Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Botakoz Kassymbekova

 

Repression, Anpassung, Neuorientierung. Studien zum Islam in der Sowjetunion und dem postsowjetischen Raum. Hrsg. von Raoul Motika / Michael Kemper / Anke von Kügelgen. Wiesbaden: Reichert, 2013. 312 S., 1. Graph. = Kaukasus­studien – Caucasian Studies, 12. ISBN: 978-3-89500-916-7.

Inhaltsverzeichnis:

http://d-nb.info/104492327x/04

 

Die Regierung der Bolševiki war vor allem pragmatisch. Nicht Ideologie, sondern Überlebensdrang hat das erste Jahrzehnt der bolschewistischen Politik gesteuert. Nur wenn der sowjetische Staat sich in den jeweiligen Regionen stark und sicher fühlte, wagte er es, islamische Geistliche zu ermorden und den islamischen Glauben offiziell zu verbieten. Wie genau aber kooperierte der sowjetische Staat mit den Geistlichen in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts? Wann und wie wurden Repressionen angesetzt? Was passierte nach den Repressionen und nach dem Zerfall der Sowjetunion? Wie orientierten sich die neuen post-sowjetischen Regierungen, die neuen Geistlichen und die Bevölkerung gegenüber dem Islam? Der Sammelband Repression, Anpassung, Neuorientierung. Studien zum Islam in der Sowjetunion und dem postsowjetischen Raum gibt einen Überblick über früh- und postsowjetische politische und gesellschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Islam und zeigt, dass der Islam im sowjetischen und postsowjetischen Raum heterogen blieb und deshalb auch unterschiedlich behandelt und wahrgenommen wurde und werden sollte. Das Buch ist die vierte Veröffentlichung aus dem von Stefan Reichmuth und Fikret Adanir geleiteten Projektes zur islamischen Bildung in der Sowjetunion und den Nachfolgestaaten an der Universität Bochum. Das Projekt brachte renommierte Wissenschaftler aus der Region mit deutschen Kollegen zusammen, um die Vielfalt des Islam in der Sowjetunion und den Nachfolgestaaten zu untersuchen.

Die ‚schwierigsten‘ Regionen genossen – sowohl geographisch als auch politisch – mehr religiöse Freiheiten, sogar Unterstützung von Seiten des frühen sowjetischen Staates. In Dagestan, zeigt Vladimir Bobrovnikov, hat die Sowjetische Regierung im Jahre 1920 das zentrale Sharia-Gericht offiziell institutionalisiert, die religiöse Elite genoss die Unterstützung der sowjetischen Regierung und erhielt oft staatliche Funktionärsposten. Die Schwierigkeiten im bergigen Dagestan, die Bevölkerung überhaupt zu erreichen (ähnlich wie in Tadžikistan), und die Erinnerung an deren dreißig Jahre dauernden Krieg mit dem zaristischen Russland machte die Bolševiki zu flexiblen und schonenden ‚anti-kolonialen‘ Eroberern.

Anders war es im benachbarten Aserbaidschan, wie Altay Göyuşov in seinem Kapitel zeigt. Aserbaidschan hatte, im Vergleich zu Dagestan, schon vor dem sowjetischen Einmarsch eine weltlich orientierte Elite, die säkular regierte. Für jene aserbaidschanischen Aufklärer, die dem Sowjetprojekt Glauben schenkten, war Islam Barbarei, die durch weltliche Bildung ausgerottet werden musste. Manche von ihrer Angehörigen erklärten sogar jene Muslime, die trotz säkularer Bildung religiös blieben, zu Feinden. Deshalb verlangte Moskau von der aserbaidschanischen kommunistische Elite, ihre Loyalität gegenüber dem sowjetischen Staat durch Aktivismus gegen den Islam zu zeigen, zum Beispiel im Bund der Gottlosen oder durch Repressionen gegen die muslimische Geistlichkeit, die ulama.

Trotz der regionalen Unterschiede der sowjetischen Politik gegenüber dem Islam gab es Zäsuren, die überregional wirkten. Sie waren direkt mit politischen Entwicklungen verbunden, insbesondere mit dem Versuch, die Macht in Moskau zu zentralisieren. Nach einem kurzlebigen und erfolglosen Versuch, nach der Revolution den Islam zu verbannen, versuchte die Sowjetische Regierung in den zwanziger Jahren, die islamische Bevölkerung zu ‚beruhigen‘, indem sie religiöse Freiheiten versprach. Unter dem Eindruck der antikolonialen Propaganda der Bolševiki entschieden sich viele Geistliche dafür, den neuen Staat zu akzeptieren und an ihm mitzuwirken. Parallel zur Legalisierung der islamischen Gerichte, Schulen und wirtschaftlichen Institutionen betrieb die sowjetische Regierung antireligiöse Propaganda, die allerdings relativ unpopulär blieb. Wissend, dass der Islam heimlich oder öffentlich selbst von Parteimitgliedern ausgeübt wurde, entschieden die Bolševiki nach dem Ende des Bürgerkrieges, radikaler mit dem Islam umzugehen. In allen Regionen begann mit dem I. Fünfjahresplan auch das Ende des islamischen Lebens in der Öffentlichkeit. Der ausschlaggebende Faktor, so sind sich alle Autoren einig, war dabei die physische Vernichtung der ulama. Da die Netzwerke und die vermittelte Bildung extrem personenbezogen waren, wie die Kapitel von Bobrovnikov, Šamil Šixaliev und Il’nur Minnullin Kapitel zeigen, wurden mit der Vernichtung der ulama zugleich auch das religiöse Wissen und letztlich die Netzwerke zerstört.

Obwohl es dem sowjetischen Staat gelang, die islamischen Institutionen in muslimischen Regionen zu vernichten, eröffnete er in den vierziger Jahren offizielle muslimische Muftiate, die sowohl Verwaltungs- als auch Aufgaben der religiösen Bildung übernahmen (darüber berichtet ausführlicher der 3. Sammelband des Projektes Islamic Education in the Soviet Union and its Successor States). Als sowjetische Einrichtung sorgten sie dafür, dass islamisches Leben in einem säkularen Land gesteuert und offiziell benutzt wurde. Der Islam, so zeigt Aširbek Muminovs Kapitel über die Bildung der Geistlichen in Usbekistan, wurde im Rahmen der Ausrufung des Großen Vaterländischen Krieges (II. Weltkrieg) aus politischen Gründen wiederbelebt, musste aber apolitisch bleiben. Dies ließ sich nur schwierig kontrollieren, besonders auf dem Land, wo islamische Sitten und Rituale weiter praktiziert wurden. In den ländlichen Peripherien Dagestans und Usbekistans, aber auch in anderen Regionen, in denen der Staat schwach blieb, entwickelten sich auf Basis dieser Volksreligiosität illegale Bildungsnetzwerke islamischer Rechtsgelehrsamkeit, die volksislamisches Wissen an jüngere Generationen weitergaben. Im Falle Usbekistans, argumentiert Muminov, führte dies dazu, dass es wenig Konkurrenz zwischen verschiedenen religiösen Deutungen und Persönlichkeiten gab. In einzelnen Fällen erfuhr fundamentalistisches Gedankengut Zuspruch. In Dagestan wurde das illegale Netzwerk durch die zu Kollektivwirtschaften adaptierten islamischen Stiftungsgüterwaqf unterstützt. Es wurde dadurch erhalten, dass Einkünfte aus ehemaligem waqf-Vermögen in die Verantwortung einiger Kolchosfunktionäre übertragen und inoffiziell benutzt werden konnten. Die Kolchos-Gemeinden wählten geistliche Führer und vertrauten ihnen auch politische Macht an. Aus diesen Strukturen entstanden die religiösen Netzwerke und Führer der postsowjetischen Zeit.

Trotz der Volksreligiosität, die besonders auf dem Lande erhalten blieb, zeigen mehrere Kapitel, dass namentlich in modernen urbanen Kontexten die Kreation einer bewussten religiösen Identität nach dem Zerfall der Sowjetunion vielen schwer fiel. In ihrem Kapitel über postsowjetische islamische Bildung in Aserbaidschan beschreibt Christine Hunner-Kreisel den komplizierten und widersprüchlichen Prozess, in dem sich Religionslehrer und Schüler befinden. Das Kapitel schildert, wie die ältere, im Kommunismus sozialisierte Generation und die neue Generation im unabhängigen Aserbaidschan zu verstehen versuchen, was Islam für sie heute bedeutet. Viele Lehrer verstehen die postsowjetische islamische Bildung als moralische Erziehung, die dem sowjetischen Muster der Erziehung zum „wahren Kommunisten“ nicht unähnlich ist. Ungeachtet dessen bleiben die größeren Probleme der Korruption und der Wahrnehmung des Islam als Gefahr bestehen.

Am Beispiel Tadžikistans untersucht Manja Stephan den gegenwärtigen schulischen Ethikunterricht und zeigt, wie die gebildete Elite und der Staat versuchen, eine weltliche Moralerziehung für die Bevölkerung zu finden. Persische Literatur wird mit dem Islam kombiniert, um eine überregionale nationale Idee zu fördern und keinen (wiederum als gefährlich wahrgenommenen) rein religiösen Referenzrahmen zu konstruieren. Die eigentliche Praxis im Ethikunterricht bleibt aber regionalspezifisch, da die Lehrerinnen lokale Werte und Sitten vermitteln und nicht bereit sind, moralische Orientierung im persischen und rein islamischen Wertesystem zu finden.

Im Falle Tatarstans, zeigt Dilyara Usmanova, findet es die religiöse Presse trotz der neuen postsowjetischen Freiheiten schwierig, in einen überregionalen Dialog einzutreten. Das hängt damit zusammen, dass sie in lokale politische Gruppierungen eingebunden ist und es noch nicht geschafft hat, einen allgemeinen russisch-islamischen Dialog zu etablieren. Dafür fehlt es nicht nur an fachlicher Kompetenz und politischem Willen. Usmanova zeigt, dass es auch in der vorrevolutionären Zeit keine deutliche Trennung zwischen Religiösem und Weltlichem gab und sich deshalb die religiöse Presse nur schwach entwickelt hat. Ob sich die gegenwärtigen Geistlichen auf eine religiöse Presse stützen können, die die nationalen Grenzen überschreitet, bleibt zweifelhaft. Die wichtigste sowohl integrierende als auch paradox erscheinende Bedingung dafür – die russische Sprache – stünde heutzutage zur Verfügung.

Die Veröffentlichungen des Sammelbandes basieren auf Forschungen, die in den Jahren nach 2000 durchgeführt wurden. Dennoch sind die Ergebnisse meist immer noch aktuell. Im Falle von Tadschikistan ist bemerkenswert, dass die Regierung in den Jahren 2010/11 doch noch Islamunterricht in Schulen eingeführt hat, ihn jedoch nach einem Jahr einstellen musste – laut Bildungsministerium wegen Lehrermangels. Die Punkte, auf die der Sammelband noch hätte eingehen können, ist einerseits das theoretische Konzept der sowjetischen politischen Herrschaft. Es wird zwar viel über den „Staat“ und staatliche Maßnahmen gesprochen, aber es wird kaum erörtert, was genau der Staat in den verschiedenen Perioden der Sowjetherrschaft bedeutete. Die andere Anmerkung betrifft die Periodisierung. Die Kapitel zeigen spektakuläre Gegensätze und Brüche zwischen früh- und postsowjetischen Zeiten. Wenig wird diskutiert, wie der Prozess der Säkularisierung verlief, besonders unter der urbanen Bevölkerung.

Basierend auf fundiertem Wissen, beantwortet der Sammelband wichtige Fragen zur Islampolitik in der Sowjetunion und zeichnet ein kompliziertes und oft paradoxes Bild von der postsowjetischen Epoche. Die Arbeit eröffnet neue Fragen, die den Islam mit allgemeinen Fragen der sowjetischen Moderne verbinden. Ein interdisziplinärer Dialog, der regionale Grenzen überschreitet, wird hilfreich sein.

Botakoz Kassymbekova, Berlin

Zitierweise: Botakoz Kassymbekova über: Repression, Anpassung, Neuorientierung. Studien zum Islam in der Sowjetunion und dem postsowjetischen Raum. Hrsg. von Raoul Motika / Michael Kemper / Anke von Kügelgen. Wiesbaden: Reichert, 2013. 312 S., 1. Graph. = Kaukasus­studien – Caucasian Studies, 12. ISBN: 978-3-89500-916-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Kassymbekova_Motika_Repression_Anpassung_Neuorientierung.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2016 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Botakoz Kassymbekova. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.