Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Nikolaus Katzer

 

Michail V. Kovalev: Russkie istoriki-ėmigranty v Prage (1920–1940 gg.). Monografija. [Russische emigrierte Historiker in Prag (1920er–1940er Jahre). Eine Monographie]. Saratov: Saratovskij gosudarstvennyj techničeskij universitet, 2012. 406 S. ISBN: 978-5-7433-2540-5.

Prag bot geflohenen oder vertriebenen russischen Intellektuellen nach Revolution und Bürgerkrieg eine sichere Zuflucht. Grund dafür war ein ausgeprägtes Interesse der ansässigen Bildungselite an der russischen Kultur. Zudem sorgten die vormaligen tschechischen Untertanen des zerfallenen Zarenreichs, die Heimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft und die Veteranen der Tschechoslowakischen Legion, die nun im eigenen Staat lebten, für ein freundliches Klima. Das Sowjetregime würde, so meinten viele, bald zusammenbrechen. Zum neuen Russland aber, das die jetzigen Emigranten aufbauen würden, wollte man frühzeitig günstige Beziehungen pflegen.

Seit den späten 1980er und den 1990er Jahren erlebt die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Emigration eine einzigartige Blüte. Monographische Überblicke, Nachschlagewerke, Memoiren und Quelleneditionen aus Archiven der weltweiten Diaspora vermitteln eine Vorstellung von dem Drama, das sich infolge des Ersten Weltkriegs auf dem Territorium Russlands abspielte. Zwar ebbte zwischenzeitlich das Interesse ab. Einzelne Fäden wurden aber kontinuierlich fortgesponnen.

Dazu zählt das historiographische Erbe der Emigration. Es verdient schon deshalb besondere Aufmerksamkeit, weil es erhellend für die aktuelle Geschichtsdebatte in Russland und seinen Nachbarländern ist. (Vgl. Kare Johan Mjor: Reformulating Russia: The Cultural and Intellectual Historiography of Russian First-Wave Émigré Writers. Leiden 2011.) Die jüngste Forschung zum Ersten Weltkrieg hat noch einmal in Erinnerung gebracht, welche Kluft die sowjetische Geschichtswissenschaft im historischen Bewusstsein hinterlassen hat. Der Beitrag der Gelehrten „von jenseits der Grenzen“ bildet daher eine der wenigen Brücken zwischen der Gegenwart und der vorrevolutionären Zeit. Im Exil gedachte man – wissenschaftlich und erinnerungspolitisch – intensiv des „Zweiten Vaterländischen“, des „Deutschen“ bzw. des „Großen Kriegs“, wie ihn Zeitgenossen wechselweise nannten (Siehe etwa Karen Petrone: The Great War in Russian Memory. Bloomington, Indiana 2011). Denkmäler, Memoiren und Literatur speicherten ein Wissen, das die sowjetische Tradition weitgehend vernachlässigt hat. Ohne diesen Akt der Bewahrung wäre der große Kulturbruch zwischen dem „Russland von gestern“ und dem „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ tatsächlich der anonyme Regimewechsel geblieben, als den ihn die Bolschewiki erinnern wollten. Dabei schrieben der Zusammenbruch der Monarchie und des Imperiums, die Revolutionen und der verheerende Bürgerkrieg Geschichten von beispielloser Tragik, Schuld und Verzweiflung.

Nun war es keineswegs so, dass die Trennlinien der Wahrnehmung allein zwischen kollektivistischen Siegern im Land der Sowjets und subjektivistischen Verstoßenen im Ausland verlaufen wären. Auch in der Emigration bemühten sich einzelne Gruppen, dem epochalen Geschehen einen ideologisch-politischen Sinn abzuringen, etwa die Eurasier oder die Smenovechovcy. Sie haben in den vergangenen Jahrzehnten stets ein gewisses akademisches Interesse gefunden, galten als Symptome des Übergangs und des Versuchs, eine Brücke zwischen Diaspora und Sowjetmacht zu schlagen. Neuerdings kreisen geopolitische Debatten um diese Konzepte, hält man sie doch für geeignet, die Verschiebungen im internationalen System nach dem Ende des Kalten Krieges zu erklären und Russlands Platz im gegenwärtigen globalen Mächtespiel mit Kategorien zu bestimmen.

Michail V. Kovalev, Historiker in Saratov, sucht mit seiner Studie weder Anschluss an solche Diskussionen, noch spekuliert er auf einen Bonus durch Bezugnahme auf das Gedenkjahr 2014. Vielmehr beschäftigt er sich seit Jahren mit der russischen Exilgemeinde in Prag. Er kennt die Erträge der tschechischen und sonstigen internationalen Emigrations­forschung und bettet sie ein in eine konzeptuell informierte Ideengeschichte, die nach dem Verhältnis von Wissenschaft und ideologischer Konditionierung, der Bedingtheit des kollektiven und des individuellen Gedächtnisses, der räumlichen und symbolischen Verankerung historischer Erinnerung sowie nach der Historie als Arsenal kultureller Orientierung fragt. Neben dieser theoretischen Anleitung sind indessen auch die wenigen älteren Studien unverzichtbar, die das Untersuchungsfeld – die Historikergemeinde des Exils – für eine nicht bloß biographische, sondern eine sozial-, mentalitäts- und alltagsgeschichtliche Analyse absteckten. Diese verdienen schon deshalb höchsten Respekt, weil sie in jahrzehntelanger, wegen verstreuter und teils nicht zugänglicher Archive überaus mühsamer Arbeit entstanden (Marc Raeff: Russia Abroad. A Cultural History of the Russian Emigration 1919–1939. New York, Oxford 1990, S. 156–186; Vla­di­mir T. Pašuto: Russkie istoriki-ėmigranty v Evrope. Moskau 1992, S. 3278).

Kovalevs Anliegen ist es also nicht, diese Pionierleistungen einfach fortzuschreiben. Vielmehr möchte er durch Beschränkung auf einen geographisch, personell und infrastrukturell eingegrenzten Ausschnitt die Formen der Selbstorganisation einer entwurzelten Elite und ihren geistigen Kosmos rekonstruieren. Es geht ihm ebenso um die materiellen Entstehungsbedingungen wie um die intellektuellen Konturen einer historiographischen Denktradition, die mit dem Zweiten Weltkrieg fast vollständig abbrach. Die Wahl Prags als Brennpunkt der Untersuchung ist dabei nicht zufällig. Der Verfasser verfügt über gute Kontakte zu wissenschaftlichen Einrichtungen in der Tschechischen Republik. Doch spricht auch sonst einiges für die mitteleuropäische Metropole, in der während der Zwischenkriegszeit führende Historiker zusammenfanden und sich in eine multidisziplinäre Gelehrtenkommunität einfügten.

Der Autor entfaltet seinen Gegenstand in drei Schritten. Zunächst untersucht er, wie sich die Wissenschaftler im kulturellen Umfeld des noch jungen Nachfolgestaates des Habsburgerreiches einrichteten. Ihr Dasein war in vieler Hinsicht ähnlich geprägt wie das anderer Emigranten: Sie frequentierten die staatlichen Anlaufstellen, sorgten sich um Wohnung und Nahrung, mühten sich mit dem Spracherwerb, suchten nach aufgeschlossenen ortsansässigen Kollegen, notierten erste Eindrücke von der ungewohnt kleinräumigen Lebenswelt Prags. Insgesamt fiel es ihnen schwer, sich einzugewöhnen und anzupassen. Von großer Bedeutung für die Zeit des Aufenthalts, der sich unerwartet lange hinzog und immer unabweislicher zum Dauerzustand wurde, war es deshalb, die vorgefundene Lebenswelt aktiv mitzugestalten.

Dazu gehörte, sich als Gemeinde von Historikern neu zu konstituieren, sich regelmäßig zu treffen, Organisationen zu gründen und funktionstüchtige Einrichtungen zu schaffen, die an vertraute Strukturen der Vergangenheit angelehnt waren, ohne die veränderten Umstände zu leugnen. Schon die Aufzählung dieser Einrichtungen ergibt ein eindrucksvolles Webmuster akademischer Soziabilität. Zwar täuschen viele dieser „Grup­pen“, „Institute“, „Gesellschaften“, „Hochschulen“, „Fakultäten“, „Freien Uni­ver­sitäten“, „Archive“ und sonstigen Korporationen über minimale Personalbestände, Finanznöte und räumliche Beengung hinweg. Gleichwohl bezeugen sie den ausgeprägten Wunsch, sich in der Fremde wissenschaftlich zu behaupten.

Schließlich widmet sich der Autor dem, was er die „Metamorphosen des historischen Gedächtnisses“ nennt. Im Vergleich mit den beiden anderen Kapiteln ist dieser Teil bedauerlicherweise der kürzeste. Dennoch verdient er als Anregung zu einer vertieften Auseinandersetzung mit dem gesamten historiographischen Vermächtnis der russländischen Emigration besondere Beachtung. Denn es geht um die Produktion mehr oder weniger identifizierbarer „Schulen“ und Denkrichtungen, die mittels wissenschafts- bzw. wissensgeschichtlichen Zugriffs im Kontext ihrer Entstehung erschlossen werden. Das Schaffen einzelner Gelehrter bildet dazu den Anknüpfungspunkt, angefangen bei G. V. Vernadskij und A. V. Florovskij, über N. S. Trubeckoj und A. A. Kizevetter, bis hin zu S. G. Puškarev, I. I. Lappo und E. F. Šmurlo. Ungeachtet dessen, dass auch bereits Bekanntes rekapituliert wird (beispielsweise im Abschnitt über die „eurasische Herausforderung“), zeugen die Passagen über historische Gedenktage, die Konstruktionen einer „idealen Vergangenheit“ in den vorpetrinischen Jahrhunderten oder die „verpassten Gelegenheiten“ der Kaiserzeit von der Intensität der historischen Spurensuche. Während viele Topoi dieser Selbstverständigung höchst kontrovers erörtert wurden, bot beispielsweise der Kult um Puškin – im Übrigen eine bemerkenswerte Parallele zur stalinistischen Sowjetunion in den dreißiger Jahren – einen Projektionspunkt, der über alle Gräben hinweg versöhnen sollte.

Manche der von Kovalev aufgerufenen Grundsatzdebatten über den Weg „Russlands“ durch die Geschichte mag auf heutige Zeitgenossen sehr vertraut wirken. Waren nicht die Fürsten der Alten Rus so vorbildliche Herrscher, dass sie es verdienen, romantische Helden zu werden? Verdankt Russland nicht erst Peter I. jene ordnungspolitischen und zivilisatorischen Maßstäbe, die es für einen Vergleich mit den führenden Mächten der Zeit wappneten? Welcher Staat wurde eigentlich in Kiev gegründet? Oder, begann alles Wesentliche nicht doch erst in Moskau? Von getrennten Wegen der drei ostslavischen Völker wollten die russischen Historiker in Prag nahezu unisono nichts wissen. Leichter als mit dem multiethnischen Erbe des Imperiums taten sie sich dagegen mit Analogien über die Epochen hinweg, etwa wenn sie die Despotie Ivan Groznyjs kurzerhand mit Stalin in Beziehung setzten.

Im Chor der namhaften Historiker, den gelegentlich Publizisten und historisierende ehemalige Politiker verstärkten, drangen mal die brillanten, mal die eifernden Stimmen lauter durch. Ein allseits anerkannter Vorsänger tat sich indessen nicht hervor, obwohl das Bemühen um die Bewahrung der „einen Geschichte“ unverkennbar war. Doch widersprüchlich war die Beschäftigung mit der imperialen und der noch älteren Vergangenheit bereits vor 1914 gewesen. Die nachfolgenden Erschütterungen tauchten vieles in ein verändertes Licht, zogen zugleich aber neue Gräben, über die hinweg die Verständigung kaum leichter fiel. Mit den Mitteln ihrer Zunft gingen die Historiker des Exils daran, das Trauma von Weltkrieg, Revolution, Bürgerkrieg und Stalinismus zu fassen. Heute, da manche zusätzlich das Ende des sowjetischen Imperiums beklagen, hat diese Geschichts­debatte über die Zäsur vor hundert Jahren gerade erst wieder neu begonnen. Neue Gedenktage, ein verbindliches historisches Curriculum oder repräsentative Ahnengalerien großer Persönlichkeiten bieten kosmetische Retuschen. Um die horrenden Verluste des auch für Russland 1914 beginnenden 20. Jahrhunderts zu bewältigen, bedarf es hingegen mehr. Bei den Historikern der Emigration könnte in die Lehre gehen, wer Phantomschmerz bewältigen will und Linderung in der Historie sucht.

Das Werk Kovalevs ruht auf einer breiten Grundlage von unveröffentlichtem Material aus russischen und tschechischen Archiven, gedruckten Quellen und internationaler Literatur. Es bietet eine ausgewogene Auseinandersetzung mit dem disparaten Vermächtnis einer Generation von Gelehrten, für die Wissenschaft meist nicht mehr Beruf war, sondern Lebenselixier. So vielfältig ihre Überlebensstrategien im Alltag, so heterogen waren ihre Ansichten von dem geistigen Universum, das ihre Erkundungsmission in die Vergangenheit erbrachte. Die einen klammerten sich dogmatisch an das, was unwiederbringlich verloren war, andere machten Zugeständnisse an die veränderten Verhältnisse, um Anschluss an die Gegenwart zu halten. Die wenigen, die selbst unter deutscher Besatzung in Prag ausgeharrt hatten, durften den Einmarsch der sowjetischen Truppen nur kurz als Befreiung erleben. Manche mutmaßten ohnehin, es werde „eine Austreibung des Teufels durch Beelzebub“ sein (Zit. Tat’jana I. Ul’jankina: „Dikaja istoričeskaja polosa…“ Sud’by rossijskoj naučnoj ėmigracii v Evrope (1940–1950). Moskau 2010, S. 138).Viele von ihnen wurden verhaftet und fanden sich im Lager wieder.

Nikolaus Katzer, Moskau/Hamburg

Zitierweise: Nikolaus Katzer über: Michail V. Kovalev: Russkie istoriki-ėmigranty v Prage (1920–1940 gg.). Monografija. [Russische emigrierte Historiker in Prag (1920er–1940er Jahre). Eine Monographie]. Saratov: Saratovskij gosudarstvennyj techničeskij universitet, 2012. 406 S. ISBN: 978-5-7433-2540-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Katzer_Kovalev_Russkie_istoriki_emigranty.html (Datum des Seitenbesuchs)

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