Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Yvonne Kleinmann

 

Jeffrey Veidlinger: Jewish Public Culture in the Late Russian Empire. Bloomington, Indianapolis, IN: Indiana University Press, 2009. XVIII, 382 S., 1 Kte., Abb., Tab. = The Modern Jewish Experience. ISBN: 978-0-253-22058-5.

Das Umschlagphoto von Jeffrey Veidlingers Monographie über das Entstehen einer öffentlichen jüdischen Kultur im späten Zarenreich zeigt eine jüdische Musikkapelle aus Ostrowiec an der Wende zum 20. Jahrhundert: Jugendliche, Männer mittleren Alters und betagte Juden – keine Frauen. Fünf der 14 Musiker tragen den Bart ungeschoren, vier getrimmt, vier sind glatt rasiert; den Kopf eines noch bartlosen Jungen bedeckt eine Kipa.

Die Heterogenität äußerer Erscheinung auf dem Bild steht für eine bewegliche jüdische Gesellschaft, unterschiedliche Lebensentwürfe und kulturelle Horizonte. Mit ihnen befasst sich Veidlinger. Einleitend formuliert er, angelehnt an die Zeitschrift „Public Culture“, sein Anliegen: „to relocate scholarly emphasis from the professional producers of cultural products to how those products are received as well as to the participatory role amateurs and common folk play in creating culture.” Veidlingers Interesse richtet sich daher vor allem auf den Aspekt der Öffentlichkeit jüdischer Kultur in den letzten zwei Jahrzehnten des Zarenreichs, weniger auf eine Hierarchisierung von Kulturen. Er untersucht die Entstehung der ersten öffentlichen jüdischen Bibliotheken, die Gründung von literarischen und wissenschaftlichen Gesellschaften, Musikvereinen, Theaterzirkeln und Theatern. Diese Kulturvereine begreift er als Schlüsselorte für die Transformation der jüdischen Gesellschaft an der Wende zum 20. Jahrhundert: Zum einen hoben sie sich als ausdrücklich säkulare Institutionen von den traditionellen Organisationsformen der jüdischen Gemeinde ab, zum andern distanzierten sie sich von den illegalen Aktivitäten der Bundisten und Zionisten, und schließlich konkurrierten sie insbesondere mit russischen und polnischen Vereinen.

Die Quellengrundlage des Buches ist vielfältig und opulent: Veidlinger stützt sich in seiner präzisen Betrachtung auf Vereinsstatuten, Mitgliederstatistiken und Jahresberichte zahlreicher Institutionen im jüdischen Ansiedlungsrayon, im russisch besetzten Polen und in den Hauptstädten des Imperiums, darüber hinaus auf russisch-jüdische, jiddische und hebräische Presse, die Archive einzelner Vereine sowie Memoiren und Yizker bikher – jüdische Erinnerungsbücher, die nach der Shoah entstanden. Das breite Spektrum an Perspektiven ermöglicht eine differenzierte Analyse.

Zunächst skizziert Veidlinger den rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmen, in dem weltliche jüdische Institutionen seit dem späten 19. Jahrhundert entstanden: Er nennt Faktoren von breiter Wirkmächtigkeit wie Industrialisierung, revolutionäre Bewegung, Massenmigration und Nationalismus, andererseits solche, die einen spezifisch jüdischen Erfahrungshorizont prägten – etwa Beschränkungen der Siedlungsfreiheit, der Partizipation an Bildung, Karrieren und öffentlichem Leben sowie Verfolgung durch Pogrome. Vor diesem Hintergrund kommt der Revolution des Jahres 1905, insbesondere dem Oktobermanifest, das Angehörigen aller Nationalitäten Versammlungs-, Presse- und Redefreiheit garantierte, für die Entwicklung einer jüdischen Öffentlichkeit besondere Bedeutung zu. Die im März 1906 erlassene Provisorische Verordnung über Gesellschaften und Vereinigungen bewirkte einen Boom des jüdischen Vereinswesens, der bis zum Beginn einer erneuten politischen Reaktion im Jahr 1911 anhielt und selbst während des Ersten Weltkriegs wirksam blieb. Nach einer nur flüchtigen Phase des Parlamentarismus – so die These Veidlingers – diskutierten russländische Juden vor allem in dieser Arena, wie sich die aufbrechende jüdische Gesellschaft angesichts säkularer Urbanität, politischer Bewegungen und europäischer Nationalismen neu konstituieren solle. Das Prinzip des Vereins beruhte auf Legalität, Kulturarbeit und lokaler Verwurzelung.

In jedem der acht Kernkapitel widmet sich Veidlinger einem bestimmten Vereinstypus, einer kulturellen Gewohnheit im Wandel oder einem besonders prominenten Verein. So arbeitet er am Beispiel der ersten öffentlichen jüdischen Bibliotheken minutiös heraus, wie sich diese von der traditionellen Sammlung heiliger Schriften in der Synagoge, aber auch von illegalen Bibliotheken politischer Bewegungen unterschieden: Sie hoben sich durch Transparenz, Systematik, und Professionalisierung ab. Darüber hinaus öffneten sie sich dem Jiddischen, vermittelten dem jüdischen Publikum durch russisch- und polnischsprachige Titel Einblick in andere Kulturen des Imperiums, ja selbst in die Weltliteratur. Sie überließen den Lesenden die freie Wahl ihrer Lektüre und waren Männern wie Frauen als Orte des Lesens und sozialer Begegnung zugänglich. Über das Medium Bibliothek bildeten sich neue säkulare Lesegewohnheiten und Geselligkeitsformen heraus, Freizeit löste die Pflicht des Religionsstudiums ab. Ähnliches traf auf kulturelle Praktiken und Rezeptionsformen in literarischen und wissenschaftlichen Gesellschaften, Musikvereinen und Theatern zu.

Veidlinger kommt durch seine Fallstudien zu zwei wichtigen Erkenntnissen: Zum einen beobachtet er anhand zahlreicher lokaler Beispiele eine stete Öffnung der jüdischen Gesellschaft, vor allem der jungen Generation, zur dominanten öffentlichen Kultur des Imperiums. Lektüre, Theaterrepertoires und Organisationsformen überschneiden sich auffällig. Jedoch findet diese Öffnung in einem geschützten jüdischen Milieu, angeführt von einer neuen säkularen Elite statt. Das wiederholte öffentliche Kollektivereignis ermöglicht die Konstruktion einer nationalen, nun modern verstandenen jüdischen Identität.

Zum anderen verdeutlicht Veidlinger, dass jüdische Moderne an der Wende zum 20. Jahrhundert viele Optionen kannte. Eine war der jüdische Kulturverein, eine andere der russische oder polnische, weitere Sozialismus, Bundismus oder Zionismus und – das Festhalten an der jüdischen Tradition. Teilweise überschnitten sich die unterschiedlichen Milieus personell. Die intensive Kommunikation zwischen ihnen ermöglichte das gemeinsame Musizieren in einer Kapelle.

Yvonne Kleinmann, Leipzig

Zitierweise: Yvonne Kleinmann über: Jeffrey Veidlinger: Jewish Public Culture in the Late Russian Empire. Bloomington, Indianapolis, IN: Indiana University Press, 2009. XVIII, 382 S., 1 Kte., Abb., Tab. = The Modern Jewish Experience. ISBN: 978-0-253-22058-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Kleinmann_Veidlinger_Jewish_Public_Culture.html (Datum des Seitenbesuchs)

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