Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Olaf Mertelsmann

 

Communism and Consumerism. The Soviet Alternative to the Affluent Society. Ed. by Timo Vihavainen / Elena Bogdanova. Leiden, Boston, MA: Brill, 2015. XXIV, 172 S. = Eurasian Studies Library, 7. ISBN: 978-90-04-30396-6.

Inhaltsverzeichnis:

http://www.gbv.de/dms/zbw/834152266.pdf

 

Der Titel Kommunismus und Konsumismus verheißt einen spannenden Band, doch leider stellt sich schnell Enttäuschung ein. Wie das Vorwort des Mitherausgebers Timo Viha­vainen, von dem drei der sechs Aufsätze stammen, klarstellt, geht es nicht um Konsum an sich, sondern vor allem um ideologische Bemühungen, den Konsumismus einzudämmen (S. XI). Wirtschaftliche Aspekte werden fast vollständig ignoriert. Erstens braucht es ein gewisses Niveau des Bruttosozialprodukts, um einen Konsumismus breiterer Gesellschaftsschichten überhaupt zu ermöglichen. Zweitens stand die sowjetische Wirtschaftspolitik spätestens seit Stalins Revolution von oben unter dem Zeichen von Austerität; dieser Ausdruck kommt im ganzen Buch jedoch nur einmal vor. Austerität im sowjetischen Zusammenhang bedeutet in erster Linie ein Niedrighalten des Lebensstandards der Bevölkerung, um hohe Industrieinvestitionen, ein großes Verteidigungsbudget und einen umfangreichen Staatskonsum zu finanzieren. Drittens produzierten die Mechanismen der sowjetischen Kommandowirtschaft selbst viele Probleme – Stichwort Mangelwirtschaft. Wer die wirtschaftliche Seite ignoriert, kann kaum einen überzeugenden Sammelband zu diesem Thema vorlegen. Allerdings passt das Vorwort nicht auf die zwei interessantesten Beiträge, die eben Konsumstrategien untersuchen und nicht die Ideologie.

Der recht teure Band ist eher lieblos gemacht. Die Zitationsform der Fußnoten, Autor, Jahr und Seiten, ist nicht sehr leserfreundlich. Bei einem Beitrag wurde das notwendige Literaturverzeichnis vergessen, in zwei Beiträgen treten Text- und Fußnoten gemischt auf, also hätten die Herausgeber vergessen, diese zu Ende zu formatieren. Hinzu kommen noch zahlreiche Tippfehler. Es scheint, niemand hat sich die Mühe gegeben, die Druckfahnen durchzusehen. Es kommt zu zahlreichen Wiederholungen und nur drei Beiträge stellen originäre Forschung dar, die anderen referieren die Literatur.

In seinem Vorwort erläutert Vihavainen die Konzeption dieses Werks, eben die Ideologie in den Mittelpunkt zu stellen. Das Ziel der Kommunisten sei eine wohlhabende Gesellschaft ohne Konsumismus. Der Autor versteigt sich zur Behauptung: „Der sowjetische Lebensstandard sah nicht unbedingt niedrig für einen westlichen Touristen in den dreißiger oder den siebziger Jahren aus.“ Es habe wenige Anzeichen echter Armut gegeben (S. XIII). Beschäftigt man sich etwas näher mit der sowjetischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, dann war in Europa in den dreißiger Jahren nur Albanien noch ärmer und unterentwickelter als die UdSSR, es gab Hungersnöte, weitverbreitete Unterernährung und eine Lebenserwartung wie in Kolonien in Nordafrika. In den siebziger Jahren hatte die Sowjetunion möglicherweise Rumänien und Bulgarien bezüglich der Realeinkommen überholt, aber beim Betreten eines normalen Haushalts dürfte einem Gast aus Westeuropa doch der erhebliche Abstand zu westeuropäischen Standards ins Auge gefallen sein.

Der erste Beitrag über den Geist des Konsumismus in Russland und im Westen von Timo Vihavainen erscheint als etwas sprunghaft und oberflächlich. Nur beim Gegenstand Ideologie gewinnt er etwas an Schärfe. Der folgende Aufsatz stammt ebenso aus der Feder Vihavainens und leidet ebenso an Sprunghaftigkeit. Er behandelt den Konsumismus im Rahmen des sowjetischen Projekts, in dessen Mittelpunkt anfangs Gleichheit und die Produktion standen. Stalin beendete in den dreißiger Jahren die Gleichmacherei, so der Autor, und gewährte der Elite ein gutes Leben. Hier irrt Vihavainen, bereits während des Russischen Bürgerkriegs war die sowjetische Elite gleicher als andere Menschen. Schon Lenin hatte erhebliche Privilegien und besondere Versorgungsgüter an einen kleinen Kreis verteilen lassen. Stalin weitete die „Hierarchie des Konsums“ (Elena Osokina) nur noch aus. Als interessanter Ansatz erscheint es, für den Stalinismus auch von „virtuellem Konsum“ zu sprechen (S. 39). Bekanntlich erfolgte eine spürbare Verbesserung des Lebensstandards erst seit den fünfziger Jahren, und 1961 wurde auf dem XXII. Parteitag der KPdSU gar verkündet, dass bis 1980 der Kommunismus aufgebaut und die USA überholt sein würden. Insgesamt bietet dieser Beitrag aber wenig Neues und einiges Zweifelhafte. So sei der durchschnittliche Russe heute abgeneigt Geld zu sparen, sondern würde es möglichst schnell wieder ausgeben (S. 60). Vihavainen sieht dies als einen Beleg für verbreiteten Konsumismus. Nach 30 Jahren Erfahrung mit wiederholten, drastischen Geldentwertungen und einem insgesamt instabilen ökonomischen Umfeld kann dies vom Autor ohnehin etwas übertriebene Verhalten durchaus als rational angesehen werden. Lieber Geld ausgeben, als es auf der Bank durch die nächste Inflation konfiszieren zu lassen.

Auf der Basis von Literatur und dem Journal Rabotnica untersucht Olga Gurova die Ideologie des Konsums in der UdSSR, wohlgemerkt Konsum, nicht Konsumismus. Denn Vihavainen ist der einzige, der sich mit dem titelgebenden Phänomen auseinandersetzt. Die drei übrigen Autorinnen beschäftigen sich alle mit Konsum. Gurova bezieht sich auf den Diskurs der Massen und kommt zu der wenig überraschenden Einsicht, die Idee des Konsums sei in der Sowjetzeit weder konsistent noch einheitlich gewesen (S. 70). Insgesamt bietet sie wenig Neues.

Larissa Zakharova geht den Strukturen des Textilienkonsums in der Sowjetunion in den fünfziger und sechziger Jahren nach. Der Leser hat zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als die Hälfte des Bandes durch, bis die erste richtige Forschungsarbeit kommt, die auf der Erschließung von Archivquellen, darunter auch Beschwerden und Budgetstudien sowie Interviews beruht. Die Autorin breitet faszinierendes empirisches Material aus, ob es um legale, halblegale und illegale Tätigkeiten zur Herstellung und Vertrieb von Kleidung und Schuhen oder um sogenannte Spekulation geht. Sie kann belegen, dass 1953 beispielsweise in Krasnodar zahlreiche privat gefertigte und auf dem Markt verkaufte Kleidungsstücke und Schuhe deutlich billiger waren als im staatlichen Handel. Der Staat tat allerdings alles, um den Privatsektor zu unterdrücken. Letztlich bietet dieser Beitrag einen guten Einblick in Problemlösungsstrategien in einer Ökonomie der Engpässe.

Elena Bogdanova, die zweite Herausgeberin, thematisiert den sowjetischen Konsumenten auf der Grundlage von Beschwerden in Archivbeständen und Interviews. Auch sie zeichnet die verwendeten Strategien überzeugend nach, die genutzt wurden, wenn sich der Konsument an die Behörden oder die Presse wandte. Allerdings wiederholt sie einiges, was in den vorherigen Aufsätzen schon angeführt wurde. Trotzdem kann ihr Beitrag noch überzeugen.

Zum Abschluss schreibt erneut Vihavainen über Kleinbürgerlichkeit (meščanstvo), die Haltung des Konsumismus und den russischen Geist. Er nutzt Interviews mit Personen, die sich selbst entweder der intelligencija zuordnen oder eben nicht, um etwas über ihre Einstellung zu kleinbürgerlichem Verhalten, Konsumismus und intelligencija in der Sowjetzeit und danach zu erfahren. Das Ergebnis erscheint nicht als sehr überzeugend, liefert aber gewisse Einblicke in die Geisteshaltung der untersuchten Personengruppe. Daran schließen sich ein nichtssagendes Nachwort, die Fragen der von Vihavainen genutzten Interviews und ein Register an.

Angesichts von nur zwei wirklich überzeugenden Aufsätzen, der lieblosen Machart und des bewussten Aussparens vieler wirtschaftlicher Aspekte hinterlässt der Band einen schalen Nachgeschmack. Nur Vihavainen untersucht Konsumismus, die drei anderen Autorinnen Konsum. Irgendwie geht die Konzeption dieses Sammelwerks nicht auf.

 

Olaf Mertelsmann, Tartu

Zitierweise: Olaf Mertelsmann über: Communism and Consumerism. The Soviet Alternative to the Affluent Society. Ed. by Timo Vihavainen and Elena Bogdanova. Leiden, Boston, MA: Brill, 2015. XXIV, 172 S. = Eurasian Studies Library, 7. ISBN: 978-90-04-30396-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Mertelsmann_Vihavainen_Communism_and_Consumerism.html (Datum des Seitenbesuchs)

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