Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Christoph Mick

 

Michael David-Fox: Showcasing the Great Experiment. Cultural Diplomacy and Western Visitors to the Soviet Union, 1921–1941. New York, Oxford: Oxford University Press, 2012. XII, 396 S., Abb. ISBN: 978-0-19-979457-7.

In den 1920er und 1930er Jahren pilgerten ausländische Wissenschaftler, Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle in die Sowjetunion, um dasgroße Experimentselbst in Augenschein zu nehmen. Feministinnen fragten nach der Emanzipation der Frau, Sozialreformer und Architekten wollten das sozialistische Wohnen und Leben kennenlernen, Gesundheits- und Justizreformer studierten die Gesundheitspolitik und neue Ideen im Strafvollzug. Kurzum, die Besucher beschäftigten sich vor allem mit jenen Themen, für die sich im eigenen Land engagierten. Michael David-Fox, Associate Professor an der Georgetown University in Washington D.C., zeigt, dass weniger der allgemeine Zustand des Landes, der Lebensstandard oder der Grad von Freiheit oder Unfreiheit darüber entschied, ob die Reisenden fasziniert oder desillusioniert in ihre Heimat zurückkehrten, sondern vielmehr das Ausmaß, in dem ihre Erwartungen in jenen Gebieten erfüllt wurden, für die sich am meisten interessierten.

David-Fox beschäftigt sich aber nicht nur mit der Sicht der Reisenden auf die Sowjetunion, sondern auch damit, welche Rolle diese Besuche in der sowjetischen auswärtigen Kulturpolitik (cultural diplomacy) spielten. Es geht ihm um die interkulturellen (cross cultural) und transideologischen Begegnungen zwischen den Reisenden und der sowjetischen Gesellschaft. Im ersten Kapitel stellt David-Fox die Organisationen vor, die mit der Betreuung der Besucher betraut waren: die Allunionsgesellschaft für Kulturelle Verbindungen mit dem Ausland (russ. Abkürzung: VOKS) und ihr Vorgänger, das Vereinigte Informationsbüro (russ. Abkürzung: OBI). Unter der Leitung von Olga D. Kameneva (bis 1929), Feodor N. Petrov (bis 1933) und Aleksandr Ja. Arosev (bis 1937) waren OBI und VOKS hauptverantwortlich für die Arbeit unterklassenfremdenKreisen. Das Spektrum reichte von linken Intellektuellen bis hin zu nationalkonservativen Kreisen, ja phasenweise sogar bis zu Vertretern der extremen Rechte. Die Kommunistische Internationale und die Internationale Arbeiterhilfe waren demgegenüber für die Propaganda unter ausländischen Arbeitern zuständig. Allerdings kümmerte sich Willy Münzenbergs IAH auch um Intellektuelle und geriet dadurch bisweilen in Konflikt mit der VOKS.

David-Fox plädiert dafür, sowjetische Innen- und Außenpolitik im Zusammenhang zu untersuchen. Der Aufbau des Sozialismus in einem Land war im Selbstverständnis der Bolševiki nur der erste Schritt auf dem Weg zum weltweiten Sieg des Sozialismus. Die Bolševiki wollten ihren Kritikern zeigen, dass sie tatsächlich ein sozialistisches System aufbauten, und versuchten in Wirtschafts-, Kultur- und Sozialpolitik Vorstellungen zu verwirklichen, die sie mit der internationalen sozialdemokratischen Bewegung teilten. David-Fox sieht darin eine der wichtigsten indirekten Wechselwirkungen zwischen ausländischen Besuchern  und  der Sowjetgesellschaft. Bei der Umsetzung vieler Vorhaben und dem Bau von Mustereinrichtungen dachten die Bolševiki daran, wie die revolutionäre und progressive Intelligenz im Ausland darauf reagieren würde.

Auch auf einer anderen Ebene waren Innenpolitik und Außenpolitik aufeinander bezogen. VOKS und sowjetisches Außenministerium versuchten, das schlechte Image der Sowjetunion in bürgerlichen Kreisen zu verbessern, um politische, wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen mit anderen Staaten anbahnen zu können. Darüber hinaus war die Sowjetunion  auch das wichtigste Propagandamittel der kommunistischen Weltbewegung. Zusammen mit der Komintern und anderen Organisationen kämpfte die VOKS gegen Berichte über schlechte Lebensbedingungen, Unterdrückung und Ausbeutung. Der Erfolg und die Attraktivität desVaterlandes der Werktätigenwar ein wichtiges Argument für die Weltrevolution.

David-Fox grenzt sich von der bisherigen Literatur zu den fellow travellers ab, die die Intellektuellen entweder für politisch naiv hielt oder ihnen eine zynische Manipulation der Fakten unterstellte. Natürlich versuchte die VOKS, prominente Intellektuelle durch zuvorkommende Behandlung, komfortable Unterbringung, Ehrungen und Schmeicheleien und die Vermittlung interessanter Gesprächspartner wohlwollend zu stimmen. Die Reiserouten wurden mit dem Ziel festgelegt, einen möglichst guten Eindruck zu hinterlassen. Nicht Notquartiere in Magnitogorsk, heruntergekommene Kinderheime oder hungernde Bauern in der Ukraine wurden gezeigt, sondern Musterwohnungen, vorbildliche Kinderkolonien und prosperierende Kollektivwirtschaften. Im Kapitel über diePotemkinschen Dörferargumentiert David-Fox überzeugend, dass Mustereinrichtungen nicht geschaffen wurden, um die Besucher über die tatsächlichen Verhältnisse zu täuschen. Sie waren Zukunftsprojektionen, die sich sowohl an die sowjetische als auch an die Weltöffentlichkeit wandten. Sie waren untypisch für die Gegenwart, zeigten aber, wie das sozialistische Land aussehen sollte. Damit wurdewie David-Fox zu Recht bemerkteine Grundidee dessozialistischen Realismusvorweggenommen.

Die Berichte der VOKS-Mitarbeiter zeigen, dass die prominenten Besucher das Land wesentlich kritischer sahen, als das deren spätere Äußerungen vermuten lassen. Die meisten Besucher waren weder naiv noch zynisch. Sie beklagten sich bei ihren Betreuern darüber, dass sie sich im Land nicht frei bewegen konnten und unbeobachtete Kontakte zu Sowjetbürgern fast unmöglich waren. Besonders nach 1933 sahen viele bürgerliche Intellektuelle die Sowjetunion aber als wichtigstes Bollwerk gegen den Nationalsozialismus, als einzige Macht, die dem Faschismus entschlossen entgegentrat. Kritische Berichte hätten die Stellung der Sowjetunion geschwächt; deshalb schwieg manvon Ausnahmen wie André Gide abgesehenlieber oder rechtfertigte die Maßnahmen des Regimes.

Die Intellektuellen kamen nicht nur zu Wertungen über die Sowjetunion, ihre politische Reife wurde auch von ihren Betreuern bewertet.  Wer nicht klagte, sich positiv über das Erreichte äußerte und Missstände dem Erbe des Zarismus zuschrieb oder als Geburtswehen der neuen Gesellschaft verstand, wurde als politisch reif angesehen; wer sich beschwerte und kritisierte, galt als schwankender Mitläufer (fellow traveller), dessen Meinungen von seiner bürgerlichen Klassenherkunft bestimmt waren. Trotzdem waren zunächst auch kritische Intellektuelle willkommen, solange sie in ihren Heimatländern kruder antisowjetischer Propaganda entgegentraten. Dies änderte sich Ende der zwanziger Jahre. Von 1928 bis 1932 wurdeparallel zur Ausrufung der Dritten Periode durch die Kominternauch der Druck auf wohlmeinende ausländische Intellektuelle verstärkt. Sie sollten sich entscheiden, ob sie für oder gegen die Sowjetunion waren. Neutralität oder kritische Freundschaft waren nicht länger ausreichend, kämpferischer Einsatz für die Verteidigung der Sowjetunion wurde jetzt verlangt. Die Partnerorganisationen der VOKS im Ausland, die Gesellschaften der Freunde des Neuen Russland, verloren zahlreiche Mitglieder, denen diese eindeutige Parteinahme zu weit ging.

Mitte 1931 wurde diese Kampagne beendet und die VOKS versuchte neue Kreise für die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion zu erschließen. Die VOKS inspirierte in Deutschland die Gründung einer Arbeitsgemeinschaft zum Studium der sowjetrussischen Planwirtschaft (Arplan), der sich einige prominente Mitglieder aus dem rechten politischen Spektrum anschlossen. Eine Delegation der Arbeitsgemeinschaft fuhr noch 1932 in die Sowjetunion. Das Werben um rechte Intellektuelle lief parallel zu wichtigeren Versuchen der KPD, nationalsozialistische Arbeiter anzuziehen. Nicht klar wird bei David-Fox, ob das Werben um Nationalisten und Rechte eine auf Deutschland und vielleicht noch Italien begrenzte Taktik war, oder ob diese erweiterte Bündnispolitik auch in anderen Ländern versucht wurde.

David-Fox hat die reichhaltige (vor allem in deutscher Sprache vorliegende) Forschungsliteratur zur sowjetischen auswärtigen Kulturpolitik ausgewertet und weitere Quellen im Archiv der VOKS im Russischen Staatsarchiv erschlossen. Er vermittelt neue Erkenntnisse über die Organisation der auswärtigen Kulturpolitik der Sowjetunion, zeigt wie die Reisenden betreut und wie sie von ihren Betreuern wahrgenommen wurden. Er beschreibt Konflikte zwischen sowjetischen Behörden und wie die vielen zusammengetragenen Informationen intern verarbeitet wurden. Bisweilen überschätzt er allerdings den Stellenwert der ausländischen Intellektuellen in den Überlegungen der sowjetischen Führung. Lag den Bolševiki nicht vielleicht doch mehr an der Meinung der internationalen Arbeiterschaft als am Lob prominenter bürgerlicher Intellektueller? Leider hat David-Fox die Arbeiterdelegationen und die Interaktion mit ihren Betreuern und sowjetischen Arbeitern nicht näher untersucht. Interessante Überlegungen stellt David-Fox über die Mischung von (stalinistischem) Überlegenheitsgefühl über den kapitalistischen Westen und Minderwertigkeitskomplexen an, die sich um das Konzept der Rückständigkeit rankten.  David-Fox zeigt, dass nicht Kollektivierung, Industrialisierung und die Hungersnot in der Ukraine, sondern der Große Terror diese Phase auswärtiger Kulturpolitik beendete. Das Land schloss sich mehr und mehr nach Außen ab. David-Fox hat eine anregende und lesenswerte Studie vorgelegt, die ein weiteres Argument dafür liefert, sowjetische Innen- und Außenpolitik nicht getrennt voneinander zu betrachten.

Christoph Mick, Coventry

Zitierweise: Christoph Mick über: Michael David-Fox: Showcasing the Great Experiment. Cultural Diplomacy and Western Visitors to the Soviet Union, 1921–1941. New York, Oxford: Oxford University Press, 2012. XII, 396 S., Abb. ISBN: 978-0-19-979457-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Mick_David-Fox_Showcasing_the_Great_Experiment.html (Datum des Seitenbesuchs)

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