Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 7 (2017), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Martin Munke
Alexander von Humboldt und Russland. Eine Spurensuche. Hrsg. von Kerstin Aranda / Andreas Förster / Christian Suckow. Berlin: Akademie Verlag, 2014. 638 S., 161 Abb., 5 Ktn. = Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, 31. ISBN: 978-3-05-004634-1.
Inhaltsverzeichnis:
Die Amerika-Reisen Alexander von Humboldts gehören wie selbstverständlich zum kulturhistorischen Horizont der Deutschen. Die Russland-Expedition von 1829 stand demgegenüber immer etwas im Schatten, wohl auch weil Humboldt hier selbst keinen zusammenhängenden Reisebericht verfasst hat. Die in – bisher nicht vollständig edierten – Reisenotizbüchern festgehaltenen wissenschaftlichen Ergebnisse der Expedition verarbeitete er in seinem zuletzt 2009 neu bearbeitet herausgegebenen zweibändigen Werk Central-Asien (1844). Die Schilderung der Reise selbst blieb anderen überlassen, etwa den Begleitern Gustav Rose (1798–1873) mit seinem Bericht Mineralogisch-geognostische Reise nach dem Ural, dem Altai und dem Kaspischen Meere (zwei Bände, 1837/42) und Dmitrij Stepanovič Men’šenin (* 1790) mit seinem Artikel in der Bergbauzeitschrift Gornyj žurnal (1830). Dennoch lässt sich auch außerhalb wissenschaftlicher Kreise ein gewisses Interesse an Humboldts Unternehmungen im östlichen Europa und in Zentralasien feststellen. So hat die erstmals 1983 vorgelegte Nacherzählung der Reise durch den Humboldt-Biographen und Herausgeber der Werkausgabe Hanno Beck zahlreiche Auflagen erlebt; in Daniel Kehlmanns populärem Roman Die Vermessung der Welt (2005) bildet der Russland-Aufenthalt den Endpunkt des auf Humboldt bezogenen Handlungsstrangs.
Ein in jeder Hinsicht gewichtiger Sammelband in den Beiträgen zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, wo 2009 schon Humboldts Briefwechsel im Umfeld der Expedition ediert wurde, befasst sich nun mit den unterschiedlichsten Aspekten der Reise selbst, ihrem historischen Umfeld und ihren Nachwirkungen. Er entwirft so ein umfassendes Gesamtbild auf der Basis deutscher und vor allem russischer, bis dato kaum oder gar nicht ausgewerteter Archivalien und Literatur. Die Beiträge von zwölf deutschen und dreizehn russischen Autoren gehen zurück auf ein langjähriges Forschungsprojekt der „Deutschen Assoziation der Absolventen und Freunde der Moskauer Lomonossow-Universität“ (DAMU) in Zusammenarbeit mit der Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW), in dessen Rahmen sieben Expeditionen „auf den Spuren Alexander von Humboldts“ in Russland unternommen und wissenschaftliche Veranstaltungen organisiert wurden, die im Anhang verzeichnet sind. Die an den Viten der Beteiligten deutlich werdenden Forschungsbeziehungen reichen vielfach zurück in die Zeit ostdeutsch-sowjetischer Zusammenarbeit, wie ja auch die Humboldt-Forschungsstelle (von 1959 bis 1970 Alexander-von-Humboldt-Kommission) bis 1990 an der Akademie der Wissenschaften der DDR angesiedelt war und sich schon damals um internationale Zusammenarbeit bemühte, gerade auch über Hanno Beck.
Der erste Abschnitt des Bandes, der somit eine Summe von über mehrere Jahrzehnte verfolgten Forschungen darstellt, ist mit sechs Beiträgen der Expedition und ihrem Verlauf gewidmet. Einen Überblick zu Real-, Rezeptions- und Historiographiegeschichte vermittelt einleitend Mitherausgeber Christian Suckow, langjähriger Leiter der Humboldt-Forschungsstelle. Für Humboldts Verhältnis zum Zarenreich wird hierbei deutlich, dass er seit 1829 „bis an sein Lebensende zu wissenschaftlichen und offiziellen Kreisen Russlands weitverzweigte, für beide Seiten fruchtbare Beziehungen unterhalten [hat]“ (S. 21), etwa zum langjährigen Finanzminister Georg Graf Cancrin (1774–1845). Die Wirkungsgeschichte dieser Beziehungen und der Reise selbst sei jedoch noch nicht abschließend erforscht – der Sammelband bietet hierbei immerhin manche Anregungen und Hinweise. Der Mineraloge Günter Hoppe widmet sich Humboldts Reisebegleiter Gustav Rose, gleichsam einem seiner Amtsvorgänger an der Spitze des Berliner Museums für Naturkunde – Rose leitete ab 1856 mit dem Mineralogischen Museum eine der Vorgängereinrichtungen der Ausstellungsstätte. Die Zusammenarbeit zwischen ihm und Humboldt ging auch nach der Expedition weiter, etwa bei der Abfassung des eingangs zitierten Berichts und in mancher Unterstützung des älteren Wissenschaftlers, der etwa Roses Aufnahme in die Akademie der Wissenschaften protegierte. Mit einzelnen Reiseabschnitten – dem Altai-Gebirge, der dortigen Stadt Barnaul, dem Südural, der Stadt Semipalatinsk im heutigen Kasachstan und dem Gouvernement Tobol’sk – befassen sich die Beiträge von Viktor Nikolaevič Kasljak, Dmitrij Michajlovič Mar’inskich, Aleksej Dmitrievič Sergeev, Anatolij Vladislavovič Stepanov und Rose-Luise Winkler.
Die sieben Aufsätze des zweiten Abschnitts widmen sich aus wissenschaftshistorischer Perspektive dem Ertrag der Expedition für einzelne Disziplinen. Die Berliner Historikerin Ludmila Thomas verortet sie im Kontext zeitgenössischer deutscher Sibirienreisen. Humboldts Forschungen reihten sich hier ein in eine Abfolge von staatlich geförderten Unternehmungen, die sich eben im Begriff der „Expedition“, als von den Zaren selbst beauftragt, manifestieren. Prominente Vorläufer waren hier Daniel Gottlieb Messerschnitt (1685–1735) und Peter Simon Pallas (1741–1811), deren Reisen ins Russländische Reich von der deutschsprachigen Forschung intensiv behandelt worden sind. Als Desiderat benennt Thomas „deren Bedeutung für das damalige Russland im Hinblick auf die Entwicklung der inneren Verhältnisse, einschließlich der politischen Stabilität in den neu erschlossenen Regionen“ (S. 112). Für Humboldt ist hier wiederum die Beziehung zu Cancrin zu nennen, mit dem er sich über die Versorgung der Bergbaugebiete und die Arbeitsbedingungen der dort Tätigen austauschte, und der seine Erkenntnisse als Argumentationshilfe in politischen Auseinandersetzungen nutzte. Im Detail sind solche Bezugnahmen durch die Geschichtswissenschaft noch weiter zu erforschen. Die Ergebnisse der Expedition werden im Band weiterhin aus der Perspektive der Biologie (Günter R. W. Arnold), der Chemie (Petra Werner auf der Basis einer 2007 in den „Beiträgen zur Alexander-von-Humboldt-Forschung“ erschienenen Monographie), der Geographie (Vladislav Georgievič Karelin, Vladimir Grigor’evič Kapustin und Ivan Nikolaevič Kornev), der Mineralogie (Hans-Joachim Bautsch) und der Ökologie (Kathrin Lippert) gedeutet.
Im dritten Abschnitt schließlich untersuchen sieben Beiträge gesellschaftliche und kulturelle Wandlungsprozesse im Russländischen Reich des 19. und 20. Jahrhunderts in den von Humboldt bereisten Gebieten, ohne dass immer ein direkter Bezug zur Expedition vorhanden wäre. Der Freiburger Geograph Jörg Stadelbauer beleuchtet die ethnische Zusammensetzung dieser Regionen und ihre Entwicklung bis ins 20. Jahrhundert vor dem Hintergrund der russischen und später sowjetischen Nationalitätenpolitik im Vielvölkerreich. Hier kam es durch „Binnenkolonisation und Expansion[,] Russifizierung und Sowjetisierung[,] Deportation und Migration[,] Zerfall eines Großreichs und beginnende Konsolidierung kleinerer Nachfolgestaaten“ (S. 301) zu umfangreichen Veränderungen und Verwerfungen. Zahlreiche Völkerschaften wie Tataren oder Kasachen erlebte Humboldt noch mit einer nomadischen Lebensweise, der u. a. die „politische Durchsetzung der Sesshaftwerdung in der Sowjetzeit“ (S. 297) ein Ende setzte. Die Folgen von staatlich gelenkten Siedlungs- und Kolonisationsprozessen untersuchen auch die Barnauler Geographen Aleksandr Germanovič Red’kin und Ol’ga Vital’evna Otto in ihrer Darstellung der sozioökonomischen Entwicklung der Altai-Region. Der Chemnitzer Historiker Friedrich Naumann und die Krasnojarsker Historikerin Ol’ga Aleksandrovna Gerber befassen sich mit Austausch- und Transferprozessen auf wirtschaftlichem und technischem Gebiet in den Bergbauregionen des Altai und des Ural. Eine Episode im Umfeld der durch die Zaren geförderten Ansiedlung deutscher Kolonisten schildert erneut Christian Suckow in seiner Darstellung der Geschichte der Siedlung Sarepta im Gouvernement Astrachan’, wo im Oktober 1829 auch die Humboldt-Expedition Halt machte. Stärker auf Humboldt selbst bezogen sind die erstmals 1982 veröffentlichen und nun aktualisierten Ausführungen von Peter Honigmann zu den Beziehungen des Wissenschaftlers mit Kollegen an der Universität Dorpat und zu dessen Rezeption in der russischen geographischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts von Nikolaj Semenovič Fal’kovič und Larisa Dmitrievna Žigalova.
Die Beiträge, gerade der ersten beiden Abschnitte, leisten in vielem Grundlagenarbeit, sind freilich häufig sehr positivistisch gehalten – hier merkt man, dass viele der Autoren ausgebildete Naturwissenschaftler sind. Punkten kann der Band mit einer reichhaltigen Ausstattung. Durch ein Personenverzeichnis und ein Register der geographischen und ethnischen Bezeichnungen, letzteres auch mit Querverweisen ausgestattet, ist er gut erschlossen. Ein umfangreicher kommentierter Bildteil mit fast einhundert Abbildungen vermittelt auch visuell interessante Eindrücke der Expedition, teils mit zeitgenössischen, teils mit aktuellen Grafiken und Fotografien einzelner Reisestationen. Die Kommentare bieten jeweils zusätzliche inhaltliche Informationen, welche die Einordnung des Abgebildeten erleichtern. Der Bildteil ergänzt die zahlreichen Abbildungen und Karten, die den einzelnen Aufsätzen beigegeben sind. Für den Forschenden besonders wertvoll ist die kommentierte Bibliographie von Natal’ja Georgievna Suchova, die auf fast einhundert Seiten und in mehr als 380 Einträgen die russischen Übersetzungen der Werke Humboldts und die reichhaltige russischsprachige Literatur zu seinem Schaffen im 19. Jahrhundert sowie ab Ende der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts verzeichnet. Erstmals 1960 in Leipzig erschienen und 2006 in russischer Sprache aktualisiert, wurde die übersetzte Fassung der Bibliographie noch einmal ergänzt und bis ins Jahr 2010 fortgeführt. Kurze Inhaltsangaben geben genauere Hinweise zu den Schwerpunkten der einzelnen Arbeiten und erschließen einem deutschsprachigen Publikum so zumindest in Ansätzen das große Interesse, das die Russland-Expedition Humboldts verständlicherweise in ihrem Zielland genossen hat und bis heute genießt. Die durch ein eigenes Personenregister mit knappen Informationen zu den Verfassern (wenn vorhanden) ergänzte Bibliographie kann so – gemeinsam mit dem Beitrag von Fal’kovič und Žigalova – zu einem Austausch zwischen zwei Wissenschaftskulturen beitragen, wie überhaupt der ganze Band ein eindrückliches Beispiel der Chancen internationaler Zusammenarbeit bietet.
Zitierweise: Martin Munke über: Alexander von Humboldt und Russland. Eine Spurensuche. Hrsg. von Kerstin Aranda / Andreas Förster / Christian Suckow. Berlin: Akademie Verlag, 2014. 638 S., 161 Abb., 5 Ktn. = Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, 31. ISBN: 978-3-05-004634-1., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Munke_Aranda_Alexander_von_Humboldt_und_Russland.html (Datum des Seitenbesuchs)
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