Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Wolfgang Mueller

 

Aleksandr Rupasov / Lennart Samuelson: Sovetsko-švedskie otnošenija. Vtoraja polovina 1940-ch – načalo 1960-ch godov. Moskva: Rosspėn, 2014. 270 S. ISBN: 978-5-8243-1879-1.

Als die schwedisch-sowjetischen Beziehungen im Dezember 1956 infolge des noch immer nicht geklärten Verbleibs von Raoul Wallenberg, des Streits über die Abschüsse zweier schwedischer Flugzeuge durch die sowjetische Luftwaffe 1952, und schließlich infolge der sowjetischen Militärintervention zur Niederschlagung des ungarischen Volks­aufstandes neuerlich einzufrieren drohten, entschloss sich Andrej Gromyko, in einer der Fragen eine versöhnliche Geste zu setzen. Das im Februar 1957 vom sowjetischen Vize-Außenminister dem schwedischen Botschafter in Moskau überreichte Dossier sollte den Tod des schwedischen Diplomaten, der während des Zweiten Weltkrieges unter hohem Risiko tausenden Juden durch „Schutz-Pässe“ das Leben gerettet hatte, in sowjetischer Gefangenschaft 1947 belegen und dazu beitragen, eine Streitfrage auszuräumen – ein Ziel, das ungeachtet der sowjetischen Verantwortung für Wallenbergs Tod und der bis in die Gegenwart umstrittenen Umstände, temporär erreicht werden konnte.

In Stockholm zog Außenminister Östen Undén aus der Affäre den Schluss, dass die Herstellung guter Beziehungen zu Moskau niemals auf Kosten der eigenen Werte erfolgen dürfe, und formulierte damit eine Maxime seiner Politik. Die von der amerikanischen Historikerin Susanne Berger beschriebene Episode illustriert eine Facette aus der Geschichte der sowjetisch-schwedischen Beziehungen, die Aleksandr Rupasov und Lennart Samuelson auf der Grundlage von russischen, schwedischen, aber auch finnischen Quellen von der Mitte der vierziger bis Beginn der sechziger Jahre analysieren. Im Zentrum der Arbeit steht die wechselhafte sowjetische Einschätzung der Position Schwedens im entstehenden bipolaren internationalen System des frühen Kalten Krieges.

Den Ausgangspunkt bildete eine aus Moskauer Perspektive durchaus negative Beurteilung. Nicht nur sowjetische Diplomaten kritisierten die Haltung Schwedens während des Zweiten Weltkrieges, im Moskauer Jargon die „Servilität gegenüber Deutschland“ und eine „von Faschisten infizierte“ und „zutiefst antisowjetische“ Politik. Nachdem ein schwedisches Darlehen über eine Milliarde Kronen und die sowjetische Erkenntnis, dass es sich bei der sozialdemokratischen Regierung im Stockholm um das „geringstmögliche Übel“ handelte, eine kurzfristige Entspannung bewirkt hatten, verschlechterten sich die Beziehungen rasch wieder. Der kommunistische kalte Staatsstreich in Prag, der von Moskau erzwungene Abschluss des sowjetisch-finnischen Beistandspaktes und die Verschärfung des Kalten Krieges steigerten auch das Sicherheitsbedürfnis im Norden und förderten damit das Projekt einer skandinavischen Verteidigungsunion Dänemarks, Norwegens und Schwedens, die zwar bestrebt war, sich aus dem Ost-West-Konflikt herauszuhalten, aber von Moskau gleichwohl als westliche Basis attackiert wurde. Angesichts dessen und der unsicheren Erfolgsaussichten skandinavischer Kooperation entschieden die Regierungen Dänemarks und Norwegens, sich jenen europäischen Staaten anzuschließen, die seit 1948 auf die Gründung eines westeuropäisch-nordamerikanischen Verteidigungsbündnisses drängten.

Undén wiederum hatte befürchtet, Schweden werde in einem skandinavischen Bündnis die Hauptlast tragen. Eine von ihm in diesem Kontext verfasste Aufstellung brachte die Vor- und Nachteile der zur Wahl stehenden Strategien auf den Punkt: „Neutralität (mit oder ohne skandinavische Zusammenarbeit) – Vorteile: Möglichkeit, sich herauszuhalten. Nachteile: Sow[jetunion] kann angreifen, wann es ihr beliebt, ohne einen Weltkrieg zu riskieren. Wir werden von den Westmächten abgeschrieben. – Alternative: offenes Bündnis mit den Westmächten. Nachteile: Wir werden von der Sow[jetunion] in die Liste der Feinde aufgenommen. Vorteile: Sow[jetunion] muss erkennen, dass ein Angriff einen Weltkrieg bedeutet. Möglichkeit, Rüstungsmaterial von den USA zu erhalten.“ (S. 99). Nach dem Beitritt der beiden westlichen skandinavischen Staaten, erklärten Undén und Ministerpräsident Tage Erlander im Februar 1949, dass sich Schwedens Neutralität zwar ausschließlich auf Kriegszeiten beziehe, es sich aber auch in Friedenszeiten nicht binden wolle. Damit war der Grundstein zur „nordischen Balance“ gelegt, eines subtilen Gleichgewichtszustandes, in dem verstärkter sowjetischer Druck auf Finnland durch eine NATO-Annäherung Schwedens oder Intensivierung der NATO-Integration Norwegens beantwortet werden konnte.

Im Kreml wurden die aus der Neutralität für die Sowjetunion erwachsenden Vorteile anfangs kaum wahr- bzw. ernstgenommen, was wohl am ideologiedominierten Moskauer Schwarz-Weiß- und Sicherheitsdenken liegen mochte, das wie selbstverständlich die Sicherheitsinteressen anderer Staaten zugunsten der eigenen ignorierte. Einer der ersten Diplomaten, der entgegen dieser allgemeinen Tendenz die Vorzüge der schwedischen Neutralität für Moskau erkannte, war A. M. Aleksandrov-Agentov, damals Botschaftsrat in Stockholm und später einer der wichtigsten außenpolitischen Berater Brežnevs. Die Neutralität westlicher Staaten brachte – bei aller ideologischen Westlastigkeit – in der Tat zwei Gewinne für den Kreml mit sich: Einerseits entgingen damit dem westlichen Bündnis potenzielle Mitglieder und somit Möglichkeiten zur Stärkung seiner Position; andererseits wurden die Neutralen der Möglichkeit, ein Bündnis zu schließen, beraubt und deutlich geschwächt. Seit dem Koreakrieg und dem Ausbau der NATO wurde die Neutralität zu einem von der Sowjetunion und den kommunistischen Parteien im Westen propagierten Modell. Botschafter Rodionov horchte etwa schwedische Diplomaten aus, ob sie Norwegen beeinflussen könnten, aus der NATO auszutreten.

Nach der Verkündung der „friedlichen Koexistenz“ auf dem 19. Parteitag der KPdSU und dem Tod Stalins kam diese Strategie zum Durchbruch – nicht nur gegenüber Schweden, das Chruščёv in der Frage der Anerkennung der DDR, der Volksrepublik China und einer atomwaffenfreien Zone in Europa oder eben zur Neutralisierung Norwegens und Dänemarks zu instrumentalisieren suchte. In Bezug auf die Verteidigungsunion Skandinaviens kehrten sich die Interessenlagen nun um: Hatte in den vierziger Jahren Schweden eine solche gegen den Widerstand der Sowjetunion angestrebt, trat nun letztere dafür ein, wohingegen Schweden das Interesse verloren hatte.

Die informative und flüssig geschriebene Monographie zeichnet die Entwicklung der diplomatischen und Handelsbeziehungen mit deutlichem Fokus auf der Sicherheitspolitik und vor dem Hintergrund der Verwicklungen um Spionage, das baltische Exil in Schweden, und etwa die Frage des schwedischen Erwerbs von Atomwaffen fundiert und detailliert nach. Interpretatorisch bleibt die Arbeit etwa in der Frage nach den Motiven des einen oder anderen sowjetischen Kurswechsels eher vorsichtig und verzichtet auch auf einen zusammenfassenden Versuch, große Linien herauszuarbeiten. Wer in russischen Archiven (namentlich für Außenpolitik) gearbeitet hat, kann aber die Schwierigkeit dieses Fischens im Trüben nachvollziehen und wird es den Autoren besonders danken, dass sie sich diesem mühevollen und oft frustrierenden Unterfangen gewidmet haben.

Wolfgang Mueller, Wien

Zitierweise: Wolfgang Mueller über: Aleksandr Rupasov, Lennart Samuel’son: Sovetsko-švedskie otnošenija. Vtoraja polovina 1940-ch – načalo 1960-ch godov. Moskva: Rosspėn, 2014. 270 S. ISBN: 978-5-8243-1879-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Mueller_Rupasov_Sovetsko-svedskie_otnosenija.html (Datum des Seitenbesuchs)

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