Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Stephan Merl

 

Gilles Favarel-Garrigues: Policing Economic Crime in Russia. From Soviet Planned Economy to Privatisation. Translated by Roger Leverdier. London: C. Hurst & Co. Publishers, 2011. VII, 304 S. = Comparative Politics and International Studies Series. ISBN: 978-1-84904-065-5.

Inhaltsverzeichnis:

http://bvbr.bib-bvb.de:8991/exlibris/aleph/a21_1/apache_media/T7631R7UVYM432CXBB25KLC5DNIAPP.pdf

 

Die Studie greift eine zentrale Frage zur Beurteilung des Transformationsprozesses in Russland auf. Obwohl man annehmen sollte, dass die Privatisierung der staatlichen Betriebe sowie der Übergang von der Kommandowirtschaft zur Marktwirtschaft von einem vollständigen Paradigmenwechsel in den Vorstellungen von Wirtschaftskriminalität begleitet gewesen wäre, führt Gilles Favarel-Garrigues [F.-G.] den Nachweis, dass dieser ausblieb. Die gesetzlichen Bestimmungen über Wirtschaftskriminalität blieben vage. Die Strafpolitik orientierte sich weiter am sowjetischen Modell. Wie ist diese überraschende Kontinuität zu erklären? Stellten die Strafverfolgungsorgane ihr Verhalten nicht um, weil ihnen die Kompetenz fehlte, die mit der Privatisierung verbundenen neuen Formen der Wirtschaftskriminalität zu bekämpfen, oder handelten sie auf Anweisung der Regierung? F.-G. lenkt bei der Beantwortung den Blick auf die herrschaftslegitimierende Rolle, die der Inszenierung des Kampfes der politischen Führung gegen die Wirtschaftskriminalität zukam (S. 38–42, 61).

Um überhaupt Aussagen über mögliche Veränderungen während des Transformationsprozesses machen zu können, nimmt F.-G. den gesamten Zeitraum von 1965 bis 1995 in den Blick. Die zentrale Perspektive ergänzt er durch eine Lokalstudie für die Oblast’ Sverdlovsk. Das erlaubt ihm auch zu untersuchen, wie der Polizeiapparat vor Ort funktionierte und in welchem Maße zentrale Kampagnen umgesetzt wurden. Die Studie gliedert sich in drei Teile. Zunächst werden das sowjetische Verständnis von Wirtschaftskriminalität und dasManagementihrer Bekämpfung zwischen 1965 und 1985 behandelt. Im zweiten Teil geht es um die Auswirkungen von Perestrojka und Glasnost’ auf das Verständnis von Wirtschaftskriminalität und deren Bekämpfung auf zentraler Ebene. Im dritten Teil stehen der Privatisierungsprozess und die Frage, warum gegen kriminelle Formen bei der Umverteilung des Eigentums kaum eingeschritten wurde, unter Einbeziehung auch der lokalen Strafpraxis, im Vordergrund. Abschließend wird ein Bezug zu Putins Handeln hergestellt.

Wirtschaftskriminalität erweist sich nicht nur bezogen auf Russland als schwer zu definierendes und noch viel schwerer nachzuweisendes Delikt. Ähnlich wie die Korruption basiert sie vielfach auf Handlungen im Verborgenen, die kaum aufdeckbar sind, weil alle Beteiligten von ihnen profitieren. (Noch heute ist in Deutschland strittig, was verwerflicher ist, die Wirtschaftskriminalität selbst oder ihre Bekämpfung, die sich auf illegal beschaffte Beweise stützen muss.) Im Folgenden seien einige Ergebnisse dieser grundlegenden Studie festgehalten.

Die sowjetische Konzeption sah Wirtschaftskriminalität als Relikt von Ausbeutung und überholten kapitalistischen Verhältnissen und mithin als der eigenen Ordnung fremd an. Als Gründe der Kriminalität galten moralische Schwächen des Einzelnen, Mängel der Bewachung und Kontrolle sowie die nachlässige Auswahl des Personals. Die Erklärungen dienten mithin vor allem zur Ablenkung von den eigentlichen, in der Wirtschaftsordnung der Sowjetunion liegenden Ursachen und erlaubten zudem, die Hauptverantwortung für die Fortexistenz der Verbrechen der unzureichenden Arbeit der Polizei zuzuschieben (S. 70–98). Die Gesetze legten nur sehr vage fest, was als Wirtschaftskriminalität anzusehen war. Das ließ der Politik und den Organen der Rechtsdurchsetzung einen großen Spielraum. Die meisten Delikte fielen in den Bereich der Schattenwirtschaft. Da diese für das Funktionieren der offiziellen Wirtschaft unentbehrlich war, konnte sie ohne Schaden für das Gesamtsystem nicht bekämpft werden. Die Funktionäre von Partei und Staat sowie die Organe der Gesetzesdurchsetzung stellten sich blind gegenüber Praktiken, die für das Überleben des Regimes erforderlich waren (S. 38–39). Bestraft wurde durchweg nur selektiv. Da fast jeder gegen Normen verstieß, fiel die Entscheidung, wer bestraft wurde, willkürlich.

Rechtblieb also auch bezüglich der Wirtschaftskriminalität in Russland eine Ressource derMacht, die diese opportunistisch nutzte (S. 51–52). Die Organe der Rechtsdurchsetzung hatten die Anweisungen des Staates zu befolgen. Sie wurden vor allem im Rahmen der zentralen Kampagnen tätig, die dem Volk die Illusion, Verbrechen würden aktiv bekämpft, vermitteln sollten. Als Erfolgsindikator für polizeiliches Handeln galt eine hohe Zahl von belangten Delinquenten. Eben das eröffnete der Polizei vor Ort aber auch einen Handlungsspielraum. Sie konnte entscheiden, wen sie zur Rechenschaft ziehen wollte. Ihre Aufgabe erfüllte sie auch durch die Verhaftung einer großen Zahl kleiner Diebe und die Ahndung von Bagatelldelikten. Die schwerer nachweisbaren und bei der Verfolgung für die eigene Stellung mit einem unkalkulierbaren Risiko verbundenen kriminellen Aktivitäten der lokalen Elitenübersahdie Polizei gern. Der enorme Aufwand, der mit der Mobilisierung von Personal während einer Kampagne betrieben wurde, täuscht darüber hinweg, dass die Kampagnen zur Ausmerzung der Wirtschaftskriminalität nicht taugten. Die Polizei ahndete vor allem, was einfach aufzudecken war, egal ob es überhaupt größeren Schaden verursachte.

Der politischen Führung diente der Kampf gegen Wirtschaftskriminalität vorrangig zur Legitimation ihrer Herrschaft. So startete jeder neue Generalsekretär eine Kampagne (S. 60). Der Kohärenz der Maßnahmen kam dabei keine Bedeutung zu. DerKampforientierte sich auch nach 1985 weiter an den der Bevölkerung vertrauten und weitgehend von ihr akzeptierten Stereotypen der Sowjetzeit. Er sollte durch die Präsentation von Sündenböcken für die sich verschärfenden Versorgungsmängel entschiedenes Handeln und das Eintreten für soziale Gerechtigkeit vorspiegeln. Die rechtliche Lenkung der Wirtschaftsreform oder der Privatisierung spielten dabei keine Rolle. Die grundlegende Verwirrung über Begriffe, wobei etwa Unternehmer, die aus der Schattenwirtschaft hervorgingen, pauschal als Kriminelle galten, wurde nicht beseitigt (S. 125 ff.). Gorbačevs und Jelzins populistischer Kampf gegen dieVerursacherder Versorgungsengpässe konterkarierte die gleichzeitige Implementierung einer Reformpolitik. So startete Gorbačev zunächst eine Kampagne gegennichtwerktätige Einkommen. Bis 1991 wurde immer wieder das parasitäre Abschöpfen von Gewinnen durch Spekulation und Wucher als Hauptursache allen Übels angeprangert. Das Ende 1986 im Rahmen der Wirtschaftsreform erlassene Gesetz zur Förderung der individuellen Arbeitsaktivität irritierte auch die Strafverfolgungsbehörden, weil sich Einkommen daraus kaum vonnicht­werktätigem Einkommenunterscheiden ließ. Mit der anschließenden Propagierung der Gründung von Genossenschaften wurde dieser Widerspruch noch verschärft. Sie galten schnell als Hort der Spekulation (S. 99; 103–175).

Der Verzicht auf die zentrale Kontrolle der öffentlichen Kommunikation und der Medien bewirkte keineswegs eine Demokratisierung des Diskurses über Wirtschaftskriminalität. Vielmehr dominierten weiterhin die vertrauten sowjetischen Stereotype. Glasnost’ machte das Verbrechen plötzlich sichtbar. Das in der Berichterstattung deutlich werdende Ausmaß der Kriminalität verunsicherte die Bevölkerung zutiefst. SelbsternannteSpezialistenbegannen, die Phänomene in den Medien zu erklären. Mit ihren Halbwahrheiten trugen sie letztlich dazu bei, den Kampf spektakulär und massenwirksam auf mafiöse Strukturen und gewaltbereite Kriminelle zu lenken, die korrupte Beziehungen zu dem lokalen Staatsapparat unterhielten. Die Politik griff das gerne auf, um Entschlossenheit zu demonstrieren, und startete einen Kampf gegen dasorganisierte Verbrechen(S. 155–175). Im realen Kampf vor Ort war das wenig hilfreich. Die Strafverfolgungsorgane verhafteten nach sowjetischem Muster massenhaft Kleinkriminelle, denen sie unterstellten, in Gruppen zu arbeiten, so dass sie alsorganisierte Kriminelleregistriert wurden. Die eigentliche Kriminalität im Schatten der Privatisierung beachteten sie dagegen nicht. Für ihre Bekämpfung waren sie weder geschult noch verfügten sie dafür über die hinreichenden Mittel. Unzufrieden über die Arbeitsbedingungen und das ihnen von der Gesellschaft entgegengebrachte Misstrauen quittierten gerade qualifizierte Offiziere den Dienst und ließen sich von privaten Sicherheitsdiensten anheuern, um das Privatkapital vor Verfolgung zu schützen. Die Kampagne gegenorganisierte Kriminalitättrug somit nach Ansicht von F.-G. zur Irreführung der Öffentlichkeit und zur Unterlassung des Kampfs gegen die Wirtschaftskriminalität bei der Privatisierung bei. Die Elite von Partei, Verwaltung und Wirtschaft konnten die eigentlichen Werte im Privatisierungsprozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit in Ruhe auf Basis vonInsiderwissenunter sich verschieben. Das Fehlen von brutaler Gewalt und Bandentum ließ diesen Betrug nicht in den Geruch von Wirtschaftskriminalität geraten. Zudem waren daran gerade die Personen beteiligt, die lokal Befehlsgewalt über die Organe der Strafverfolgung ausübten.

Das Bild, die Polizei habe nur Befehle von oben befolgt, widerlegt F.-G. Die Undurchführbarkeit der Anweisungen mit ihren personellen und materiellen Ressourcen eröffnete den lokalen Organen einen Spielraum. Dieser gewann während der Perestrojka-Zeit eine neue Qualität. Die Kritik am Zentrum wegen des Versagens bei der Bekämpfung der Kriminalität verschaffte den Gebietsleitungen größere Unabhängigkeit. Die Verschlechterung der Beziehungen zwischen Zentrum und Regionen stärkte die Verbindung zwischen den lokalen Polizeichefs und den regionalen politischen Führern. Das erlaubte den Gouverneuren, zunehmend eigene wirtschaftliche und Wahlinteressen durchzusetzen (S. 250–251). Einige bemühten sich, Pioniere bei der Privatisierung zu sein. Entsprechend desinteressiert waren sie an der Verfolgung von Kriminalität, die sich mit den neuen Unternehmensformen verband. In der Praxis war alles erlaubt, was nicht ausdrücklich verboten wurde. Die Polizei wurde angehalten, nachlässig gegenüber neuen Unternehmensformen vorzugehen (S. 224–225). F.-G. stellt fest, dass die lokalen Führer, gestützt auf die Organe der Rechtsdurchsetzung, das staatliche Monopol zur Gewaltanwendung nicht weniger herausforderten als dasorganisierte Verbrechen(S. 257). Das machte es notwendig, die zentrale Kontrolle über Kriminaluntersuchungen zurückzugewinnen.

Wir sind F.-G. zu großem Dank verpflichtet, dass er dieses sperrige, scheinbar nur für den Spezialisten interessante und für diesen Zeitraum bisher nicht untersuchte Thema angesichts des offensichtlichen Quellenproblems anpackt. Er macht deutlich, dass es von zentraler Bedeutung für das Verständnis ist, warum der wirtschaftliche und politische Transformationsprozess in Russland bedingt scheiterte. Er weist nach, dass die Definitionshoheit über Wirtschaftskriminalität auch nach der Privatisierung weiter als wertvolle politische Ressource genutzt wurde. Die Regierung versuchte noch immer, der Geschäftswelt ihre Regeln zu diktieren, und nutzte dabei die rechtliche Verwundbarkeit der Unternehmer. Der Kampf gegen dasorganisierte Verbrechenund anschließend gegenökonomische Sabotagezielte vor allem auf die Kontrolle der privaten Unternehmer. Die Kriminalisierung der Wirtschaft und das Rufen nach staatlichen Repressionen in der öffentlichen Rhetorik blieb ein Hauptmittel der politischen Legitimation. Putin betrieb die Rezentralisierung der Rechtsdurchsetzung und beseitigte die zeitweilige Eigenständigkeit der Gouverneure. Er legitimierte sein Handeln als Wiederherstellung von Ordnung. Die Kategorien der Wirtschaftskriminalität sind weiter so vage definiert wie zur Sowjetzeit:Fixing the border between ,clean and ,dirty money – that is, managing the distinction between delinquency and economic illegalities – remains a permanent key feature of political power in post-Soviet Russia.(S. 260)

Stephan Merl, Bielefeld

Zitierweise: Stephan Merl über: Gilles Favarel-Garrigues: Policing Economic Crime in Russia. From Soviet Planned Economy to Privatisation. Translated by Roger Leverdier. London: C. Hurst & Co. Publishers, 2011. VII, 304 S. = Comparative Politics and International Studies Series. ISBN: 978-1-84904-065-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Merl_Favarel-Garrigues_Policing_Economic_Crime.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2014 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Stephan Merl. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.