Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Edgar Hösch

 

Jan Hecker-Stampehl [et al.] (Hrsg.): 1809 und die Folgen. Finnland zwischen Schweden, Russland und Deutschland. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2011. 310 S. = Schriftenreihe des Finnland-Instituts in Deutschland Band 12. ISBN: 978-3-8305-1882-2.

Inhaltsverzeichnis:

http://bvbr.bib-bvb.de:8991/exlibris/aleph/a20_1/apache_media/X3IVJ1GC3LDQ8GDFDHU2JAX31HL7R2.pdf

 

Das Jahr 1809, das die jahrhundertelange Zugehörigkeit der Finnen zum schwedischen Mutterland abrupt beendete und die Einbindung des „Großfürstentums Finnland“ in das russische Reich besiegelte, wurde 2009 in Finnland und in Schweden offiziell als staatliches Gedenkjahr (finn. merkkivuosi 1809, schwed. märkesåret 1809) gefeiert. Eine eigene mehrsprachige Homepage wurde eingerichtet, die im Internet ausführlich über die historischen Hintergründe der Ereignisse berichtete und auf die aktuellen landesweiten Gedenkveranstaltungen und Aktivitäten verwies. Der schwedische König und die finnische Staatspräsidentin Tarja Halonen übernahmen die Schirmherrschaft über eine Ausstellung, die mit Exponaten der Livrustkammaren (Rüstungskammer) des königlichen Schlosses in Stockholm und des finnischen Nationalmuseums in Helsinki die damaligen Zeit und die historischen Vorgänge dokumentierte (vgl. den Katalog: 1809. Ero ja uusi alku. 200 vuotta Suomen sodasta / 1809. Trennung und Neuanfang. 200 Jahre seit dem Finnland-Krieg. Stockholm 2008, 433 S.). Auch die russische Seite wurde in die Aufarbeitung der Vergangenheit einbezogen. Die Ergebnisse der gemeinsamen Bemühungen finnischer und russischer Historiker sind in einem von Timo Vihavainen und Andrej N. Sacharov herausgegebenen Sammelband publiziert worden, der die Ergebnisse der Tagungen in Moskau und in Hamina aus den Jahren 2007 und 2009 enthält (Suomi ja Venäjä 18081809. Helsinki 2010, 412 S.).

Der hier anzuzeigende Sammelband ist nur mit Einschränkungen als ein genuin deutscher Beitrag einzuordnen. Dagegen spricht schon die Herkunft der 17 Autorinnen und Autoren, unter denen sich nur sechs deutsche Fachvertreter – neben vier schwedischen, vier finnischen und zwei britischen – finden. In dem Band werden Vorträge aus drei Veranstaltungen des Jahres 2009 gedruckt, die unter der Federführung des Nordosteuropa-Instituts der Humboldt-Universität, des Finnland-Instituts in Deutschland in Berlin und des Instituts für Skandinavistik/Fennistik der Universität zu Köln durchgeführt wurden. Ein schlüssiges Gesamtkonzept konnte daher von den Herausgebern nicht umgesetzt werden. Die thematischen Schwerpunkte der einzelnen Beiträge lassen zwangsläufig nur einen losen Zusammenhang erkennen. Das gemeinsame Erkenntnisinteresse ist auf die kurz- und langfristigen Auswirkungen der historischen Ereignisse des Jahres 1809 gerichtet, von denen alle Anrainer der Ostseeregion betroffen waren. Eine historische Einordnung der Ereignisse des Jahres 1809 bieten in den einleitenden Referaten aus der Sicht Finnlands Matti Klinge („Finnland – Zufall oder Plan?“, S. 1521) und aus der Sicht der involvierten Großmächte Ralph Tuchtenhagen („Von ‚Tilsit‘ nach ‚Fred­riks­hamn‘. Der Ostseeraum in der Politik Russlands und Großbritanniens 18071809“, S. 2343). Eine Bewertung des Kriegsgeschehens auf finnischem Boden im Kontext der Kriegserfahrungen der napoleonischen Zeit versucht Martin Hårstedt („The Finnish War of 180809 in Context – Warfare, Logistics and Civilian Society", S. 4555), und Horace Engdahl zeigt an der Bronzestatue des Schwedenkönigs Gustav III. von Johan Tobias Sergel auf Skeppsbron in Stockholm, dass sich innerhalb der schwedischen Gesellschaft in der nachfolgenden Generation das Bild des Herrschers und der gustavianischen Zeit radikal gewandelt hat: Der Kriegsheld und Rächer verwandelt sich in der Rückschau in einen milden König und Theaterfürsten („Das Standbild Gustavs III. vor, während und nach dem Finnischen Krieg 18081809“, S. 5776).

Aus unterschiedlicher Perspektive werden in den Beiträgen Argumente zum Verständnis der viel diskutierten finnischen Sonderstellung innerhalb des russischen Reiches und zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen des Verhältnisses von Autonomie und Autokratie zusammengetragen. Während Frank Nesemann in einem fundierten Überblick in Anlehnung an seine Dissertation („Ein Staat, kein Gouvernement. Die Entstehung und Entwicklung der Autonomie Finnlands im russischen Zarenreich, 1808 bis 1826. Frankfurt a. M. [u.a.] 2003) den aktuellen ‚revisionistischen‘ Forschungsstand resümiert und die russische Sichtweise einer unverbindlichen Autonomiezusage des Zaren hervorhebt („Finnlands ‚grundlegende Gesetze, Rechte und Privilegien‘: Die Bedeutung der Zusicherungen Alexanders I. auf dem finnischen Landtag von 1809 aus russischer Sicht“, S. 179202), stellt der finnlandschwedische Historiker Max Engman mit anschaulichen Beispielen den ungeschmälerten Fortbestand der von Schweden ererbten administrativen und sozialen Ordnung in den Mittelpunkt („Brautraub oder Liaison? Finnland zwischen Schweden und Russland nach 1809“, S. 7989). Ergänzend dazu betont Kristian Ger­ner die Kontinuität des gemeinsamen kulturellen Erbes zwischen Finnland und Schweden im Rahmen einer weiter gefassten Ostseewelt, die auch den russischen Nachbarn mit einschließt („‚The East Sea lies to the West‘. On the community of fate between Finland and Schweden – and Russia“, S. 91103), und Torkel Jansson verweist auf die weiterhin verbindenden Rechtstraditionen und Gesetzbücher („Inwieweit haben sich Schwe­den und Finnland nach 1809 verloren?“, S. 105118). Als treibende Kraft, die das Überleben der vom Zaren zugestandenen Sonderregelungen in der Folgezeit garantierte und, anders als in den Ostseeprovinzen und im Zartum Polen, den weiteren Ausbau der Eigenständigkeit in der Verwaltungspraxis ermöglichte, sieht Robert Schweitzer einen auf Konsens bedachten bürokratischen Finnlandpatriotismus am Werk („Der ‚bürokratische Patriotismus‘, Kalevala und ‚Fänrik Ståls sägner‘: (Über-)Lebenskräfte der Autonomie Finnlands in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, S. 121142). Den naheliegenden Vergleich mit der gegenläufigen Verfassungsentwicklung im aufrührerischen Polen unternimmt Jörg Hackmann („Polen und Finnland: Zwei Wege in der Geschichte des Zarenreichs“, S. 203225), während David Kirby das Augenmerk auf die beschwerliche Karriere jener wenigen Finnen wie Göran Magnus Sprengtporten, Jan Anders Jägerhorn, Evert Gustav Becker und Onni Zilliacus richtet, die der Mazzinischen Vision einer freien und unabhängigen Nation anhingen und die Loyalität zum Herrscherhaus aufkündigten. Sie sind im historischen Gedächtnis der Finnen weitgehend in Vergessenheit geraten ((„‚En munsbit, hvilken af Ryssen utslukades‘. Independence as ideal and reality in Finland“, S. 143154).

Unter den mittelbaren Folgen des Jahres 1809 werden in weiteren Beiträgen die frühen Auseinandersetzungen um die finnische Sprache, die in den 20er Jahren in den deutschsprachigen Veröffentlichungen von Johan Stråhlman und Anders Johan Sjögren ausgetragen wurden (Marja Järventausta), und die Rezeption des 1809 gedruckten Finnlandbuches von Friedrich Rühs in Finnland (Stephan Michael Schröder) behandelt. Interessante Überlegungen steuert schließlich noch Tomi Mäkelä zur Tätigkeit des deutschen Komponisten Friedrich Pacius in Helsinki und zu seiner Melodie der finnischen Nationalhymne bei („‚Unser Land‘oder: Wie finnisch war Friedrich Pacius?“, S. 249269). Der letzte Teil führt die deutsch-finnischen Wechselbeziehungen in der Musik (Benjamin Schweitzer), in der Literatur (Christoph Parry) und im Theater (Hanna Korsberg) in Ausblicken bis in die Gegenwart weiter.

Edgar Hösch, Würzburg

Zitierweise: Edgar Hösch über: Jan Hecker-Stampehl [et al.] (Hrsg.): 1809 und die Folgen. Finnland zwischen Schweden, Russland und Deutschland. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2011. 310 S. = Schriftenreihe des Finnland-Instituts in Deutschland Band 12. ISBN: 978-3-830518-82-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Hoesch_Hecker-Stampehl_1809.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2013 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Edgar Hösch. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.