Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo-e-reviews 7 (2017), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Oxana Kosenko
M. V. Loskutova / A. A. Fedorova: Stanovlenie prikladnych biologičeskich issledovanij v Rossii. Vzaimodejstvie nauki i praktiki v XIX – načale XX vv. Otv. red. Ė. Kolčinskij. S.-Peterburg: Nestor-Istorija, 2014. 219 S. ISBN: 978-5-4469-0393-1.
A. A. Fedorova / N. P. Gončarov: Bjuro po prikladnoj botanike v gody Pervoj mirovoj vojny. Sbornik dokumetov. Otv. red. Ė. Kolčinskij. S.-Peterburg: Nestor-Istorija, 2014. 267 S. ISBN: 978-5-4469-0392-4.
Die beiden Werke sind den Anfängen der angewandten biologischen Forschung in Russland im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewidmet und in Form eines Sammelbandes sowie einer Dokumentenedition erschienen.
Die „kollektive Monografie“ (S. 3) von Loskutova und Fedotova, die eher eine Sammlung von insgesamt acht Beiträgen und kleineren Aufrissen darstellt, befasst sich schwerpunktmäßig mit der Professionalisierung der Biologie in Russland im genannten Zeitraum. Das Ziel der Autorinnen war dabei, anhand von ausgewählten Beispielen einige Besonderheiten dieses Prozesses zu schildern, ohne den Anspruch auf eine umfassende Darstellung der Entwicklung der Biologie im Russischen Imperium zu erheben. Es wird betont, dass Wissenschaft ein Ergebnis kollektiver Bemühungen von Forscherinnen und Forschern ist und nicht die Leistung von einzelnen, wenn auch herausragenden Gelehrten. Daher sollen vor allem die Entstehung und Entwicklung der biologischen community sowie die Netzwerke und die gegenseitigen Beziehungen von Biologen thematisiert werden (S. 3). Die Autorinnen interessieren sich allerdings nicht für die Gestaltungsmechanismen der inneren Hierarchie einer scientific community, sondern für die Abgrenzung der Wissenschaftsgemeinde von den Dilettanten. Eine solche Grenzziehung ist allerdings problematisch, besonders hinsichtlich der damaligen außeruniversitären bzw. außerakademischen Forschung. Auch verbinden die Autorinnen damit die Frage nach der Entstehung von wissenschaftlichem Wissen. Wichtig sei nicht, wer dieses erzeugt, sondern wie dies geschieht, denn sowohl Gelehrte an universitären bzw. akademischen Einrichtungen als auch gebildete Dilettanten konnten dieselben Forschungsmethoden (beispielsweise Beobachtungen, Versuche, Auswertung von Daten u. a.) anwenden und somit das neue Wissen produzieren. Der Unterschied zwischen Wissenschaftlern und Laien liege daher im Beherrschungsniveau der für die jeweilige Wissenschaftsgemeinde üblichen Forschungspraktiken (S. 5).
Der Sammelband umfasst verschiedene Fallbeispiele für die Entstehung der angewandten Forschung in den 1830er bis 1910er Jahren auf den Gebieten Klimatologie, Meteorologie, Hydrologie, Forstökologie, Bodenkunde, Mikrobiologie und Botanik. Die meisten Beiträge beleuchten drei miteinander verbundene Fragenkomplexe. Zunächst geht es um den Expertenbegriff: Wer waren die Experten in der angewandten Biologie und inwieweit wurden sie in die höhere Staatsadministration inkorporiert? Zu Recht betont Loskutova, dass die Definition des Experten in der Entstehungsphase einer (angewandten) Disziplin besonders schwierig ist. Das illustriert z. B. die Begutachtung des Expeditionsberichts über die Versandung der Flüsse in den Gebieten der oberen Wolga (1837) durch einen Ökonomen und einen Literaturwissenschaftler (S. 22 ff.). Loskutova spricht vom besonderen Typ des „Behördenexperten“, der über umfassende Kenntnisse in den verschiedensten Bereichen der Staatsverwaltung, der Wissenschaft und der Kunst verfügte (S. 51). Das Beispiel zeigt zugleich, dass erfahrene Naturwissenschaftler bei der Auswahl von Experten übergangen wurden, wenn ihre Meinung konträr zu der des Auftraggebers stand. Überdies offenbart die Analyse des Forschungsprogramms zur Erstellung einer Klima- und Bodenkarte Russlands (1851), dass das zuständige Ministerium für Staatsdomänen die Experten ganz überwiegend aus seinen Organisationen rekrutierte und somit danach strebte, eigene innerbehördliche Informationskanäle zu schaffen (S. 70). Dennoch blieb zumindest unter Nikolaus I. die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften der wichtigste ‚Lieferant‘ von Experten für naturwissenschaftliche Fragen (S. 109). Was die spätere Zeit anbetrifft, vermitteln die Aufsätze leider keinen klaren Eindruck von der Expertensituation.
Der zweite Fragenkomplex beschäftigt sich mit dem Problem des Transfers, der Adaptation und der Produktion von Wissen. Die Autorinnen betonen die Bedeutung von europäischen (Umwelt-)Diskussionen und Forschungsmodellen, die in Russland bei der Konzeptionierung der heimischen Projekte durch die Brille der eigenen Interessen betrachtet wurden. Zu erwähnen sind beispielsweise die Debatten in Frankreich über die Wechselwirkung zwischen der Waldzerstörung und dem Klimawandel in den 1830er Jahren (S. 11) oder die Entscheidungen des Wiener Agrar-Kongresses (1873) über eine bessere Organisation der Forstwirtschaft (S. 128). Die großangelegten russländischen Ministerialprojekte der dreißiger bis fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts, die – wie z. B. die Klima- und Bodenkarte Russlands, den Ideen von humboldtian science entsprachen, erforderten viele Forschungsdaten, die von instruierten Beobachtern vor Ort gesammelt werden sollten. Doch die Angaben hingen stark vom Kenntnisstand dieser Beobachter ab und waren nicht von gleichem Wert. Die ‚Übersetzung‘ des ‚lokalen Wissens‘ in die Sprache der Wissenschaft stellte eine große Schwierigkeit bei der Zusammenfassung der Ergebnisse dar. Es gab aber auch das umgekehrte Problem: Um die Informationen zu sammeln, mussten die Berichterstatter ihre Aufgabe verstehen. Die Wissenschaftler hatten diese also in einer für die Beamten und Laienbeobachter verständlichen Form zu erklären. Auf diese Weise wurde gleichzeitig Wissen in breiten Kreisen des gebildeten Publikums popularisiert und weiteres Interesse in der russländischen Provinz (S. 107) stimuliert. Die Entstehung mehrerer Gesellschaften von Naturforschern an den Universitäten Ende der sechziger und die Initiativen der Zemstvos in den achtziger Jahren, die sich an den Bedürfnissen des jeweiligen Gouvernements orientierten, beeinflussten auch das Engagement der lokalen Wissenschaftler und der allgemein gebildeten Dilettanten bei der Erforschung der eigenen Region und somit bei der Produktion neuen Wissens (S. 170 ff.).
Der dritte Fragenkomplex betrifft die Beziehungen zwischen der „Wissenschaft“ (Biologen) und dem „Staat“ (Ministerien, lokale Administrationen). Die Vertreter der „Ministerialwissenschaft“ der dreißiger, vierziger und fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts orientierten sich bei der Konzeption der Forschungsprojekte sowohl an den Interessen des Imperiums als auch an aktuellen europäischen wissenschaftlichen Anschauungen und Forschungspraktiken (S. 117). Dieser Befund ist nicht neu und wurde von Loskutova bereits früher behandelt. (Marina Loskutova: „Svedenija o klimate, počve, obraze chozjajstva i gospodstvujuščich rastenijach dolžny byt’ sobrany …“ Prosveščennaja bjurokratija, gumboldtovskaja nauka i mestnoe znanie v Rossijskoj imperii vtoroj četverti XIX v., in: Ab Imperio (2012), 4, S. 111–156.) Die Beispiele aus den sechziger, siebziger und achtziger Jahren lassen darauf schließen, dass die Initiative und die aktive Lobbyarbeit für angewandte biologische Forschung vor allem von Biologen selbst, Zemstvos und (natur)wissenschaftlichen Gesellschaften ausgingen. Die Ergebnisse hingen nicht zuletzt von der Politik des jeweiligen Ministeriums ab (S. 126). Leider werden die Initiativen der gesellschaftlichen Institutionen und das Interesse der lokalen Gesellschaft an der Entwicklung der angewandten Forschung im Vergleich zu den (allgemein)staatlichen Maßnahmen weniger thematisiert. Das spannende Beispiel des Versuchs, die Pasteur’sche Methode der Milzbrandimpfung in Russland zu verbreiten, zeigt große diesbezügliche Meinungsverschiedenheiten sowohl in der Öffentlichkeit als auch in den Staatsbehörden und unter den Wissenschaftlern. Im Unterschied zu Ungarn, wo Pasteur die Herstellung der Impfstoffe gegen Milzbrand monopolisierte (Maurice Cassier: Producing, Controlling, and Stabilizing Pasteur’s Anthrax Vaccine: Creating a New Industry and a Health Market, in: Science in Context 21 (2008), 2, S. 253–278, hier S. 266–267), war die führende staatliche und wissenschaftliche Lobby in Russland nicht bereit, mit ihm unter seinen Bedingungen zu kooperieren. Der Misserfolg eines raschen Technologietransfers musste durch die spätere Unterstützung der interessierten Privatpersonen und Zemstvos ausgeglichen werden.
Die Fallbeispiele behandeln die erwähnten Fragenkomplexe nicht gleichmäßig in chronologischer Folge, doch sie geben Impulse für weitere Forschungen auf diesem Gebiet: Wer waren die Experten, die nicht nur im Dienste der staatlichen Behörden, sondern auch der Gesellschaft standen? Eine intensivere Auseinandersetzung mit der biologischen Gemeinde im Sinne der Vernetzung von wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Akteuren könnte auch gewinnbringend sein. Es wäre z. B. interessant, Näheres über die alternativen (Denk-)Richtungen in der Wissenschaftsgemeinde und ihren Einfluss auf die Entstehung der angewandten Forschung zu erfahren, was in den Aufsätzen nur flüchtig erwähnt wird (S. 135, 153). Der begrüßenswerte Band, dessen Beiträge auf reichen Archivquellen basieren, wird vor allem für diejenigen Historikerinnen und Historiker interessant sein, die sich mit dem Expertenwesen und der Wissensgeschichte beschäftigen.
Das zweite hier rezensierte Buch, die Dokumentenedition von Fedotova und Gončarov, ist der Geschichte des Büros für angewandte Botanik des Wissenschaftlichen Komitees der Hauptverwaltung für Landeinrichtung und Ackerbau Russlands während des Ersten Weltkriegs gewidmet. Das Büro befasste sich mit der Erforschung der Kultur- und Wildpflanzen Russlands sowie dem Anbau der wertvollsten von ihnen. Somit bestimmte es die staatliche Politik in der agrobotanischen Forschung im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts.
Im einleitenden Aufsatz zur Edition sind Leben und Werk des Leiters des Büros von 1905 bis 1920, des Botanikers und Gartenbautechnikers Robert Ėduardovič Regel’ (1867–1920), sowie die Organisation, die Struktur und die Forschungsrichtungen des Büros geschildert, wobei der Kriegszeit nur wenige Seiten gewidmet sind. Regel’ wird hier als Wissenschaftler und als Architekt einer staatlichen Politik der angewandten Botanik dargestellt. In den schwierigen Kriegsjahren gelang es ihm, das Büro in funktionsfähigem Zustand zu halten. Er hielt den Krieg für keinen so wichtigen Faktor, der Struktur und Tätigkeitsschwerpunkte des Büros verändern sollte, denn die Unterbrechung der Arbeit könnte zu schweren Verlusten für das ganze Land, vor allem zu Missernten, führen. Vielmehr sollte die staatliche Unterstützung der naturwissenschaftlichen und landwirtschaftlichen Forschungsprogramme des Büros der wirtschaftlichen Unabhängigkeit und dem Wohle Russlands dienen (S. 163, 207–208, 228).
Die Edition enthält Dokumente des Büros für angewandte Botanik, die im Staatlichen Historischen Archiv Russlands und im Zentralen Staatsarchiv der wissenschaftlich-technischen Dokumentation in St. Petersburg aufbewahrt werden. Die Tätigkeitsberichte des Büros, die Dokumente über dessen Finanzierung und Evakuierung, die Vorschläge zur „Mobilisierung pflanzlicher Ressourcen“, die Arbeitsnotizen über Dienstreisen der Büromitarbeiter u. ä. sind chronologisch geordnet. Insgesamt 41 edierte Dokumente schildern die Tätigkeit des Büros während des Kriegs sowie die Bemühungen Regel’s, den Mindestetat und die Finanzierung der von ihm geleiteten Einrichtung beizubehalten und mögliche Verluste im Fall einer Evakuierung aus St. Petersburg zu vermeiden. Hier soll erwähnt werden, dass die Weizen- und Gerste-Sammlungen des Büros damals als die weltgrößten galten (S. 227). Das umfangreichste Dokument, das die Hälfte des edierten Quellenkorpus umfasst, ist der Tätigkeitsbericht des Büros über den Zeitraum vom 27. Oktober 1914 bis zum 1. Juli 1917.
Leider erläutern die Herausgeberinnen und Herausgeber die Kriterien ihrer Dokumentenauswahl nicht und lassen Fragen offen: Wie groß ist der Gesamtumfang der Archivakten des Büros? Gibt es weitere unveröffentlichte Quellen, die dessen Tätigkeit in der Kriegszeit erhellen? Auch eine Kontextualisierung wäre hilfreich: War die Lage des Büros in den Kriegsjahren außergewöhnlich im Vergleich zu den anderen Institutionen der angewandten Forschung? Dennoch bieten die edierten und reichlich kommentierten Dokumente (Wissenschafts-)Historikerinnen und Historikern eine Basis für weitere Untersuchungen. Überdies erleichtern die Register von Personen und lateinischen Pflanzennamen sowie die Bibliografie die Arbeit mit dem Band.
Zitierweise: Oxana Kosenko über: M. V. Loskutova / A. A. Fedorova: Stanovlenie prikladnych biologičeskich issledovanij v Rossii. Vzaimodejstvie nauki i praktiki v XIX – načale XX vv. Otv. red. Ė. Kolčinskij. S.-Peterburg: Nestor-Istorija, 2014. 219 S. ISBN: 978-5-4469-0393-1. A. A. Fedorova / N. P. Gončarov: Bjuro po prikladnoj botanike v gody Pervoj mirovoj vojny. Sbornik dokumetov. Otv. red. Ė. Kolčinskij. S.-Peterburg: Nestor-Istorija, 2014. 267 S. ISBN: 978-5-4469-0392-4., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Kosenko_SR_Naturwissenschaften_Russland.html (Datum des Seitenbesuchs)
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