Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Robert Kindler

 

Alexander Etkind: Warped Mourning. Stories of the Undead in the Land of the Unburied. Stanford, CA: Stanford University Press 2013. XVI, 328 S., 13 Abb. 978-0-804-77393-5.

Getrauert wird immer. So könnte man den deutschen Titel der Fernsehserie Six Feet Under abwandeln und wäre damit bereits direkt beim Kern von Alexander Etkinds bemerkenswertem Buch angelangt. Ihn interessieren Formen und Praktiken des Umgangs mit der stalinistischen Vergangenheit in der Sowjetunion und im heutigen Russland. Weil sowohl der sowjetische als auch der russische Staat niemals ernsthaft an einer Auseinandersetzung über Schuld, Verantwortung und Erinnerung interessiert gewesen seien, habe eine allgemein verbindliche Sprache des Erinnerns an den Terror nicht entstehen können. Von einer gesamtgesellschaftlichen Bewältigung des Stalinismus könne keine Rede sein. Vielmehr hänge der Terror noch immer wie eine drohende dunkle Wolke über der russischen Gesellschaft. Die Vergangenheit sei letztlich nicht vergangen.

Solche Befunde kennt man aus einer Vielzahl von Texten über (post-)sowjetische Erinnerungsdiskurse. Doch während andere Autoren an diesem Punkt zu mehr oder minder pessimistische Resümees ansetzen, beginnt Alexander Etkind hier überhaupt erst mit seiner Analyse. Er beobachtet keine kollektive Amnesie, sondern multiple Formen des Erinnerns und Bewältigens, die sich trotz ihrer Verschiedenheit in einem Punkt ähneln: Bei allen handele es sich um Spielarten der Trauer und des Betrauerns. Worin bestehen nun die Herausforderungen der Vergangenheit für die (Über-)Lebenden? Indem er sich der Kunst- und Kulturszene der späten Sowjetunion und des postsowjetischen Russlands mit ihren teils weltberühmten, teils weniger bekannten Protagonisten zuwendet, sucht Etkind diese Frage zu beantworten. Während man in Westeuropa auf die „hardware“ großer Monumente setze, um die Vergangenheit zu rationalisieren, seien in Russland in erster Linie Bücher geschrieben, Filme gedreht, Debatten geführt und Musik komponiert worden. Diese Werke, die hier als „software“ des Erinnerns bezeichnet werden, und die Biographien ihrer Erschaffer stehen im Zentrum des Buches. Es geht um so unterschiedliche Figuren wie Vladimir Vysockij, der Lagerlieder sang, ohne im Lager gewesen zu sein, Michail Bachtin, der den Karneval nur verstehen konnte, weil er das Lager verstanden hatte oder Andrej Sinjavskij, der es darauf anlegte, ins Lager zu kommen, weil er darin die Erfüllung seines Schicksals erblickte. An ihrem und am Beispiel zahlreicher anderer Männer (und einiger weniger Frauen) diskutiert Etkind die Besessenheit sowjetischer und russischer Eliten vom Gulag. Dazu analysiert er eingehend ihre Texte, Filme und Kompositionen. Bei allen Unterschieden kommt er – wenig überraschend – immer wieder auf denselben Punkt zurück: Die Beschäftigung mit dem Stalinismus habe im Laufe der Jahrzehnte zwar unterschiedliche Formen angenommen, nicht aber an Intensität verloren habe. Sie sei eines der wichtigsten Themen sowjetischer und russischer Kultur überhaupt. Oder anders gewendet: Nur aus dieser Perspektive lasse sich diese Kultur überhaupt verstehen.

Etkind grenzt „Betrauern“ vom Konzept des Traumas ab, dessen Kern darin bestehe, dass es aus einem vom Individuum selbst erfahrenen Ereignis resultiere, das letztlich nicht wiedergegeben werden könne. Für das Betrauern sei es hingegen zentral, dass die schreckliche Vergangenheit thematisiert und repräsentiert werde. Doch weil sich der stalinistische Terror im Gegensatz zu den Exzessen der Nationalsozialisten nicht eindeutig zuweisen und externalisieren lasse, habe die Trauer weder einen festen Ort und noch ein klares Ziel. Erinnerung und Trauer seien stets mehrschichtig, ambivalent und auf merkwürdige Art und Weise „verzerrt“ („warped“). Ein Beispiel dafür sei die bis 2011 in Umlauf befindliche 500-Rubel-Banknote. Auf der Rückseite des Geldscheins ist das berühmte Kloster auf den Solovki-Inseln zu sehen; allerdings nicht mit den charakteristischen Zwiebeltürmen, sondern mit holzbedeckten Türmen. So sah das Ensemble in den 1920er Jahren aus, als es die Keimzelle des sowjetischen Gulag war. In dieser Form war der Geldschein auch eine Repräsentation des Terrors, obgleich dies beinahe niemandem auffiel. Erst als der Umstand 2011 publik wurde, ersetzte die russische Zentralbank die Scheine kommentarlos durch solche mit politisch unbelasteten Türmen. Für Alexander Etkind ist dies eine paradigmatische Geschichte. Die Vergangenheit sei gegenwärtig, werde aber von den meisten Menschen nicht erkannt. Insofern ähnele das Bild auf der Banknote einem „Geist“. (S. 7) Ob auf Banknoten, oder in Büchern: Die Opfer des stalinistischen Terrors, oder besser: ihre Geister, geben keine Ruhe.

Damit ist ein grundlegendes Problem (post-)sowjetischer Erinnerungsdiskurse benannt, das Etkind so beschreibt: „If the suffering is not remembered, it will be repeated. If the loss is not recognized, it threatens to return in strange though not entirely new forms, as the uncanny. When the dead are not properly mourned, they turn into the undead and cause trouble for the living.“ (S. 16–17) In einem Land, in dem Millionen Menschen keine ewige Ruhe fanden (sowohl im übertragenen, als auch im buchstäblichen Sinne), kehren die Toten als „Untote“ zurück. Die Obsession russischer und sowjetischer Künstler und Autoren mit Geistern, Vampiren, dunklen Wesen und Helden mit überlegenen Kräften interpretiert Etkind daher überzeugend als eine Form der fortwährenden Auseinandersetzung mit dem Stalinismus. Dazu gehört, dass sich Trauer und Erinnerung stets mit Warnungen vor einer Wiederkehr des Schreckens verbänden. Der Verweis auf den Terror sei eng an die Furcht vor einer ungewissen Zukunft gekoppelt.

Was in Warped Mourning beschrieben wird, ist die Welt der Eliten, es sind die Themen und Perspektiven der Intelligencija. Wie genau deren Diskurse und Werke in ‚der‘ Gesellschaft rezipiert wurden, spielt hier nur am Rande eine Rolle. Was sich breitere Schichten aneigneten und aus welchen Gründen sie dies taten und tun, wird hier nicht verhandelt. Dabei, und das betont Etkind ganz explizit, wissen die meisten Menschen in Russland gut über die stalinistischen Repressionen Bescheid. Allein ihre Interpretationen des Vergangenen unterscheiden sich anscheinend diametral von denjenigen der meisten Helden in diesem Buch. An dieser Stelle ließe sich jedoch ansetzen und danach fragen, wie es heute um die Wirksamkeit der hier analysierten Narrative steht. Möglicherweise käme man dann zu dem Schluss, dass die Zeit der Trauer aus Sicht der meisten Russen nun vorüber ist.

Robert Kindler, Berlin

Zitierweise: Robert Kindler über: Alexander Etkind: Warped Mourning. Stories of the Undead in the Land of the Unburied. Stanford, CA: Stanford University Press 2013. XVI, 328 S., 13 Abb. 978-0-804-77393-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Kindler_Etkind_Warped_Mourning.html (Datum des Seitenbesuchs)

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