Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Olaf Mertelsmann

 

Stadtgeschichte des Baltikums oder baltische Stadtgeschichte? Annäherungen an ein neues Forschungsfeld zur baltischen Geschichte. Hrsg. von Heidi Hein-Kircher / Ilgvars Misāns. 2., überarb. u. erw. Aufl. Marburg/Lahn: Herder-Institut, 2016. VI, 219 S. = Tagungen zur Ostmitteleuropaforschung, 33. ISBN: 978-3-87969-406-8.

Inhaltsverzeichnis:

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Dieser aus einer Tagung in Riga 2012 hervorgegangene Sammelband leistet eine insgesamt gelungene Einführung in das Thema der urbanen Geschichte des Baltikums. Es ist allerdings schade, dass die zwölf Beiträge alle ohne Illustrationen daherkommen. Stadtgeschichte floriert heutzutage, doch dass es sich um ein neues Forschungsgebiet in der baltischen Geschichte handelt, wie der Titel suggeriert, wagt der Rezensent zu bezweifeln. Ein Blick in die Aufsätze zeigt, dass bereits im 19. Jahrhundert viel dazu gearbeitet wurde. Auch die Frage nach einer spezifischen baltischen Stadtgeschichte nehmen die Herausgeber in ihrer Einleitung wegen der besonderen Entwicklung des litauischen Gebiets im Vergleich zum estnischen und lettischen gleich wieder zurück (S. 12).

Ein wenig zu kritisieren gibt es bei der Form. Die sechs deutschsprachigen Beiträge sind sprachlich korrekt, aber die sechs englischsprachigen klingen etwas holprig und nicht idiomatisch, was die Lektüre manchmal erschwert. Offenbar wurde hier an einer Korrektur durch einen Muttersprachler gespart. Die Frage der Ortsnamen ist uneinheitlich gelöst, mal werden die deutschsprachigen gewählt, mal die landessprachlichen. Da auch ein mehrsprachiges Ortsnamensverzeichnis und entsprechende Karten fehlen, kann dies beim Leser leicht zu mangelnder Orientierung oder Missverständnissen führen.

Wie meist bei einem Sammelband ist die Qualität der Beiträge nicht einheitlich. Fünf Aufsätze werden im ersten Teil Zur Historiographie der Stadtgeschichtsschreibung angeführt, sechs im zweiten, Ansätze und Perspektiven der baltischen Stadtgeschichtsschreibung, wobei auffällt, dass auch im zweiten Teil der Historiographie erheblicher Raum gewidmet wird. Hierbei handelt es sich um ein Schwerpunktthema des Bandes, eine Bestandsaufnahme der Forschung. Dies stellt wahrscheinlich auch den wichtigsten Wert für den Leser dar. Wer sich in das Thema einarbeiten möchte, dem bietet der Band einen hervorragenden Ausgangspunkt.

Die Einleitung der Herausgeber ist gut gelungen. Es wird auf das Florieren der Stadtgeschichte besonders in Westeuropa verwiesen, auf die Diskrepanz zur östlichen Hälfte des Kontinents und auf das Fehlen von Studien zur typischen ostmitteleuropäischen oder baltischen Stadt. Die Autoren geben einen, knappen, jedoch fundierten Überblick über den Forschungsstand. Warum aber die deutschsprachigen Zuwanderer, die sich in ostmitteleuropäischen Stadtgründungen ansiedelten, „aus dem westlichen Europa“ stammten (S. 9), bleibt ein kleines Rätsel. Denn meiner Meinung nach liegt und lag Deutschland eher in Mitteleuropa. Heidi Hein-Kircher setzt sich im folgenden Beitrag sehr gründlich mit der Stadtgeschichte im Rahmen der heutigen Ostmitteleuropaforschung auseinander.

Roman Czaja referiert über Stadtgeschichtsforschung in Polen. Wer mit der polnischen Historiographie nicht gut vertraut ist, wundert sich, wie umfangreich schon im 19. Jahrhundert geforscht wurde. Allerdings stellt sich die Frage, warum Polen in einem Band zur Stadtgeschichte im Baltikum vertreten ist, aber ein Beitrag zur Historiographie für Litauen fehlt. Juhan Kreem bietet einen kenntnisreichen Aufsatz zur Stadtgeschichte in Estland, doch bei ihm, wie auch beim folgenden, ebenso fundierten Artikel von Ilgvars Misāns über Lettland, hätte vielleicht noch etwas mehr Raum für die Arbeiten von deutschbaltischen Historikern vor dem Ersten Weltkrieg zur Verfügung gestellt werden können. Kreem weist korrekt daraufhin, dass in Estland eine institutionalisierte Stadtgeschichte mit einem eigenen Lehrstuhl fehlt, allerdings gibt es mehrere Museen zur Stadtgeschichte und das Tallinner Stadtarchiv, wo auch geforscht wird. Laut Misāns mangelt es auch in Lettland an einer Etablierung des Fachs. Als bemerkenswert erscheint, dass in der Sowjetzeit das Interesse an Stadtgeschichte anstieg und der nationalhistorische Ansatz der Zwischenkriegszeit weitergeführt wurde.

Andreas Fülberth gibt einen Überblick über den Anteil auswärtiger Historiker an der stadthistorischen Forschung zu Riga und Tallinn seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. Einerseits spielte das baltische Exil eine Rolle, andererseits auch deutschbaltische Historiker, und spätestens seit dem Ende der Sowjetzeit sind Forscher ohne baltische Wurzeln in der Mehrheit. Mitunter überschneidet sich dieser Beitrag zwar mit den beiden vorhergehenden, dies ist jedoch leicht zu verschmerzen. Ein Grund, warum in Deutschland relativ viel über Tallinn publiziert wurde, war, dass sich große Teile des Stadtarchivs von 1944–1990 in Deutschland befanden.

Inna Põltsam-Jürjo schreibt sehr fundiert und informativ über die Grundzüge des livländischen Städtewesens im Mittelalter und geht auch auf die Frage von deutsch und „undeutsch“ ein. Aleksandrs Ivanovs behandelt livländische Städte in alten russischen Chroniken und hierbei vor allem die Beziehungen zwischen Stereotypen der Historiographie und der historischen Realität. Jurgita Šiaučiūnaitė-Verbickienė liefert mit ihrer Untersuchung der nichtchristlichen Minderheiten in den Städten des Großherzogtums Litauen einen spannenden Beitrag. Entsprechende Forschungen begannen erst wirklich unter den Sowjets.

Karin Hallas-Murula widmet sich dem städteplanerischen Entwurf für Groß-Tallinn des bekannten finnischen Architekt Eliel Saarinen. In diesem Zusammenhang wird auch Saarinens Entwurf für Canberra vergleichend herangezogen. Doch leider ist der Aufsatz zu kurz, um wirklich in die Tiefe gehen zu können. Der anschließende Beitrag von Mārtiņš Mintaurs hätte eigentlich in den ersten, historiographischen Teil gehört und es kommt zu Überlappungen mit dem Artikel von Misāns. Er behandelt die Altstadt Rigas in der architektonischen Historiographie Lettlands von den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis zu den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Etwas enttäuschend ist der letzte Beitrag von Vasilijus Safronovas, obwohl der Titel interessant klingt, nämlich die symbolische Aneignung der baltischen Stadt – Klaipėda im Vergleich mit Kaliningrad und Olzstyn. Jedoch sind 13 Seiten zu knapp für das Thema und die herangezogene Literatur zu wenig umfangreich, um etwas Fundiertes schreiben zu können.

Alles in allem bietet der Band einen guten Einstieg in das Thema, besonders für einen Leser, der auf der Suche nach weiterführender Literatur ist und sich besonders für die Historiographie interessiert. Selbst wer die jeweiligen Sprachen nicht liest, gewinnt einen Überblick über estnische, lettische, litauische und polnische Arbeiten zur Stadtgeschichte. Weiterhin wird auch dem deutsch- und englischsprachigen Schrifttum viel Platz eingeräumt.

Olaf Mertelsmann, Tartu

Zitierweise: Olaf Mertelsmann über: Stadtgeschichte des Baltikums oder baltische Stadtgeschichte? Annäherungen an ein neues Forschungsfeld zur baltischen Geschichte. Hrsg. von Heidi Hein-Kircher und Ilgvars Misāns. Marburg/Lahn: Herder-Institut, 2016. VI, 219 S. = Tagungen zur Ostmitteleuropaforschung, 33. ISBN: 978-3-87969-406-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Mertelsmann_Hein-Kircher_Stadtgeschichte_des_Baltikums.html (Datum des Seitenbesuchs)

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