Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Hanna Kozińska-Witt

 

Zwi Helmut Steinitz: Meine deutsch-jüdische Kindheit im polnischen Posen. Erinnerungen eines Überlebenden und ein Wiedersehen nach 70 Jahren. 1927 – 1939 – 2009. Ed. by Erhard Roy Wiehn. Konstanz: Hartung-Gorre, 2015. 168 S., Abb. = Edition Shoáh & Judaica – Jewish Studies. ISBN: 978-3-86628-548-4.

Das hier besprochene Buch ist aus einer deutsch-israelischen privaten Versöhnungsinitia­tive entstanden. Den Erinnerungen ist ein kurzer Lebenslauf von Zwi Helmut Steinitz aus der Feder von Erhard Roy Wiehn vorgestellt.

Zwi Helmut Steinitz (geb. 1927) hatte über sein Überleben in der Shoah schon in mehreren Publikationen berichtet. Im neusten Buch erinnert er sich nostalgisch und wehmütig an sein kurzes Kinderparadies im Vorkriegs-Posen. Das Buch wird aus Mosaiksteinchen des Erinnerten gebaut, die sich manchmal wiederholen und zu keinem einheitlichen Panorama zusammenfügen – die stark eingeschränkte Perspektive des Kindes ließ  keine breite Kontextualisierung zu. Steinitzs Bericht ist eines der wenigen Zeugnisse eines deutschen Juden, der in der nunmehr polnischen Stadt geboren und eingeschult wurde. Während inzwischen mehrere Berichte von polnisch-jüdischen Posenern bekannt sind, bleibt das deutsch-jüdische Milieu in der Zwischenkriegszeit weiterhin fast unbekannt.

Steinitz aus Oberschlesien stammender Vater war ein Lehrer am deutschen Gymnasium in Posen. Seine beiden Söhne, Helmut und Rudolf, gehörten dort zu den wenigen jüdischen Schülern, denn die meisten jüdischen Kinder besuchten entweder die einzige jüdische Schule am Ort oder aber polnische Schulen. Der Vater, Freiwilliger im Ersten Weltkrieg, wurde nach dem Aufstieg der Nazis in Deutschland im Jahr 1936 zwar entlassen, bekam allerdings sogar über den Kriegsanfang hinaus regelmäßig seine Kriegsteilnehmerpension. Er wurde von seinem Vorgesetzten kurz nach dem Kriegsausbruch solange vor der Soldatenwillkür geschützt, wie dies möglich war. Die Kinder wurden erst nach der Machtübernahme von ihren deutschen Mitschülern ausgeschlossen und angefeindet. Allerdings konnten jüdische Schüler weiterhin ihre Ausbildung an der deutschen Schule fortsetzen; es gab sogar jüdischen Religionsunterricht (S. 63).

Anders als der deutsch-nationale Vater entstammte Steinitz Mutter einer jiddisch sprechenden orthodoxen Familie, die erst nach dem Ersten Weltkrieg aus dem östlichen Teil Polens nach Posen zugewandert war. Die Mutter hatte sich, mit den Worten des Autors, „vom traditionellen jüdischen Lebensweg entfernt, absolvierte das Gymnasium und machte Abitur“ (S. 22). Sie musste Deutsch erst lernen und konnte sich durch harte Akkulturationsarbeit zu einer beliebten Persönlichkeit der deutschen community in Posen empor arbeiten. Die Familie genoss einen bescheidenen sozialen Aufstieg, der sich in entsprechendem Wohnungswechsel und bürgerlichem Habitus widerspiegelte. Der Autor beschreibt Lektüren, Hausmusik, Freizeitvergnügen und Sommerfrische. Mehrmals erinnert er den Vater, der seiner Familie aus eigenen Frontbriefen vorlas oder aber von Kriegserlebnissen erzählte. Da die Familie fast vollkommen säkularisiert war, erfahren wir wenig über ihr religiöses Leben; nur über Pessachbrot und wenige Besuche in der Synagoge verliert der Verfasser knappe Worte (S. 90). Außer der Schule erwähnt er nur einen Ort der Begegnung des jüdisch-deutschen Stadtmilieus: die Konditorei Hirschlick (S. 94–95). Sehr interessant erinnert sich Steinitz an die Hilfsaktion für die aus Deutschland ausgesiedelten „polnischen Juden“ im Jahr 1938 (S. 107–110). Er skizziert die Flucht aus Posen nach dem Kriegsausbruch, die den Kindern die erste Begegnung mit den „Ostjuden“ bescherte.

Über die Nachbarschaft der Polen wird im Buch wenig berichtet, obwohl sowohl die Mutter als auch die beiden Jungs  Polnisch sprachen. Polen kommen in diesem Buch eigentlich nur in Person des gutmütigen Kindermädchens Viktoria und des Kinderarztes vor. Steinitz berichtet vom Antisemitismus, vor allem unter polnischen Studenten und von der verhängnisvollen Rolle der katholischen Kirche (S. 71–72, 74).

Im zweiten Teil geht der Verfasser auf seine Kriegs- und Gefangenschaftserlebnisse ein. Knapp erwähnt er sein Leben in Israel und in den Niederlanden. Das Buch endet  mit der Reise des Autors nach Posen im Jahr 2009, die von einem polnischen Team begleitet wurde. Während dieser bewegenden Reise in die Vergangenheit, die allerdings vollkommen von der Gegenwart überschattet schien, ergab sich auch ein Besuch in der alten Wohnung. Das Buch runden Photos ab, die u. a. eine Begegnung mit Joachim Gauck in Jerusalem 2012 und mit Frank-Walter Steinmeier im ehemaligen KZ Sachsenhausen im Jahr 2015, sowie auch die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an Zwi Helmut Steinitz dokumentieren.

Hanna Kozińska-Witt, Rostock

Zitierweise: Hanna Kozińska-Witt über: Zwi Helmut Steinitz: Meine deutsch-jüdische Kindheit im polnischen Posen. Erinnerungen eines Überlebenden und ein Wiedersehen nach 70 Jahren. 1927 – 1939 – 2009. Ed. by Erhard Roy Wiehn. Konstanz: Hartung-Gorre, 2015. 168 S., Abb. = Edition Shoáh & Judaica – Jewish Studies. ISBN: 978-3-86628-548-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Kozinska-Witt_Steinitz_Meine_deutsch-juedische_Kindheit.html (Datum des Seitenbesuchs)

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