Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 6 (2016), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Christian Noack
Marcus Franke: Russlands Zivilgesellschaft. Von Stalin zu Putin. Berlin: OEZ Berlin-Verlag, 2014. 203 S. ISBN: 978-3-942437-32-5.
Der Klappentext verspricht eine Art Rehabilitierung von Putins gelenkter Demokratie als notwendiger Etappe im Transformationsprozess Russlands hin zu mehr Demokratie und Pluralismus. Diese Frage wird vor dem Hintergrund einer Skizze zivilgesellschaftlicher Entwicklung von Stalin (!) zu Putin erörtert. Dass der Autor bei Stalin keine Ansätze für Zivilgesellschaft erkennen kann, verwundert nicht. Dass ihm das für die folgenden Entwicklungsepochen von Chruščev bis Jelzin auch nicht gelingt, hat viel mit dem höchst normativen und institutionenbezogenen Konzept von Zivilgesellschaft zu tun, dass Franke zur Anwendung bringt, und mit einer äußerst fragwürdigen Beschränkung auf deutschsprachige und teils (damals) schlicht tagesaktuelle Analysen, welche die reiche englischsprachige Forschung zu civil society oder zum problematischen Verhältnis von Privatem und Öffentlichem in der Sowjetunion und im Postsozialismus einfach übergeht. Auch russische Forschung wird nur selektiv durch Übersetzungen rezipiert. Gorbačevs Perestroika von 1987 ist der einzige englischsprachige Titel, der zitiert wird.
Auf dünner Quellengrundlage neigt der Autor dann mitunter zu weitreichenden Generalisierungen. Dies gilt etwa für die Rückschlüsse über den Moskauer Klub der sozialen Initiative (S. 102–105), der als Beleg der „Elitenlastigkeit“ der sowjetischen Kluböffentlichkeit dient. In diesem Zusammenhang sind Frankes Befunde auch widersprüchlich, etwa wenn er für die Brežnev-Zeit nur die Dissidentenbewegung anspricht, für die Perestroika dann aber konstatiert, dass informelle Gruppen „im Grunde […] Weiterentwicklungen bestehender Klubs und (Freizeit-)Vereine“ (S. 102) gewesen seien. Interessanterweise fehlen auch alle Hinweise auf die nationalen Bewegungen der späten achtziger und frühen neunziger Jahre. Das wichtige NGO-Gesetz von 2006 und seine Verschärfungv2012 werden ebenfalls nur auf Grundlage von Sekundärquellen abgehandelt.
Auffallend ist auch die fehlende Distanz zu den Quellen, etwa in den Abschnitten über Putin, in denen die Denunziation der Jelzin-Jahre relativ unkritisch übernommen wird, gleichzeitig aber die Möglichkeit betont wird, dass Putins Politik entgegen allem Augenschein langfristig auf eine Demokratisierung ausgerichtet sein könnte (S. 145, 147, 156–158). Russische Defizite wie die „mangelhafte Durchlässigkeit zwischen politischem Prozess und Öffentlichkeit“ werden schließlich mit einer „systemimmanenten Problematik aller kapitalistischen parlamentarischen Demokratien“ gleichgesetzt. Das war schon 2012, zum Zeitpunkt der Abfassung, eine gewagte Behauptung.
Leider sind auch andere originelle Thesen selten überzeugend belegt oder durchargumentiert, etwa die Parallelen zwischen der Perestroika und Putins Politik, die als „Perestroika 2.0“ bezeichnet wird. Nach Frankes Ansicht bestehen diese im angeblichen Primat der Ökonomie und in langfristig gedachter Stabilisierung (S. 141, 169). Über weite Passagen ermüdet auch die gestelzte Sprache des Autors mit ihren Tautologien, etwa wenn der Autor der Sowjetunion in der Perestroika einen „existierenden Zeitungspluralismus“ attestiert und zugleich „Widersprüche zwischen progressivem Fortschritt und Konservierung alter Strukturen“ feststellt (S. 99). Pussy Riot und Aleksej Naval’nyj werden bei Franke zu Vertretern „einer problemidentifizierenden und kremlkritischen Zivilgesellschaft“ (S. 154).
Ich habe verwundert zur Kenntnis genommen, dass dieses Buch auf einer preisgekrönten Diplomarbeit in Fachbereich Politologie an der Universität Göttingen beruht. Nicht dass es Franks Argumentation an Stringenz mangeln würde, aber sein Ansatz und seine Quellengrundlage sind schlicht zu eng, um zu weiterführenden Erkenntnissen zu kommen. Meiner Ansicht nach ist dies nicht so sehr dem Autor, sondern den wissenschaftlichen Betreuern anzulasten. Peter W. Schulze, in dessen Umfeld die Arbeit offensichtlich entstanden ist, steuerte ein ausgedehntes Vorwort bei. Auch damit tut er Franke nicht unbedingt einen Gefallen. Der langjährige Leiter der Niederlassung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Moskau breitet darin seine Sicht der politischen Entwicklung in Russland bis Anfang 2014 ziemlich ungeordnet aus, nimmt aber die Kernthesen Frankes vorweg. Darüber hinaus scheint diese Einführung nicht redigiert worden zu sein und wimmelt von Tipp- und Zeichensetzungsfehlern.
Fazit: Wer Fragen zu spezifischen Ansätzen und Formen der zivilgeschichtlichen Vergangenheit und Entwicklungsperspektive in Russland hat, wird in diesem Band kaum nuancierte Antworten finden.
Zitierweise: Christian Noack über: Marcus Franke: Russlands Zivilgesellschaft. Von Stalin zu Putin. Berlin: OEZ Berlin-Verlag, 2014. 203 S. = ISBN: 978-3-942437-32-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Noack_Franke_Russlands_Zivilgesellschaft.html (Datum des Seitenbesuchs)
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