Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 7 (2017), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Alexandra Oberländer
Edward Cohn: The High Title of a Communist. Postwar Party Discipline and the Values of the Soviet Regime. DeKalb, IL: Northern Illinois University Press, 2015. 268 S., 2 Abb., 19 Tab. ISBN: 978-0-87580-489-7.
Niemand aus der historischen Disziplin, der oder die sich mit der Zeit Chruščevs beschäftigt, kommt umhin, das sogenannte Tauwetter zu qualifizieren. Als Kontinuität (Miriam Dobson, Polly Jones, Cynthia Hooper) oder als Bruch mit dem (Spät-)Stalinismus (Stephen Cohen, George W. Breslauer), als „Ereignis“ (Kozlov/Gilburd) oder, wie es jetzt Cohn doch sehr bescheiden formuliert, als „zentrale Übergangsphase“ („crucial transitional period“, S. 4). Zumindest für die Kommunistische Partei der Sowjetunion, so Cohn, führten die Jahre zwischen 1953/54 und 1964 zu kaum mehr als einem Wandel: Weg von einer revolutionären Arbeiterpartei der zwanziger Jahre, in der die Klassenzugehörigkeit entscheidend war, hin zu einer Angestelltenpartei, die den meisten Mitgliedern seit den späten vierziger Jahren nur mehr als Karriereleiter diente. Diesen Prozess beschreibt Cohn an unterschiedlichen Stellen als „Bürokratisierung“ der Partei (z.B. auf den Seiten 9, 21, 29 oder 53). Sie wurde zum „exklusiven Club für Angehörige des Establishments statt zu einer revolutionären Kraft in der Gesellschaft“ (S. 25).
Diese Bürokratisierung der Partei ist eines der wiederkehrenden Themen des Buches. Vor allem interessiert sich Cohn für die parteiinternen Disziplinierungsverfahren der Nachkriegszeit, um damit dem Wertekanon der Chruščev-Zeit auf die Spur zu kommen. Was bedeutete es, Kommunist zu sein? Welche zentralen Charakteristika hatte ein Mitglied der kommunistischen Partei aufzuweisen? Und wie wurde man zu jemandem, der oder die den „hohen Titel“ des Kommunisten bzw. der Kommunistin verdiente? Das Quellenmaterial, auf das sich Cohn zur Beantwortung dieser Fragen stützt, ist breit gefächert: Von den zentralen Akten der Parteikontrollkommission bis auf die Ebene lokaler Betriebsparteizellen in Perm’ und Tver’.
Cohn interessiert sich nicht für die Implikationen des moralischen Anspruchs an die Parteimitglieder an sich, sondern vielmehr dafür, wie sich die Moralvorstellungen über die Genossen und Genossinnen wandelten. Cohns These lautet, dass sich mit den Moralvorstellungen auch die Methoden ihrer Durchsetzung innerhalb der Partei veränderten. Als Negativfolie für diesen Befund dienen ihm immer wieder die Parteiausschlussverfahren. Zwischen Mai 1945 und Oktober 1964 schloss die KPdSU eine beeindruckende Anzahl von mehr als 1,7 Millionen Menschen aus ihren Reihen aus. Diese auf den ersten Blick hohe Zahl ist im Vergleich zu den Parteiausschlüssen bis 1945 gering. Waren es nach dem Zweiten Weltkrieg Cohn zufolge nie mehr als rund drei Prozent der Mitglieder, die ihr Parteibuch abgeben mussten, sorgten die Säuberungen der zwanziger und vor allem dreißiger Jahre in manchen Jahren dafür, dass mehr als 25 Prozent der Parteimitglieder ausgeschlossen wurden. Und nicht nur das: Aus der Partei ausgeschlossene Genossen und Genossinnen hatten seit den fünfziger Jahren in der Regel weder Verhaftung noch Todesstrafe zu befürchten. Dies ist sicherlich der offensichtlichste Wandel, den Edward Cohn in seiner Untersuchung über die Disziplinarverfahren feststellt.
Rügen lösten Parteiausschlüsse nach 1945 als häufigstes Disziplinierungsinstrument ab; immerhin zwischen fünf und sieben Millionen Parteimitglieder wären davon betroffen gewesen. Den Übergang zum Mittel der Erziehung und Ermahnung im Unterschied zum Parteiausschluss entdeckt Cohn interessanterweise bereits in den Nachkriegsjahren unter Stalin. Das Vorgehen gegen Parteimitglieder in den ehemals besetzten Gebieten (sein Beispiel ist die Ukraine) blieb außerordentlich streng, doch Cohn ist es wichtig, die sich allmählich verändernden Begründungen ernst zu nehmen, die sich in den Akten der Parteikontrollkommission finden lassen. Als solche werden in der Regel nicht (mehr) aktive Kollaboration mit dem Feind, sondern „Passivität“ und „unwürdiges Verhalten“ genannt (S. 56). Hier, im Spätstalinismus, deutet sich für Cohn bereits der Paradigmenwechsel an, der den Grundstein für die parteiinterne Disziplin der nächsten Jahrzehnte legen sollte: Weniger offene Repression und mehr indirekte Einflussnahme auf den Einzelnen.
Gleichwohl beinhaltet Cohns Argumentation eine Schwierigkeit: Der Parteiausschluss war in den ersten Nachkriegsjahren keineswegs das letzte zu ergreifende Mittel, immerhin wurden, wie Cohn selbst schreibt, in der Ukraine etwa 90 Prozent der Parteimitglieder nach 1945 ausgeschlossen. Ähnliches galt für baltische, weißrussische und westrussische Parteimitglieder, die wegen ihres Verhaltens zwischen 1941 und 1944 ihr Parteibuch abzugeben hatten. Zudem gab es die Säuberung der Leningrader Parteiorganisation, die Anti-Kosmopolitismus-Kampagne und nicht zuletzt die angebliche Ärzteverschwörung. An Repression herrschte also kein Mangel. Auch wenn sich der Wertekanon allmählich verändert haben mag, so blieben doch die Instrumente der Parteidisziplinierung bis zu den Amnestien der 1950er eigentlich unverändert.
Dass Cohn in seinen Argumenten unentschieden ist, zeigt sich besonders deutlich im dritten Kapitel des Buches, wo es um politisches Fehlverhalten von Genossen und Genossinnen zwischen 1945 und 1964 geht. Cohn macht hier “surprising continuities and subtle changes” (S. 82) aus. Während er einerseits im Kapitel vorher betont, dass den ausgeschlossenen Parteimitgliedern in den ehemals besetzten Gebieten nicht mehr aktiver Verrat (wegen Trotzkismus oder Unterstützung der Deutschen), sondern ein zu passives Verhalten vorgeworfen wurde, schreibt er nun ein Kapitel später ganz anderes: „De-stalinization […] improved the lives of thousands […] without fundamentally redefining the party’s approach to the political beliefs and activities of its members.“ (S. 83) Einerseits betont Cohn den Umstand, dass die Hinweise der Partei auf den „politischen Glauben und die Handlungen“ der Parteimitglieder große Kontinuität aufgewiesen hätten. Andererseits hätten sich die Gründe und Kategorien der Disziplinarverfahren radikal geändert: Waren es in den dreißiger Jahren die soziale Herkunft (Kulak!) oder der politische Glaube (Trotzkismus!), so seien das nun nicht mehr die maßgeblichen Maßstäbe gewesen, die zur Überprüfung der moralischen Gesinnung der Genossen und Genossinnen angelegt worden wären.
Die neuen Erziehungsmaßnahmen jenseits des Parteiausschlusses waren keineswegs schmerzfrei; sie führten zur Unterbrechung oder gar zum Ende von Karrieren oder hatten zumindest negative Auswirkungen auf das soziale Umfeld, was Cohn unablässig betont. Kameradschaftsgerichte am Arbeitsplatz verhandelten das Fehlverhalten der Genossinnen oder Kollegen in aller Öffentlichkeit auch dann, wenn das Fehlverhalten selbst sich im Privatleben abgespielt haben mag. Die Tugenden der dreißiger Jahre wie Loyalität und unbedingter Gehorsam seien ersetzt worden durch die Verpflichtung zu einer tadellosen Lebensführung. Cohn schließt sich damit den Forschungsergebnissen zum Tauwetter an, die im Windschatten Oleg Kharkhordins weniger offene Repression, dafür jedoch mehr Einflussnahme auf den Einzelnen entdecken. Wie das sowjetische System „more intrusive“ (S. 6) wurde, verfolgt Edward Cohn an zwei Beispielen: Sexualität und Eheführung (Kapitel 5) sowie Alkoholismus (Kapitel 6). An manchen Stellen jedoch schießt er über sein Ziel hinaus, wenn er etwa die Ermahnung an prügelnde Ehemänner durch Kameradschaftsgerichte als „intrusion“ statt als verantwortliches Handeln im Interesse der Ehefrau behandelt.
Manches an Cohns Buch ist nicht überzeugend: Die Feststellung, dass sich die Partei bürokratisierte (und nicht etwa normalisierte) ist insofern überraschend, als Cohn diese Bürokratisierung zu bedauern scheint, dann etwa, wenn er schreibt, die „revolutionäre Kraft“ der dreißiger Jahre sei erloschen (S. 25). Darüber hinaus stellt sich die Frage, warum Cohn eigentlich so viel Wert auf die Kontinuität legt, wenn doch viele seiner Beispiele auch für das genaue Gegenteil, nämlich einen Bruch mit den disziplinarischen Verfahren der Stalin-Zeit stehen könnten. Für einen radikalen Bruch spätestens ab 1954 sprechen nicht nur die rapide Abnahme der Parteiausschlussverfahren und die neuen Kategorien zur Beurteilung von Fehlverhalten, sondern auch die Wiederaufnahme repressierter Parteimitglieder seit den umfangreichen Amnestien der fünfziger Jahre. Cohn selbst verortet sich in der Kohorte derjenigen Historiker und Historikerinnen, die in jüngster Zeit die Kontinuität betonen. Tatsächlich aber scheint mir sein Buch vielmehr ein Beitrag zu einem sehr viel älteren Paradigma der Tauwetter-Forschung zu sein, dem von Konservatismus und Reform (Stephen Cohen).
Zitierweise: Alexandra Oberländer über: Edward Cohn: The High Title of a Communist. Postwar Party Discipline and the Values of the Soviet Regime. DeKalb, IL: Northern Illinois University Press, 2015. 268 S., 2 Abb., 19 Tab. ISBN: 978-0-87580-489-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Oberlaender_Cohn_The_High_Title_of_a_Communist.html (Datum des Seitenbesuchs)
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