Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Eva Mäder

 

Rimma Galperina: Kak ėto bylo … Vyživanie, žizn, nadežda [Wie es war … Leben, Überleben, Hoffnung]. Minsk: Istoričeskaja masterskaja v Minske, 2012. 232 S., 72 Abb. ISBN: 978-985-6991-99-1.

„Allein die Bedeutung der Ereignisse, das Nichtsein der Nicht-Überlebenden in der schrecklichsten Tragödie der Menschheit verlieh mir die Kraft, mich an die Erinnerungsarbeit zu machen.“ Diese Zeilen stellte die heute in Minsk lebende Jüdin Rimma Galpe­ri­na ihren Erinnerungen voran. Galperina schildert darin, wie sie den Holocaust überlebt und wie dieser ihr ganzes weiteres Leben geprägt hat. In ihre Lebensgeschichte hat sie kurze Berichte zum Schicksal von Verwandten und Freunden während der deutschen Besetzung eingefügt; anschließend folgt ein von einer Minsker Historikerin verfasster knapper Überblick über den Holocaust in der Ukraine. Alle Texte liegen auf russisch wie auf deutsch vor.

Rimma Galperina wurde 1938 in Ananev im Gebiet Cherson geboren. 1926 zählte das Städtchen rund 18.000 Einwohner, darunter 3.500 Juden, die überwiegende Mehrheit von ihnen Handwerker. Hier fanden nach Galperinas Information zwischen 1821 und 1905 sechs Pogrome statt. Angst vor Verfolgung gehörte daher bereits vor 1941 zum Leben der jüdischen Bevölkerung. Da der Großvater die Deutschen jedoch im Ersten Weltkrieg als recht gesittete Besatzer erlebt hatte und nichts von den Judenverfolgungen im Dritten Reich wusste, hatte er sich darauf nicht vorbereitet. Der Versuch der Großeltern und der Mutter, sich mit der kleinen Rimma durch Flucht aus dem umkämpften Gebiet zu retten, scheiterte, worauf sie nach Ananev zurückkehrten. Der Kontakt zum Vater, der seit 1940 bei der Roten Armee diente, war abgebrochen.

Der Holocaust begann in der Ukraine mit Massenerschießungen, so auch in Ananev. Um Panik zu verhindern, erzählte man den Juden, darunter auch beiden Frauen, dass sie mit Rimma zu einer „Versammlung“ gehen müssten. Ein Polizist warnte den Großvater, und dieser erwirkte über den Polizeikommandanten die Freilassung der Frauen mit der Begründung, dass diese als Näherinnen für Armeeuniformen benötigt wurden. In der Hoffnung, Rimma dadurch zu schützen, ließ die Mutter sie taufen, wobei der Priester gleich auch Taufpate wurde. Die Gefahr der Erschießung oder Deportation blieb aber, weshalb die Familie die Stadt verließ, von Dorf zu Dorf zog, von den Bauern versteckt wurde und dafür Kleider nähte.

Der Text lässt offen, wie die Familie schließlich in das im Kolchos von Domanevka eingerichtete Ghetto gekommen ist. Rimma Galperinas Bericht beruht auf den Erinnerungen des Großvaters. Diesen belastete das Erzählen darüber jedoch so stark, dass dies selten geschah. Zur Ergänzung der Lücken hat die Autorin Archivdokumente beigefügt, die den Aufenthalt der Familie im Ghetto in der ersten Hälfte von 1943 bezeugen. Das Lager lag in dem zu Rumänien geschlagenen Gebiet zwischen Dnestr und Bug. Bewacht von rumänischen Soldaten, umzäunt von Stacheldraht und inmitten der Steppe, war Flucht unmöglich. Die hier inhaftierten Juden und Zigeuner erhielten als Nahrung täglich nur 200 Gramm Brot und die Schalen ausgepresster Kerne. In den ehemaligen Pferdeboxen lebten zwei bis drei Familien, alle litten unter Läusen und Krätze. Unterernährt, krank und zu schwerer Feldarbeit gezwungen, starben laut Archivangabe rund 20.000 Menschen. Erneut erleichterten die Fähigkeiten des Großvaters als Schneider der Familie das Leben – sie arbeiteten tagsüber in der Werkstatt und kamen so mit den zugeteilten Nahrungsrationen besser durch.

In der Märzoffensive 1944 befreite die Rote Armee die Südukraine, am 28. März das Ghetto Domanevka. Die Familie kehrte zurück nach Ananev, wo die Mutter drei Monate später an den Folgen ihrer Nierenkrankheit starb. Unterernährt und schwach, schwebte auch Rimma lange zwischen Tod und Leben und träumte, wie sie von der toten Mutter bedrohlich lockend zu sich gerufen wurde.

Der Vater kehrte aus seinem Dienst in der Roten Armee zurück, lebte jedoch nicht mehr bei der Tochter und den Schwiegereltern, sondern baute sich in Kujbyšev an der Wolga eine neue Existenz auf. Beim Studium in Kujbyšev lernte Rimma Galperina die Familie ihres zukünftigen Mannes kennen, ebenfalls Juden, und gelangte so durch Heirat nach Minsk, wo sie seit 1959 lebt. Im zweiten Teil des Buches berichtet sie, wie die Mitglieder ihrer neuen Familie den Krieg überlebt haben. Die Schwiegereltern arbeiteten bis im Juni 1941 in der Minsker Lederfabrik, die beiden Söhne wurden mit ihrem Kindergarten nach Gorkij evakuiert. Die Mutter konnte sich anschließen, der Vater überlebte den Krieg als Soldat der Roten Armee, alle übrigen Familienmitgliedern starben jedoch in den Ghettos von Minsk und Smiloviči. Rimmas Schwiegertochter wuchs als Tochter eines Baptisten auf, der den Gulag überlebt hatte und danach zu seiner Familie in das von Wäldern umgebene Dorf Suchaja Milja zurückkehrte. Dieses wurde 1942 bei einer Strafaktion gegen Partisanen von der Wehrmacht, zusammen mit allen männlichen Dorfbewohnern, verbrannt. Die Eltern und Schwestern des Schwiegersohns wurden zusammen mit den andern Juden des Dorfes Usljana erschossen.

Laut Rimma Galperina beruht die Identität der sowjetischen Juden auf diesen Erfahrungen der Verfolgung und des Antisemitismus. Zur Sprache, Kultur und Religion hingegen hätten die meisten den Zugang verloren. Am Ende des Buches erwähnt sie die Einrichtungen, welche heute die schon fast abgestorbenen jüdischen Wurzeln wieder stärken. In Minsk gibt es eine jüdische Schule, an den jüdischen Feiertagen wird im Staatsfernsehen gratuliert und in der Geschichtswerkstatt sammelt und veröffentlicht man wie beim vorliegenden Buch die Lebensgeschichten der Holocaust-Überlebenden. Dadurch wird sicher gestellt, dass zumindest die Erinnerung bleibt. Denn, schreibt Galperina im eingangs zitierten Gedicht weiter: „Die Zeit nimmt unerbittlich die letzten Zeugen.“

Eva Mäder, Winterthur

Zitierweise: Eva Mäder über: Rimma Gal’perina: Kak ėto bylo … Vyživanie, žizn’, nadežda [Wie es war … Leben, Überleben, Hoffnung]. Minsk: Istoričeskaja masterskaja v Minske, 2012. 232 S., 72 Abb. ISBN: 978-985-6991-99-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Maeder_Galperina_Kak_eto_bylo.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2016 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Eva Mäder. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.