Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Eva Mäder

 

Laura J. Olson / Svetlana Adonyeva: The Worlds of Russian Village Women. Tradition, Transgression, Compromise. Madison, WI, London: University of Wisconsin Press, 2012. XIII, 368 S., 12 Abb. ISBN: 978-0-299-29034-4.

„Die Welten der russischen Dorffrauen. Tradition, Transgression, Kompromiss“. Jedes Wort im Titel der preisgekrönten Monographie von Laura Olson und Svetlana Adoneva ist Programm. „Welt“ steht nicht im enzyklopädischen Sinn, sondern als nur subjektiv existierende, über Sprache geschaffene Umgebung. „Dorf“, weil wohl nur noch 25 Prozent der russischen Bevölkerung auf dem Land leben, doch gemäß den Autorinnen die Mentalität aller Russinnen und Russen noch stark bäuerlich geprägt ist. „Frauen“, weil das Geschlecht die soziale Stellung einer Person stark mitbestimmt und weil die Autorinnen ihren Informantinnen von gleich zu gleich begegnen wollten und daher auf männliche Interviewpartner verzichtet haben. Dementsprechend thematisieren sie ihre eigene Subjektivität und legen offen, dass Ethnographen Folklore weniger sammeln als durch die Niederschrift erst schaffen.

Verbunden mit dem konstruktivistischen Ansatz der Autorinnen ist ihre Leitfrage: Wie bauen Individuen die Beziehung zu ihrer Kultur auf? Die drei Begriffe im Untertitel grenzen das Thema genauer ein: als „Tradition“ definieren die Autorinnen das von der Vergangenheit an die Gegenwart Überlieferte. „Transgression“ ist das Überschreiten des Erlaubten, wie es zum Beispiel während der Maslenica (Karneval) geschieht. Damit wird aber auch an die im Alltag geltenden Regeln erinnert und der Zusammenhalt der Gemeinschaft gestärkt. „Kompromiss“ schließlich bezeichnet die Vermittlung zwischen beiden Gegensätzen.

Im ersten, historiografischen Kapitel stellen die Autorinnen dar, wie im 19. Jahrhundert einerseits Folkloreforscher Frauen für weniger wortgewandt als Männer hielten, weil sie sich scheuten, vor Fremden aufzutreten. Als sich herausstellte, wie meisterhaft einzelne Erzählerinnen die verschiedenen Genres beherrschten, wurden sie andererseits zu den Bewahrerinnen des mündlichen Erzählschatzes stilisiert.

Im zweiten Kapitel stellen Adoneva und Olson als Modell die vier bzw. fünf Phasen vor, in die sich die Biografien von Dorfbewohnerinnen unterteilen lassen. Die Übergänge werden jeweils durch „rites de passage“ markiert und sind mit einem Statuswechsel verbunden. Wohl reduziert sich mit jeder zusätzlichen Lebensphase die Freiheit, dafür wächst das soziale Ansehen. Bei den Frauen leitet auch die Geburt des ersten Kindes eine neue Lebensphase ein. Sie gehört nun zu den „Weibern“, während die Vaterschaft den Männern nicht zu einem neuen Status verhilft. Dies erklärt die zusätzliche Phase im Leben von Frauen. Wenn die Frau ihre Schwiegermutter als Haushaltsvorsteherin ablöst, wird sie zur „Großen(bol'šucha) und letztere zur „Alten“ (starucha). Als bolšucha steht die Frau auf dem Höhepunkt ihrer Macht – die Verantwortung und Arbeit, die mit der Sorge um Familie, Haus und Garten verbunden sind, bilden die Kehrseite davon.

Die exemplarisch dargestellten Lebensphasen bilden die Grundlage für die Auswertung von Lebensgeschichten, welche die beiden Autorinnen beim Besuch nordrussischer Dörfer selbst festgehalten oder den Notizen anderer Folkloreforscher entnommen haben. Um besser feststellen zu können, was sich verändert hat, haben Adoneva und Olson ihre Gesprächspartnerinnen je nach Geburtsjahr drei Generationen zugeteilt (vor 1917, vor 1929 und vor 1950 geborene Frauen). In sieben Kapiteln zu jeweils einer rituellen Handlung erklären sie, wie die Frauen diese beibehalten haben, manchmal gegen den Widerstand der sowjetischen Behörden. Dabei begleiten sie die Frauen von der Heirat im dritten Kapitel bis zur Beziehung zum Tod und den Toten im neunten Kapitel durchs ganze Leben.

Olson begann 1995 mit Recherchen zur Gesangskultur auf dem russischen Dorf, Adoneva arbeitet als Folkloreforscherin an der staatlichen Universität von Sankt Petersburg. Daher wirkt es symbolisch, dass die beiden Kapitel zu den Romanzen – dem von Dorffrauen am häufigsten gesungenen Liedtyp – und den Častuški (vierstrophiger Scherzgesang) in der Mitte des Buches liegen. Ein Teil des Repertoires bestand aus den übernommenen offiziellen, wenig kritischen Častuški. Die selbst erfundenen Texte dagegen greifen erstaunlich direkt die sexuellen, politischen oder sozialen Verhältnisse an, unterhalten durch ihren Witz und verhelfen den Autorinnen zu sozialem Kapital.

Im sechsten Kapitel geht es um das magische Wissen, das Dorffrauen in Verbindung mit der ersten Schwangerschaft erworben haben und immer noch erwerben. Wesentlich dazu gehört der Schutz vor dem „bösen Blick“, verstanden als unwillentlich übertragene Energie, die zu sonderbaren Schmerzen und Blockaden führt. Die Vertreterinnen der jüngsten untersuchten Generation wandten sich bei der Suche um Hilfe eher an die eigenen Mütter als die Schwiegermütter, da letztere beim Kampf um die Rolle als Haushaltsvorsteherin Rivalinnen sein konnten. Die Bolšuchi wissen, wer im Dorf heilen, mit „guter“ Magie die Wirkung des „bösen Blicks“ aufheben kann.

Der bewusst erzeugte Schadenzauber bildet das Thema des siebten Kapitels, wobei sich nicht in jedem Fall klar sagen lässt, ob der Verursacher ahnungslos oder absichtlich gehandelt hat. Ebenfalls kann man sowohl Sprüche gegen den „bösen Blick“ wie gegen Schadenzauber als performative Sprechakte klassifizieren, welche die Realität durch Sprache erst erzeugen. Verfluchungen bilden gemäß den Vertretern der Sprechakttheorie „in Jahrhunderten geschliffene Juwelen der sozialen Poetik, die Leidenschaften legitimieren, indem sie sie zum Teil der Kultur erklären“.

Im achten Kapitel über die Beziehung zur anderen Welt haben die Autorinnen Bylički, Alltagsgeschichten, ausgewertet. Im Gegensatz zu anderen Forschern bilden diese in ihren Augen nicht Beweis für den Glauben an die Existenz von Geistern, sondern informieren vielmehr über die Beziehung, welche die Frauen zu diesen pflegen.

Die Erinnerung an die Toten, der das letzte Kapitel gilt, ist der einzige Bereich der Tradition, der ausschließlich von Frauen gepflegt und vermittelt wird. Mit regelmäßigem, rituell geregeltem Totengedenken schaffen sie eine symbolische Unsterblichkeit und helfen im Umgang mit dem Tod. Der ständige Kontakt mit den Vorfahren bildet außerdem die Voraussetzung für das Wohl der Familie, mit dem die Bolšucha beauftragt ist. Das Festhalten an der Tradition besitzt also eine wichtige Funktion für die Gegenwart, weshalb man annehmen kann, dass am Totengedenken in Russland sich auch in der näheren Zukunft nichts ändern wird.

Die Darstellung der Rituale im Leben einer Dorffrau führt zur Beantwortung der Leitfrage: Traditionen werden fortgeführt, weil sie in der jeweiligen Lebensphase Sinn machen. So klagten die Vertreterinnen aller drei untersuchten Generationen während ihrer Heirat mit dem überlieferten Sprechgesang über den Verlust der Freiheit und lernten mit der Schwangerschaft das magische Wissen zum Schutz der Kinder kennen. Gegen die Tradition wurde und wird aber auch verstoßen, weil die Rebellion in bestimmten Lebensphasen der wichtigere „Skript“ (Handlungsanweisung) sein kann, oder weil die durch die Tradition vermittelte Macht, aber nicht unbedingt die Tradition selbst angestrebt wird. Dies zeigt sich am besten bei den Vertreterinnen der jüngsten Generation, die ihre Schwiegermutter dazu trieben, ihnen die Rolle als Bolšucha zu überlassen. Zum Kompromiss kommt es schließlich bei jeder Interaktion mit der Tradition, weil, so die Autorinnen, niemand perfekt für die Tradition geeignet ist und diese doch flexibel genug ist, um alle sozialen Handlungen zu umfassen.

Eva Mäder, Winterthur

 

Zitierweise: Eva Mäder über: Laura J. Olson / Svetlana Adonyeva: The Worlds of Russian Village Women. Tradition, Transgression, Compromise. Madison, WI, London: University of Wisconsin Press, 2012. XIII, 368 S., 12 Abb. ISBN: 978-0-299-29034-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Maeder_Olson_The_Worlds_of_Russian_Village_Women.html (Datum des Seitenbesuchs)

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