Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Peter Hoffmann

 

Harvard Ukrainian Studies. Volume XXXI (2009–2010) No. 1–4: Poltava 1709 – The Battle and the Myth. Cambridge, MA 2012. XXV, 693 S., Abb. ISSN: 0363-5570.

Am 27. Juni/8. Juli 1709 vernichtete Zar Peter in der Schlacht bei Poltava die schwedische Armee Karls XII. Das war der Beginn des Aufstiegs Russlands zur europäischen Großmacht. Wer mit der Zeit, mit der Thematik und der Literatur über diese Schlacht etwas vertraut ist, erwartet bei dem vorliegenden Titel Beiträge vor allem zu zwei Problemen: einerseits eine Analyse des Schlachtverlaufes sowie der widersprüchlichen schwedischen und russischen Überlieferungen, andererseits Darlegungen über die Auswirkungen des russischen Sieges auf die russische, die ukrainische und die schwedische Geschichte. Zu beiden Problemkreisen finden sich im vorliegenden Band einzelne Hinweise, nicht jedoch eine systematische Erörterung.

Die Zielstellung wird im einleitenden Beitrag des Herausgebers Serhii Plokhy (Harvard University) The Battle That Never Ends umrissen: Bei den Jubiläumsveranstaltungen 2009 war die russische Regierung bestrebt, den Jahrestag jener Schlacht zu begehen, die zur Grundlage der Großmachtstellung Russland geworden ist. Hingegen sahen die ukrainischen Vertreter in dieser Schlacht das Ereignis, mit dem die Hoffnungen Mazepas auf einen eigenen, von Russland unabhängigen ukrainischen Staat für Jahrhunderte begraben werden mussten. Das Ergebnis ist eine Konfrontation der russischen Sicht, der zufolge Mazepa als Verräter gebrandmarkt wird, und der ukrainischen Sicht, nach der Mazepa zum tragischen Nationalhelden hochstilisiert wird, dessen Ziel eine unabhängige Ukraine gewesen sei. Beide Sichten werden – durchaus berechtigt – als Mythen gewertet. Das verhindert aber nicht, dass in den Beiträgen des vorliegenden Bandes durchwegs ein ukrainischer Standpunkt dominiert. Dem Inhalt des Bandes würde deshalb ein Titel Mazepa und Poltava eher entsprechen.

Dem einleitenden Beitrag folgen die Aufsätze, zusammengefasst in fünf Themenkreisen – Themenkreis I: The Road to Poltava (3 Beiträge); Themenkreis II: The Battle and its Aftermath (5 Beiträge), Themenkreis III: The Making oft the Myth (6 Beiträge), Themenkreis IV: Grappling with Mazepa (10 Beiträge), Themenkreis V: A Never Ending Past (2 Beiträge).

Von den Beiträgen zum ersten Themenkreis erweist sich der von Volodymyr Kova­lenko (Chernihiv) vorgelegte Bericht über die Ausgrabungen in Baturyn 2001–2010 als bemerkenswert. Im Wesentlichen wird die Grausamkeit der von Menšikov persönlich geleiteten Zerstörung der Residenz Mazepas durch viele Detailangaben bestätigt. Mit der Zerstörung Baturyns verlor Karl XII. Winterquartier und Versorgung. Wenn jedoch behauptet wird, diese Zerstörung „changed the very course of the Northern War and, ultimately , the course of European history“, dann ist diese Episode offensichtlich überbewertet.

Zum zweiten Themenkreis gibt unter anderem Donald Ostrowski (Havard University) einen Beitrag über die Dragoner in der Zeit Peters I., deren Einsatz nach Ansicht des Autors wesentlich zum Sieg in der Schlacht bei Poltava beigetragen hat.

Im dritten Problemkreis sind Beiträge zur Poltava-Rezeption zusammengefasst, unter anderem über das russische Nationalbewusstsein (Alexander Kamenskii, im Mitarbeiterverzeichnis ohne Ortsangabe – bei den angegebenen Institutionen handelt es sich offensichtlich um Moskauer Einrichtungen), über Predigten zur Poltava-Problematik (Giovanna Brogi Bercoff, Mailand), über die Darstellung der Schlacht auf Gobelins (Tatiana Senkevitch, Toronto).

Die Beiträge zum vierten Problemkreis über Mazepa seien, da das der Schwerpunkt des Bandes ist, vollständig angeführt und kurz charakterisiert: Michael A. Moser (Wien/Budapest) bietet eine sprachwissenschaftliche Untersuchung der „Universale“ (amtlichen Schreiben) Mazepas mit dem Ergebnis, dass zu jener Zeit die Sprache der Verwaltung in der Ukraine noch ein spätmittelalterliches Ukrainisch gewesen sei: Schreiben im Verkehr mit Moskau wurden ins Russische übersetzt. Michael S. Flier (Harvard University) analysiert die Sprache der Liebesbriefe des über sechzigjährigen Mazepa an die sechzehnjährige Motrena Kochubei, eine Affäre, die von Byron, Puschkin, Liszt, Tschaikowski literarisch und musikalisch in Szene gesetzt worden ist. Volodymyr Mezentsev (Alberta, Edmonton, Toronto) beschreibt die Barock-Architektur und reiche Ausstattung des 1700 errichteten Palastes Mazepas in Baturin, der mit der Stadt zerstört worden ist. Überliefert sind Abbildungen, die italienischen Einfluss erkennen lassen, und neuerdings archäologische Funde. Der Beitrag von Olenka Z. Pevny (Richmond/USA) hat den kosakischen Barock zum Thema. Sie hebt hervor, dass in der Ukraine in sowjetischer Zeit bei der Restaurierung alter Bauten, besonders Kirchen, der mittelalterliche Zustand (vor dem 13. Jahrhundert) maßgeblich war, die spezifischen Formen der späteren Zeit (des kosakischen Barocks) wurden bewusst ignoriert. Andrii Bovgyria (Kyiv) analysiert Prozesse gegen Mazepa-Anhänger und Nachfolger in der Ukraine, die sich bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts verfolgen lassen. Er sieht hier eine Nachwirkung des russischen Sieges bei Poltava. George G. Grabowicz (Harvard University) hat die ukrainische Literatur vor und nach Poltava zum Thema. Seine Schlussfolgerung ist, dass die im 19. Jahrhundert wieder entstehende ukrainische Literatur unverständlich bleibt, wenn man als Wurzel nicht die Literatur des 17. und frühen 18. Jahrhunderts einbezieht. Serhii Plokhi schildert in seinem Beitrag Forbidden Love: Ivan Mazepa and the Author of the History of the Rus’ die Bewertung Mazepas in Pogodins russischer Geschichte. Er analysiert den Zwiespalt des Autors, der einerseits loyal zum Zaren stand, andererseits Mazepas Handeln bewunderte. Taras Koznarsky (Toronto) macht den Widerspruch in der Einschätzung Mazepas (er spricht von „obsession“) in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von russischer und von ukrainischer Seite zur Thematik seines Beitrages. Alois Woldan (Wien) untersucht die Mazepa-Rezeption in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts, Ksenya Kiebuzinski (Toronto) behandelt die gleiche Thematik für diese Zeit in der französischen Literatur.

Zum fünften Themenkreis bietet Guido Hausmann (München) den Beitrag Poltava 2009: Deimperializing an Imperial Site of Memory. Es wird das Jubiläum 2009 bewertet und dazu festgestellt, dass ein notwendiger offener Dialog zwischen der russischen und der ukrainischen Auffassung nach wie vor nicht erkennbar ist. Während für die Jubiläumsfeiern 1909 und 1959 ein offen imperialer russischer Anspruch dominierend war, erwiesen sich die Jubiläumsfeiern 2009 als weniger politisch determiniert – im Vordergrund stand nicht der russische Sieg, erinnert wurde in erster Linie an die Opfer auf allen Seiten. Zugleich wird eine Fokussierung auf Mazepa, „a rich and controversial historical personality“, herausgearbeitet.

Zusammenfassend ist zu sagen, dass der vorliegende Band kaum über die Problematik der Schlacht bei Poltava als militärisches und politisches Ereignis und über ihre Auswirkungen informiert, hingegen wesentliche Aussagen zu Mazepa und heutigen ukrainischen Positionen bietet.

Peter Hoffmann, Nassenheide

Zitierweise: Peter Hoffmann über: Harvard Ukrainian Studies. Volume XXXI (2009–2010) No. 1–4: Poltava 1709 – The Battle and the Myth. Cambridge, MA 2012. XXV, 693 S., Abb. ISSN: 0363-5570, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Hoffmann_HUS_2009_10_Poltava_1709.html (Datum des Seitenbesuchs)

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