Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Hans-Heinrich Nolte

 

Vladimir A. Arakčeev: Vlast’ i „zemlja“. Pravitel’stvennaja politika v otnošenii tjag­lych soslovij v Rossii vtoroj poloviny XVI – načala XVII veka. Moskva: Drevle­chranilišče, 2014. 508 S. ISBN: 978-5-93646-234-4.

Arakčeev schreibt Geschichte von sozialen und politischen Institutionen wie Schollenpflichtigkeit, zemlja und prikazy in ihren Wechselwirkungen mit staatlicher Politik und alltäglichen Phänomenen auf der Basis von anderthalb Jahrzehnten Archivarbeit. Sein Programm führt er, nach einer historiographischen Diskussion, in vier Kapiteln aus, in welchen der Zeitraum zwischen etwa 1550 bis 1649 nach Sachthemen gegliedert wird: 1) lastenpflichtige Bevölkerung allgemein um 1550; 2) Reform des Landes und posad-Bevölkerung; 3) Durchsetzung der Schollenpflichtigkeit; 4) Regierungspolitik und lastenpflichtige Stände vom Ende der Rurikiden bis zu den Romanovs. Die Arbeit wird ergänzt durch ein 16-seitiges Register, ein 8 Seiten umfassendes Verzeichnis der benutzten Archive, sowie drei Kartenskizzen der im Text zitierten Orte und Regionen zwischen den Grenzen im Westen, dem Weißem Meer im Norden, dem Vorural im Osten und der Linie Orel, Elec und Šack im Süden. Außerdem werden 16 Dokumente aus dem RGADA publiziert.

Die Übersicht über die Verhältnisse der lastenpflichtigen (tjaglye) Bevölkerung in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts beruht auf Daten aus allen Gebieten mit einem Schwerpunkt bei den neuen Territorien im Westen (Novgorod Velikij, Pskov), während für Smolensk nach dem Verlust 1612 viele Akten verloren gegangen sind. Arakčeev kommt zu dem Ergebnis, dass die Lage sowohl der Bauern insgesamt als auch der posad­Leute mehr durch die fiskalischen Bedürfnisse der Regierung als die Anforderungen der Oberschicht bestimmt war und die Institutionen der Lokalverwaltung der damaligen Gesellschaft entsprachen. Die Reformen von 15491550 stärkten die Privilegien der dienenden (služilye) Landbesitzer.

Im dritten Kapitel untersucht der Autor die Vorschriften des Stoglav-Sobors von 1551 sowie den aus Anordnung des Zaren und Beratung (S. 206) bestehenden prigovor über kormlenie von 1555. In einer manchmal rechthaberischen Diskussion mit A. Nosov begründet der Autor seine Analyse, dass die Reformen der 50er Jahre die gewählten Richter, auch über das Guba-System hinaus, in der Regel stärkten. Ivan IV. vertrat zwar die Meinung, dass alle „Macht“ beim Herrscher liegen solle (S. 206), konnte dieses Verständnis von Autokratie jedoch nicht implementieren, zumindest nicht gegenüber der lokalen Selbstverwaltung.

Im vierten Kapitel beschreibt Arakčeev den Beginn der Schollenpflichtigkeit der Bauern durch die Begrenzung des Abzugsrechts auf „verbotene Jahre“. Als erste Nennung des Phänomens bestimmt er einen Zuteilungsbrief (otdel’naja gramota) für ein pomest’e 1585 im Kontext von „Suche nach und Rückführung von Bauern, deren Anwesenheit auf abgabepflichtigem Land dokumentarisch belegt war“ (S. 310). Die Kompetenz für solche Suche (sysk) nach entlaufenen Bauern blieb lange bei den regionsbezogenen Prikasen und wurde bis 1649 nur schrittweise beim Prikas für die Lehnsgüter (pomestnyj prikaz) systematisiert. Nach der Phase der „Desintegration staatlicher Institutionen“ (S. 352) zum Schluss der Smuta während der polnischen Besetzung Moskaus beginnt diese Politik erst nach 1613 neu. Im fünften Kapitel folgt chronologisch die Darstellung der Politik am Beginn des 17. Jahrhunderts.

Westliche Literatur ist nur berücksichtigt, sofern Übersetzungen ins Russische vorliegen; vor allem Fernand Braudel, Pierre Bourdieu und Marcel Mauss sind für das Konzept Arakčeevs wichtig. Es gibt also keine Auseinandersetzung mit westlichen Historikern dieser Periode (abgesehen von Torkes Aufsatz in Voprosy Istorii 1991), auch nicht z. B. mit Richard Hellies großer Arbeit über Wirtschaft und materielle Kultur Russlands ab 1600 oder Hartmut Rüß Monographie Herren und Diener; auch jene westlichen Forscher, die Beiträge zu der Konferenz zu Ehren L. V. Čerepnins (Soslovija i gosudarstvennaja vlast’. T. 1–2. Moskva 1994) beigesteuert haben, sind nicht berücksichtigt. Das gleiche gilt für westliche Arbeiten zur Frühen Neuzeit in Europa (wie sie in der Enzyklopädie der Neuzeit in einer deutschen Bibliothek leicht zugänglich wären). Wenn Arakčeev schließt, dass die Struktur Russlands ständisch gewesen sei und das Land „als europäischer Staat“ bestimmt werden könne, beruht sein Verständnis von letzterem also nicht auf einer Rezeption westeuropäischer Forschung zu Staat und Gesellschaft – abgesehen von der russischen Fassung von Braudel.

In der Einordnung liegt also nicht die Stärke des Buches. Die liegt vielmehr in der Quellendichte der Beiträge zur Geschichte der Unterschichten in Russland in dieser Periode, zur Reichweite der lokalen Institutionen sowie konkret zur Durchsetzung der Schollenpflichtigkeit. Wurde in der sowjetischen und auch der westlichen sozialhistorischen Historiographie manchmal schnell zusammengefasst und auf tradierte (oder auch innovative) Interpretationen Bezug genommen, so plädiert Arakčeev methodisch für mehr Quellenarbeit und auch quellengeleitete Interpretationen. Auch wenn er kein endgültiges Ergebnis vorlegt, wie das oben kritisierte Konzept von europäischem Staat andeutet, ist das doch zuerst einmal ein gewichtiger Einwand.

Inhaltlich beansprucht der Autor, die historiographische Gegenüberstellung zweier Russlandbilder zu dieser Periode – eines, in dem die Regierungsmacht (vlast’) vom Volke abhängt, und eines, in dem die Regierungsmacht auf das Volk keine Rücksicht nimmt – mit einem von den gesellschaftlichen Institutionen ausgehenden Ansatz überwunden zu haben. Ein wichtiger Beitrag zur Debatte.

Hans-Heinrich Nolte, Hannover

Zitierweise: Hans-Heinrich Nolte über: Vladimir A. Arakčeev: Vlast’ i „zemlja“. Pravitel’stvennaja politika v otnošenii tjag­lych soslovij v Rossii vtoroj poloviny XVI – načala XVII veka. Moskva: Drevle­chranilišče, 2014. 508 S. ISBN: 978-5-93646-234-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Nolte_Arakceev_Vlast_i_zemlja.html (Datum des Seitenbesuchs)

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