Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 3 Rezensionen online

Verfasst von: Detlef Jena

 

Nikolaj Pervyj. Molodye gody – Vospominanija, dnevmiki, pis’ma. Kniga pervaja [Nikolaj der Erste. Jugendjahre – Erinnerungen, Tagebücher, Briefe. 1. Buch]. S.-Peterburg: Izdat. Puškinskogo Fonda, 2008. 350 S., 17 Abb. = Gosu­darst­vennye dejateli Rossii glazami sovremennikov. ISBN: 978-5-89803-168-8.

Natürlich hat der Dichter und Prinzenerzieher G. R. Deržavin dem 1796 geborenen Zarensohn Nikolaj Pavlovič uneingeschränkt gehuldigt: „Blažennaja Rossija!“ (S. 28) Selbstverständlich hat Kaiserin Katharina II. ihrem Korrespondenzpartner F. M. Grimm nach Gotha mitgeteilt: „Am Sonntag ist der Großfürst Nikolaj getauft worden; er ist vollständig gesund.“ (S. 29) Lobpreisungen, Segenswünsche und Vergötterungen begleiteten jeden Zaren bis in das Grab. Von Außenseitern oder Exzentrikern wie Boris Godunov oder Pavel Petrovič abgesehen, genießen die verblichenen Zaren im modernen Russland eine Ehrerbietung, die keineswegs in jedem Fall mit ihren realen historischen Leistungen korrespondiert. Nikolai I. ist nicht nur eine erhabene Figur großrussischer nationaler Erinnerung, sondern eine Persönlichkeit der europäischen Geschichte, deren wissenschaftspublizistische Würdigung durch drei Tendenzen bestimmt wird. Er gilt als Inkarnation der Autokratie mit ihrer höchsten Blüte im 19. Jh. schlechthin. Er wird als reaktionärer und steifer Bürokrat dargestellt, dessen Erfüllung auf dem Paradeplatz lag. Nikolaj I. ist in der Forschungsliteratur aber auch der überlegte Staatslenker, der die Möglichkeiten und Grenzen der Autokratie sorgfältig auslotete, sensibel auf europäische Entwicklungstendenzen reagierte, ein prächtiger Familienvater war und letztlich daran scheiterte, dass die von ihm so glänzend repräsentierte Autokratie mit den herkömmlichen Herrschaftsprinzipien und -methoden schon zu seinen Lebzeiten und bei bestem eigenen Willen nicht mehr reformierbar war. Einigkeit herrscht unter den Forschern darüber, dass Nikolaj aufgrund seiner späten Geburt in keinerlei Hinsicht auf die Aufgaben eines Selbstherrschers vorbereitet war, dass er bereits in der Jugend charakterliche Defizite aufwies, ungebildet war und, mit der stereotypen Wiederholung seines in Kindertagen erworbenen Leitsatzes, für Russland sei die Autokratie die einzig mögliche Staatsform, glaubte gesellschaftspolitische Probleme lösen zu können. Diesen in der Jugend gewonnenen Überzeugungen, sowie Nikolajs Weg durch die jungen Jahre geht der vorliegende Band mit Erinnerungen von Zeitgenossen, Tagebuchaufzeichnungen und Korrespondenzen nach. Das Buch ergänzt auf sinnvolle Weise zahlreiche bereits hier vorgestellte thematische Quelleneditionen zum Leben und Wirken Nikolajs I. Der Kaiser hat selbst Erinnerungen an seine frühen Kinderjahre (S. 30ff) und an die Thronbesteigung (S. 120ff) hinterlassen, die seine Fähigkeit zu klarer und unverschlüsselter Sprache erkennen lassen. Die „Familienaufzeichnungen“ werden durch Erinnerungen der Kaiserinnen Aleksandra Feodorovna und Elizaveta Alekseevna sowie des Bruders Michail über die Ereignisse des „Dekabristenaufstands“ vom Dezember 1825 (S. 105ff) ergänzt. Von ganz besonderem Interesse sind die Auszüge aus dem Briefwechsel zwischen Nikolaj und seinem Bruder Konstantin vom November/Dezember 1825 (S.114ff). Der angebliche „Großmutstreit“ um den Thron vermitteln einen lebendigen Eindruck vom Kräfteringen um die Macht und um Vorherrschaft innerhalb der Romanow-Dynastie, das durch den spontanen Aufstand der „Dekabristen“ eine zusätzliche Verschärfung erfuhr. Aus dem direkten Umkreis Nikolajs I. sind die Erinnerungen und Aufzeichnungen des Generals A. Ch. Benkendorff, Chef der „Dritten Abteilung“, sowie des Nikolaj vertrauten Staatsbeamten M. A. Korff – neben zahlreichen weiteren Zeitzeugen – von besonderem Interesse für die wissenschaftliche Forschung.

Detlef Jena, Schkölen

Zitierweise: Detlef Jena über: Nikolaj Pervyj. Molodye gody – Vospominanija, dnevmiki, pis’ma. Kniga pervaja [Nikolaj der Erste. Jugendjahre – Erinnerungen, Tagebücher, Briefe. 1. Buch]. S.-Peterburg: Izdat. Puškinskogo Fonda, 2008. = Gosudarstvennye dejateli Rossii glazami sovremennikov. ISBN: 978-5-89803-168-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Jena_Nikolaj_Pervyj_Molodye_gody.html (Datum des Seitenbesuchs)

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