Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 3 (2013), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Corinna Kuhr-Korolev

 

Ol’ga N. Ansberg / Aleksandr D. Margolis: Obščestvennaja žizn’ Leningrada v gody perestrojki 1985–1991. Sbornik materialov [Das gesellschaftliche Leben Leningrads während der Perestrojka 1985–1991. Sammelband]. Sost. O. N. Ansberg, A. D. Margolis. S.-Peterburg: Serebrjannyj vek, 2009. 781 S., zahlr. Abb. ISBN: 978-5-902238-60-7.

Teil 1 online zugänglich unter http://www.inop.ru/files/3_2_2008_79_1.pdf

Inhaltsverzeichnis: http://scans.hebis.de/22/05/76/22057629_toc.pdf

Auf einer Liste der aufschlussreichsten zehn Bücher zur Perestrojka dürfte dieser faszinierende Dokumentenband keinesfalls fehlen. Er ist das Ergebnis eines Projektes des wissenschaftlichen Informationszentrums „Memorial“ in Petersburg, das vom „Zentrum für unabhängige soziologische Studien“ unterstützt wurde. Alle Herausgeber haben selbst aktiv an der gesellschaftlichen Umgestaltung in der Ära Gorbačevs teilgenommen und setzen sich bis heute für die Stärkung der Zivilgesellschaft in Russland ein. Mit dem Buchprojekt verfolgen sie das Ziel, den Umbruch der Jahre 1985–1991 auf der Ebene der gesellschaftlichen Aktivitäten ausführlich darzustellen. Aus dem Vorwort geht zwar eindeutig die Zugehörigkeit der Autoren zum liberal-demokratischen ‚Lager‘ hervor, bei der Auswahl ihrer Materialien bemühten sie sich jedoch um die Berücksichtigung aller politischen Richtungen, die während der Perestrojka-Zeit in Leningrad den gesellschaftlichen Prozess mitbestimmten. So finden sich neben Stellungnahmen der Denkmalschutzbewegung oder der Umweltbewegung ebenso Manifeste der patriotischen Vereinigung „Pamjat’“. Ein ausführliches Interview mit Nina Andreeva, die in ihrem oft zitierten Artikel „Ich kann meine Prinzipien nicht verleugnen“ die Position der Reformgegner auf den Punkt zu bringen versuchte, ist ebenso abgedruckt wie ein Gespräch mit Marina Sal’e, einer der führenden Persönlichkeiten der demokratischen Bewegung in Leningrad. Die damals jugendlichen Aktivisten und „Neformaly“ kommen zu Wort wie auch ihre ‚Gegner‘, Komsomolzen oder KGB-Mitarbeiter, die versuchen sollten, die Stimmungen in der Bevölkerung zu beobachten und zu lenken.

Der Band ist zweigeteilt. Der erste Teil stellt eine ausgewählte und um Dokumente erweiterte Chronik der Perestrojka in Leningrad dar. Monat für Monat sind in chronologischer Reihenfolge wichtige Daten, die das ganze Land betrafen, aufgeführt; dazwischen finden sich, chronologisch und fett gekennzeichnet, die Leningrader Ereignisse eingefügt. Anhand der Menge der Einträge bekommt der Leser einen deutlichen Eindruck von der Dynamik, die der Prozess der Umgestaltung erst langsam und dann immer schneller entfaltete. Der chronologische Abriss für die Jahre 1985 und 1986 umfasst lediglich acht bis neun Seiten, für 1987 sind es 36 Seiten, für 1988 wächst die Seitenzahl auf 60 und für die Jahre 1989–1991 kommen jeweils zwischen 80 und 100 Seiten zusammen. Beim Lesen der Einträge und der Auszüge aus Manifesten, Zeitungsartikeln und Leserbriefen entsteht ein Gefühl, als sei man auf eine alte Dampflok aufgestiegen, die dann immer mehr an Fahrt gewinnt und schließlich auf ein unbekanntes Ziel losrast. Ein Zeitgenosse fasste es folgendermaßen zusammen: „Ja, ja, wir leben in einer erstaunlichen Zeit, für eine Umkehr ist es bereits zu spät, stehen bleiben kann man schon nicht mehr, um zur Seite zu treten gibt es weder Platz noch Zeit, man kann nur noch vorwärts …“ (S. 253, aus „Ogonek“, Nr. 18, 1990).

Die im zweiten Teil versammelten Erinnerungen und Interviews vermitteln dagegen den Eindruck, dass die Aktivisten von damals sich rückblickend immer noch über die grundlegenden Veränderungen wundern, die sie spontan mit angestoßen hatten. Sie beschreiben eindrücklich ihr Vortasten in den öffentlichen Raum, das Erstaunen angesichts des schwachen Widerstandes, der ihrem Treiben entgegengesetzt wurde, den Enthusiasmus und das plötzlich entstandenen Gemeinschaftsgefühl, das die ersten großen Meetings begleitete. Dann schildern sie aber auch das Chaos der demokratischen Gehversuche, die Abstimmungsschwierigkeiten zwischen einzelnen Gruppierungen, die Suche nach Leitfiguren, die wachsenden sozialen Probleme in der Stadt und das Unvermögen, diese in den Griff zu bekommen. Ebenso interessant sind die Erinnerungen ehemaliger Partei- und Komsomolmitglieder, die ungeachtet der Vorgänge im Land und in der Stadt weiterhin ihren Aufträgen nachkamen und nur langsam verstanden, dass sie versuchten, etwas von außen her zu schützen, was in sich selbst zusammenfiel.

Das vielfältige Material wird durch eine umfangreiche Sammlung von Kurzbiographien gesellschaftlich und politisch aktiver Leningrader im Anhang ergänzt. Diese Sammlung ermöglicht einen guten Überblick über die verschiedenen, schon vor der Perestrojka bestehenden Netzwerke und lässt die Milieus aufscheinen, in denen spätestens seit den 1960er Jahren ‚anders gedacht‘ wurde. Über 100 Fotografien, viele davon aus Privatarchiven, dokumentieren die ersten öffentlichen Protestaktionen der Jahre 1986 und 1987, die Vielzahl kleiner Meetings und Diskussionsrunden der folgenden Jahre sowie die Massendemonstrationen der Jahreswende 1990/1991. Sie zeigen, wie der Formalismus, der in der politischen Sphäre geherrscht hatte, von der lebendigen Improvisation abgelöst wurde: Gemalte Wahlplakate, provisorische Rednerbühnen, ungeordnete Zuhörerschaften und viele Männer mit Bärten und Rollkragenpullovern statt Bürokraten in grauen Anzügen und mit Aktentaschen.

Insgesamt vermittelt der Band gerade die emotionale und irrationale Seite der Perestrojka, als „sich für kurze Zeit in der geistigen Sphäre auf erstaunliche Weise der scherzhafte Wunsch realisieren ließ, ‚zu arbeiten wie im Sozialismus, aber zu leben wie im Kapitalismus‘“ (so die Herausgeber im Vorwort, S. 16). Gleichzeitig spürt man die Ängste der damaligen Zeitgenossen, denen ihre „Selbstermächtigung“ und die rasende Entwicklung, die sie in Gang gebracht hatten, manchmal selbst unheimlich zu werden schienen. Für eine Forschung zur Perestrojka und zur neueren Geschichte Russlands, die sich auf die (Um-)Deutung und Umsetzung politischer Konzepte in der Gesellschaft, auf Formen zivilgesellschaftlichen Engagements, auf Netzwerke, Lebenswege und Handlungsmotivationen von Bürgern konzentriert, bietet dieser Band reiches Material. Darüber hinaus ist das Werk der Petersburger Kollegen ein äußerst anregender Lesestoff.

Corinna Kuhr-Korolev, Berlin

Zitierweise: Corinna Kuhr-Korolev über: Ol’ga N. Ansberg / Aleksandr D. Margolis: Obščestvennaja žizn’ Leningrada v gody perestrojki 1985–1991. Sbornik materialov [Das gesellschaftliche Leben Leningrads während der Perestrojka 1985–1991. Sammelband]. Sost. O. N. Ansberg, A. D. Margolis]. S.-Peterburg: Serebrjannyj vek, 2009. 781 S., zahlr. Abb. ISBN: 978-5-902238-60-7, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Kuhr-Korolev_Obscestvennaja_zizn.html (Datum des Seitenbesuchs)

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