Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Kerstin S. Jobst

 

Deutsche im Schwarzmeergebiet, auf der Krim und im Kaukasus vom 19. Jahrhundert bis 1941. Hrsg. von Alfred Eisfeld. Hamburg: Kovač, 2016. 678 S., 13 Abb., Tab. = Studien zur Geschichtsforschung der Neuzeit, 88. ISBN: 978-3-8300-8470-9.

Inhaltsverzeichnis:

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In den Jahren 1998 bis 2000 wurden vom Institut für Deutschland- und Osteuropaforschung des Göttinger Arbeitskreises mehrere Tagungen veranstaltet, in deren Rahmen die Rolle und die Lebenswelten deutscher Kolonisten und sonstiger deutschsprachiger Akteure im wirtschaftlichen, politischen und sozialen Leben der südlichen Regionen des Zarenreiches bzw. der Sowjetunion untersucht wurden. In Folge der seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert äußerst dynamischen Expansion des Russländischen Reiches in die Gebiete der heutigen Ukraine, der Krim und der Kaukasusregion hatten die russischen Machthaber ein besonderes Interesse an der Peuplierung dieser Regionen und am Import von spezifischem Know-how, welches man sich nicht zuletzt von den angeworbenen Kolonisten aus den deutschsprachigen Ländern versprach. Die Entwicklung dieser deutschen Kolonien und die russische Politik ihnen gegenüber wurden bereits wiederholt untersucht, nicht zuletzt besonders gründlich von Detlef Brandes (Detlef Brandes: Von den Zaren adoptiert. Die deutschen Kolonisten und die Balkansiedler in Neurußland und Bessarabien 1751–1914. München 1993. = Schriften des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte, 2) und Dietmar Neutatz (Dietmar Neutatz: Die „deutsche Frage“ im Schwarzmeergebiet und in Wolhynien. Politik, Wirtschaft, Mentalität und Alltag im Spannungsfeld von Nationalismus und Modernisierung 1856–1914. Stuttgart 1993), welche sich erwartungsgemäß mit jeweils einem Beitrag an dem vorliegenden Band beteiligt haben. Das in der alten Bundesrepublik zuweilen auch politisch gebrauchte Thema „Deutsche in Russland/in der Sowjetunion“ wurde erfreulicherweise seit den neunziger Jahren allmählich aus diesem Kontext herausgelöst und der Blick um eine eher forschungsorientierte Perspektive erweitert, die Wechselseitigkeit, Transfers, politische Brüche und Kontinuitäten stärker berücksichtigt; dazu haben nicht zuletzt Institutionen wie der Göttinger Arbeitskreis beigetragen.

Die insgesamt 28 Beiträge sowie eine Einleitung des Herausgebers, ergänzt durch erfreulich ausführliche Personen- und Ortsregister sowie ein Abkürzungsverzeichnis, lassen sich in drei Abschnitte einteilen, welche die Zeitenbrüche berücksichtigen und somit das Zarenreich, den Ersten Weltkrieg sowie die frühe Sowjetunion bis zum deutschen Überfall 1941 abdecken. Die Autorinnen und Autoren stammen zu einem nicht unerheblichen Teil aus dem postsowjetischen Raum, was im Hinblick auf die Zusammenführung unterschiedlicher Wissenschaftstraditionen zu begrüßen ist. Der Zugang ist multiperspektivisch, berücksichtigt sowohl Fragen der Makrogeschichte (wie z.B. der Beitrag Martin Hoffmanns über die außenpolitischen Ziele des Zarenreichs in den behandelten Regionen oder Detlef Brandes Vergleich zwischen Russifizierung, Germanisierung und Magyarisierung) als auch kleinteilige Zugänge (genannt seien stellvertretend Ėlvira G. Plesskajas Untersuchungen zur deutschen Handwerkerkolonie in Odessa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bzw. zur dortigen deutschen Schule in den Jahren 1920–1921). Im weitesten Sinne kulturwissenschaftliche Komponenten der Aspekte des Wirkens deutschsprachiger Akteure (vgl. die beiden Artikel Gudrun Calovs über deutsche Künstler im Schwarzmeergebiet, der Krim und im Kaukasus vor 1914 oder die Heinrich Heidebrechts über Deutsche Architekten in der russischen Provinz bzw. im Süden Russlands) stehen beispielsweise neben Betrachtungen der Politik der sog. Entkulakisierung in den behandelten Regionen (vgl. die Artikel Peter Letkemanns oder Elena A. Solon­čuks). Erwartungsgemäß widmen sich einige Autoren auch den Mennoniten (Sergej G. Nelipovič, Alfred Eisfeld), welche bekanntlich eine gewichtige Rolle im russländischen Kolonisationsprojekt spielten.

Das Spektrum der behandelten Themen ist somit erfreulich breit, werden doch einige bislang vernachlässigte Aspekte der Geschichte deutschsprachiger Kolonisten und ihrer Nachfahren im vorliegenden Band erstmalig genauer betrachtet; dies gilt u. a. für den fast ausschließlich auf unveröffentlichten Quellen basierenden Beitrag von Nelipovič (Dienen oder zahlen? Zum Problem der Einführung der Wehrpflicht für die deutschen Kolonisten im Süden Russlands 1861–1881), der die Debatten in den verantwortlichen Regierungskreisen mit ihren vielen Brüchen sorgsam nachzeichnet. Gleichwohl entsteht bei der Lektüre des Bandes ein insgesamt eher ambivalenter Eindruck: Während der Umstand, dass viele Autorinnen und Autoren selbst aus den behandelten Regionen stammen und damit über hervorragende Kenntnisse der örtlichen Archivbestände verfügen, ausdrücklich positiv zu bewerten ist, werden die Einordnung in einen größeren Forschungskontext sowie die Auswertung neuerer Literatur in westlichen Sprachen doch schmerzlich vermisst. Selbst dort, wo westliche Literatur rezipiert wird, wurden doch offenbar kaum einmal die in den letzten eineinhalb Jahrzehnten erschienenen Arbeiten berücksichtigt bzw. eingearbeitet. Die dem Band zugrunde liegenden Konferenzen fanden, wie eingangs erwähnt, schon vor längerer Zeit statt, und der Herausgeber gibt leider keine Erklärung für den selbst für die Geschichtswissenschaft ungewöhnlich langen Abstand zwischen den Tagungen und der Publikation. In jedem Fall wurde die Gelegenheit nicht genutzt, die Beiträge zu aktualisieren. Dies ist besonders bedauerlich im Hinblick auf den Aufsatz von Neutatz Wo steht die Forschung über die Russlanddeutschen? In dem auf einem 1999 gehaltenen Vortrag basierenden Forschungsüberblick werden einige zum damaligen Zeitpunkt ohne Zweifel wichtige Desiderate benannt, etwa die Notwendigkeit der Einbeziehung von Alltags-, Mentalitäten- und Mikrogeschichte auch bei der Erforschung der deutschen Kolonien in Russland. Während Neutatz Auslassungen vor mehr als fünfzehn Jahren zweifellos à jour waren, wirken Appelle zur Offenheit gegenüber einer (mittlerweile ja nun nicht so neuen) Neuen Kulturgeschichte heute etwas aus der Zeit gefallen. Gleichwohl ist der vorliegende Band für diejenigen, die sich mit der Geschichte deutscher Siedlungen im Zarenreich und der Sowjetunion und den Interaktionen in einem konfessionell und ethnisch höchst heterogenen Terrain befassen, ein willkommenes Kompendium.

Kerstin S. Jobst, Wien

Zitierweise: Kerstin S. Jobst über: Deutsche im Schwarzmeergebiet, auf der Krim und im Kaukasus vom 19. Jahrhundert bis 1941. Hrsg. von Alfred Eisfeld. Hamburg: Kovač, 2016. 678 S., 13 Abb., Tab. = Studien zur Geschichtsforschung der Neuzeit, 88. ISBN: 978-3-8300-8470-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Jobst_Eisfeld_Deutsche_im_Schwarzmeergebiet.html (Datum des Seitenbesuchs)

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