Stufenbuches sich in einem überschaubaren Rahmen gehalten hat; die indirekten Ressourcen dagegen, die bei der Zusammenstellung des Werkes zu mobilisieren waren, unter den Voraussetzungen der vorpetrinischen Zeit als exzeptionell zu bewerten sind (34, S. 219‒237). Gary Maker legt eine instruktive statistische Übersicht zu den Drucken biblischer Texte im Moskauer Druckerhof während des 17. und 18. Jahrhunderts vor (35, S. 335‒356).
Begriffsgeschichtliche Klärungsversuche unternimmt u. a. Edward L. Keenan. Nach seiner Meinung bestätigen die nachweisbare terminologische Bandbreite und die unterschiedlichen ideologisierten Deutungsversuche des Veče-Begriffes die Bedenken gegenüber einer durchgehenden Institutionalisierung demokratischer Mitspracherechte der ganzen Stadtbevölkerung in Novgorod (34, S. 83‒99), eine These, wie sie jüngst auch Olga Sevastyanova in ihrem Beitrag für die „Jahrbücher“ (57, 2010, H. 1, S. 1‒23) geäußert hat. V. D. Nazarov stellt Beobachtungen zum Terminus dvorjanin in der schriftlichen Überlieferung Nordost-Russlands und Novgorods im 14. und 15. Jahrhundert zusammen (34, S. 131‒147).
Rechtsfragen und Rechtsprechung werden in mehreren Beiträgen angesprochen. Simon Franklin steuert interessante Überlegungen zur Rechtsentwicklung und zur sozialen Funktion rechtlicher Regelungen in Altrussland bei. Daniel H. Kaiser sieht erhebliche rechtliche Einschränkungen für die Frauen in der Moskauer Gesetzgebung des 17. Jahrhunderts durch die Bevorzugung patrilinearer Erbfolgereglungen (34, S. 315‒330). Einen instruktiven Einblick in die Anomalien der moskowitischen Gerichtspraxis präsentiert Valerie Kivelson (34, S. 331‒339). George G. Wickhardt sieht in den 1669 erlassenen ergänzenden Artikeln zum Uloženie, in denen u. a. auch ein stärkerer Rückbezug auf das byzantinische Recht sichtbar wird, eine Fortsetzung des Rationalisierungsprozesses in der russischen Strafrechtsgesetzgebung (34, S. 383‒399).
Themenschwerpunkte des zweiten Teiles bilden Peter der Große (mit 5 Beiträgen), die Zeit des Imperial Russia (mit 7 Beiträgen) und die Sowjetperiode (mit 4 Beiträgen). Im dritten Teil werden vornehmlich Themen des mittelalterlichen und moskowitischen Russland behandelt, die nachfolgenden Teile sind dem 19. und 20. Jahrhundert gewidmet.
Bausteine zu einer Sozialgeschichte der Dienstleute (dvorjane und deti bojarskie) im 16. Jahrhundert trägt Michail Krom zusammen und findet hinreichende Hinweise, dass sich neben dem Staatsdienst ein breites Netzwerk informeller Dienst- und Loyalitätsbeziehungen herausgebildet hat und die Verfügungsmacht des Zaren und der Reichszentrale einschränkte (35, S. 309‒320). An zwei Einzelbeispielen schildert Janet Martin das Schicksal von Dienstleuten aus dem Novgoroder Land. Ihnen war während des Livländischen Krieges pomest’e-Besitz in den eroberten Gebieten zugewiesen worden war, den sie nach dem Rückzug der russischen Truppen unter sehr viel schlechteren Bedingungen gegen Güter auf Moskauer Territorium eintauschen mussten (34, S. 239‒253). Carol B. Stevens wertet für die unteren Ränge des neuen petrinischen Offizierskorps Regimentsprotokolle vom Ende des Nordischen Krieges aus (35, S. 85‒97). B. N. Mironov fasst seine Thesen zum Lebensstandard der russischen Bevölkerung von 1700‒1914 zusammen und sieht u. a. an Hand anthropologischer Untersuchungsergebnisse (u.a. aus den Musterungsprotokollen) keine Anzeichen eines Pauperisierungstrends, sondern eher eine positive Dynamik in der Reformperiode (36, S. 47‒61). Eine vergleichsweise erträgliche wirtschaftliche Lage reklamiert auch Alison K. Smith für den Haushalt von Leibeigenen in zwei Dörfern der Provinz Kostroma vor der Aufhebung der Leibeigenschaft (35, S. 165‒179).
Mehrfach wird aus unterschiedlicher Perspektive auf die Rolle der russischen Kirche in der Gesellschaft verwiesen. Nach David B. Miller haben in der Bruderschaft des Dreifaltigkeits-Sergius-Kloster schon seit der Mitte des 15. Jahrhunderts Mönche, die dem landbesitzenden Adel entstammten, die Führung des Klosters übernommen und die wirtschaftlichen Aktivitäten kontrolliert (34, S. 255‒262). Ann Kleimola befasst sich an nordrussischen Beispielen mit den staatlichen und kirchlichen Regulierungsbemühungen bei der Auftragsvergabe an Ikonenmaler (34, S. 341‒363). Priscilla Hunt zeigt am Topos der foolishness die Sonderstellung der Vita Avvakums innerhalb der hagiographischen Tradition in Russland (35, S. 275‒308). Olga B. Strakhov überprüft anhand der verfügbaren Originaldokumente die Verwendung des Ehrentitels „velikij gosudar“ im Schriftverkehr des Patriarchen Nikon (35, S. 429‒446). Isolde Thyrêt gesteht den Frauen einen erheblichen direkten bzw. informellen Anteil an den Kanonisierungsprozessen russischer Heiliger im Moskauer Russland zu (35, S. 447‒461). Christine D. Worobec zeigt, mit welchen innovativen Regulierungsmaßnahmen das Dreifaltigkeitskloster und das Soloveckij-Kloster an der Wende zum 20. Jahrhundert den wachsenden Ansturm der Pilgermassen zu bewältigen versuchten (36, S. 62‒76).
Drei Beiträge enthalten in der Tradition Hellies Quelleneditionen. David M. Goldfrank übersetzt und kommentiert Elena Devočkinas testamentarische Klosterregel aus der Mitte des 16. Jahrhunderts für das Neujungfrauenkloster (34, S. 189‒205). Norman W. Ingham übersetzt die Erzählung vom Kaulbarsch, dem Sohn des Kaulbarsch (Povest’ o Erše Eršoviče / Tale of Ruff Son of Ruff), die Parodie eines Gerichtsprotokolls, und fügt ein Spezialglossar zu den verwendeten Fischtermini bei. Er wendet sich gegen eine strikt juristische Interpretation, verweist auf das bewusst eingesetzte Stilmittel des Wechsels zwischen Mensch und Tier und sieht abweichend von der in der sowjetischen Forschung gängigen Meinung in der sog. Redaktion 1 die ursprünglichere Textfassung (34, S. 303‒314). Nancy S. Kollmann schließt sich mit einer unkommentierten Übersetzung des sehr erfolgreichen Anstandsbuches für die adelige Jugend (Junosti česnoe cerkalo) an, das 1717 aus verschiedenen westeuropäischen Quellen zusammengestellt worden war (35, S. 63‒83).
Fragen des höfischen Zeremoniells werden mehrfach thematisiert. Russell Martin sieht bei den seit dem 16. Jahrhundert seltenen Heiraten russischer Prinzessinnen mit Ausländern eine flexible Handhabung der zeremoniellen Abläufe und kirchlichen Zuordnung. Als Anschauungsbeispiele dienten die Heiraten der Elena Ivanovna mit Alexander von Livland 1495, der Marija Starickaja mit Magnus von Dänemark 1573 und der Anna Petrovna mit Karl Friedrich von Holstein-Gottorp 1725 (35, S. 357‒381). Die von der bisherigen Tradition abweichende zeremonielle und künstlerische Inszenierung des Todes und des Begräbnisses Peters des Großen schildert Lindsey Hughes (35, S. 45‒61).
Der fünfte Teil ist ganz der Sowjetperiode gewidmet. Zwei Beiträge untersuchen die Arbeitsmarktsituation in den unmittelbaren Nachkriegsjahren und die dadurch ausgelöste Bevölkerungsmobilität. Mark Edele erkennt zeitlich verschobene gegenläufige Tendenzen (36, S. 159‒182). Die demographischen Zahlen belegen, dass die Rückkehr der Kriegsveteranen in die Dörfer nur kurzfristig Bestand hatte. Die Suche nach Arbeit erzwang schon bald den Abzug in die Städte. Aufgrund des Vergleichs der Bevölkerungszahlen für die Gebiete von Moskau, Sverdlovsk und Kujbyšev kommt Christopher Burton zum Ergebnis, dass sich im Spätstalinismus informelle Arbeitsregionen herausgebildet hatten (36, S. 117‒140). Weitere Themen sind der Kampf gegen den Hooliganismus, der Stalinkult und das Putin-System in historischer Perspektive.
Die einzelnen Hefte der Festschrift, an der sich die führenden Fachvertreter des englischsprachigen Raumes beteiligt haben, bieten ein buntes Kaleidoskop der Themen und Methoden und eine Fundgrube für Historiker und Kulturwissenschaftler. Die Beiträge vermitteln einen instruktiven Einblick in die aktuellen Forschungsbemühungen zur russischen Geschichte. Sie belegen aber auch erneut Informationsdefizite im deutsch-amerikanischen wissenschaftlichen Austausch. Im Beitrag von Roberta T. Manning, die gemeinsam mit russischen Historikern an einer sechsbändigen Aktenedition über die Tragödie des russischen Dorfes im Zeichen von Kollektivierung und Entkulakisierung beteiligt war und jetzt einen sehr ausführlichen Bericht über die Hintergründe der Schauprozesse und Massenhinrichtungen in der Provinz im Jahre 1937 vorlegt (36, S. 219‒253), findet sich kein Verweis auf das mehrjährige Forschungsprojekt „Stalinismus in der sowjetischen Provinz 1937–1938“, das 1999‒2009 an der Ruhr-Universität Bochum und am Deutschen Historischen Institut Moskau gemeinsam mit russischen und ukrainischen Universitäten bzw. Akademien durchgeführt wurde. Die Ergebnisse dieses Unternehmens liegen jetzt im Druck vor (vgl. Rolf Binner, Bernd Bonwetsch, Marc Junge: Massenmord und Lagerhaft. Die andere Geschichte des Großen Terrors. Berlin 2009 und Dies.: Stalinismus in der sowjetischen Provinz 1937–1938. Die Massenaktion aufgrund des operativen Befehls No. 00447. Berlin 2010; vgl. auch Dies.: The Great Terror in the Provinces of the USSR 1937‒1938. A cooperative bibliography, in: Cahiers du Monde russe 42 (2001) S. 679‒695).
Edgar Hösch, Würzburg
Zitierweise: Edgar Hösch über: Festschrift for Richard Hellie. Part 1–6. Ed. by Lawrence N. Langer and Peter B. Brown, in: Russian History/Histoire Russe 34 (2007), No. 1–4; 35 (2008), No. 1–4; 36 (2009), No. 1–3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Hoesch_Festschrift_fuer_Richard_Hellie.html (Datum des Seitenbesuchs)
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