Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Alexandra Oberländer

 

Keely Stauter-Halsted: The Devils Chain. Prostitution and Social Control in Partitioned Poland. Ithaca, NY, London: Cornell University Press, 2015. X, 379 S., Abb. ISBN: 978-0-8014-5419-6.

Ganz in der Tradition der Kulturgeschichte nutzt Keely Stauter-Halsted das Alltagsphänomen Prostitution als ein „Prisma“, um „Polens schwierigen Weg in die Moderne“ (S. 2) nachzuzeichnen, den sie vor allem vom Kampf um die politische Souveränität geprägt sieht. Obwohl der Titel des Buches einen längeren Zeitraum der Betrachtung verspricht, beschränkt sich Stauter-Halsted auf die Jahre von etwa 1880 bis 1920 und präsentiert gleichwohl dem Leser ein Feuerwerk an Themen: die Regulierung von Prostitution, den Umgang mit Geschlechtskrankheiten, die angeblich mit Prostitution einhergehen würden, Degenerationstheorien und Volksgesundheit, die Entwicklung der Medizin, die Pogrome gegen Bordelle 1905, Antisemitismus und nicht zuletzt internationalen Mädchenhandel. Hinsichtlich der Auswahl der Quellen und des inhaltlichen Fokus konzentriert sich Stauter-Halsted auf polnischsprachige Texte und untersucht, wie sich ein „polnischer“ Diskurs über Geschlecht und Sexualität ausbildete, um den herum, so ihre Behauptung, sich die polnische nationale Bewegung gruppierte. Während in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts Prostitution noch als Gefahr für eine potentielle polnische Nation interpretiert worden sei, habe sich Prostitution bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes zu „der zentralen Metapher für den polnischen Volkskörper“ entwickelt, der „in den Zeiten imperialer [Fremd-]Herrschaft [imperial rule] vernachlässigt“ worden sei (S. 313).

Keeley Stauter-Halsted gelingt es dank der Anwendung neuerer Theorien zu Sexarbeit, einen erfrischend anderen Blick auf die Frauen zu werfen, die sich mit bezahlten sexuellen Dienstleistungen ihren Lebensunterhalt aufbesserten oder verdienten. Stauter-Halsted schwimmt an diesen Stellen gegen den noch immer weit verbreiteten Diskurs in der Forschungsliteratur, Sexarbeiterinnen ausschließlich als Opfer männlicher Sexualität zu begreifen. Stattdessen betont sie die bewussten Entscheidungen der Frauen und die Selbständigkeit, die wenigstens manchmal mit Sexarbeit einherging (und dann doch oft genug in der Abhängigkeit von einem Zuhälter endete). Dazu gehörte unter anderem, dass Frauen keineswegs genötigt waren, Prostitution als Vollzeitjob auszuüben. Stattdessen griffen Frauen immer mal wieder zur Prostitution, um sich in prekären Lebenssituationen etwas hinzuzuverdienen oder sich schlicht auch einfach mal etwas zu leisten. Mit anderen Worten: Frauen konnten auf Sexarbeit zurückgreifen, ohne gleich ein für allemal in der als soziale Sackgasse wahrgenommenen Prostitution zu enden.

Gleichwohl verschwimmen Keeley Stauter-Halsted bei manchen der von ihr beschriebenen historischen Szenen die Grenzen von Missbrauch, Vergewaltigung und Prostitution, weil sie sich zu sehr auf das Moment der weiblichen agency versteift. Wenn Fabrikarbeiterinnen etwa aus Angst, ihre Stelle zu verlieren, auf die erpresserischen „Angebote“ des Vorarbeiters eingingen, so hatte das doch sehr wenig mit agency zu tun – und auch nur wenig mit Prostitution. Die Frauen wurden nicht bezahlt, sondern behielten lediglich ihren Job – und das vielleicht auch nur, wenn sie beim nächsten Mal wieder nicht nein sagten. Diesen „sexual exchange“ als „strategic weapon in their arsenal of survival techniques“ (S. 72) zu bezeichnen, beschönigt ausbeuterische und sexistische Gewaltverhältnisse. Solche Euphemismen ziehen sich vor allem durch die erste Hälfte des Buches, in dem Stauter-Halsted die Migrationsbewegung von Frauen aus der Provinz in die Städte bespricht. Sie beschreibt die städtischen Lebensverhältnisse für Frauen, die in den Fabriken oder Geschäften arbeiteten oder sich als Dienstboten in bürgerlichen Häusern verdingten. Gegen die in den polnischsprachigen Quellen des späten 19. Jahrhunderts noch weit verbreitete Empathie mit Frauen, die als hilflose Opfer in die Prostitution getrieben wurden, setzt Stauter-Halsted ihren empathischen Blick auf diese Frauen als starke Personen, die selbstbewusste Entscheidungen getroffen hätten.

Diese Position hält Stauter-Halsted auch beim internationalen Mädchenhandel aufrecht. Sie möchte das Narrativ des internationalen Frauenhandels und damit auch der Zwangsprostitution zu großen Teilen als „Mythos“ (S. 118) verstanden wissen und begründet dies unter anderem damit, dass viele der Frauen sich bereits vor ihrer Reise nach Südamerika als Prostituierte verdingten. White-slave traffickingwird zur Metapher und weniger zu einem realen Geschehen (S. 121). Die Rhetorik rund um den internationalen Mädchenhandel sieht Stauter-Halsted als Teil des polnisch-nationalen Diskurses, zu dem die polnische Nation und ‚ihre‘ Frauen als Opfer wesentlich besser passten: Die bevorzugten Opfer internationaler Mädchenhändler sollen respektable polnische Mädchen aus den Mittelschichten gewesen sein, die oft in nicht-christliche oder vermeintlich „unzivilisierte“ Länder entführt würden. Der klassische Entführer wiederum wurde gerne als Jude imaginiert; der polnisch-nationale Diskurs um den internationalen Mädchenhandel war mithin durchsetzt von antisemitischen Stereotypen. Was Keeley Stauter-Halsted an dieser Stelle besonders interessiert, ist die Frage, warum das Bild des Juden als Mädchenhändler so virulent war. Sie beantwortet diese mit dem Verweis auf jüdische Lebensweisen, die beispielsweise das Heiraten einfacher machten, was es jüdischen Männern leichter ermöglichte, Frauen als ihre Ehefrauen ins Ausland zu transportieren. Stauter-Halsted leugnet den polnischen Antisemitismus mitnichten; gelegentlich jedoch wäre es wünschenswert gewesen, sie hätte ihn ernster genommen. Dann etwa, wenn die dezidiert antisemitischen Pogrome gegen Bordelle in Warschau 1905 lediglich als Auftakt eines Kapitels herhalten müssen, das sich dann gänzlich anderen Themen widmet, nämlich der Entwicklung von Wohltätigkeitsorganisationen, die Prostituierte qua Erziehung und Arbeit in ein geregeltes Leben weisen wollten. Zu den Pogromen im Warschauer Rotlichtviertel selbst erfährt man hingegen nur wenig, was bei einem Buch, das doch eigentlich Prostitution behandelt, überrascht.

Andererseits ist aber Prostitution in Keely Stauter-Halsteds Buch tatsächlich oft nur ein Vehikel, um die polnische Nationswerdung zu verstehen. Der Großteil ihrer Analyse richtet sich auf die Frage, wie die Existenz von Prostituierten zum Projekt der polnischen Nation passte. Und ihre Antwort ist überraschend, denn sie lautet: sehr gut. Auch hier bewegt sich Stauter-Halsted ganz im Fahrwasser der Kulturgeschichte und ihrer Obsession mit dem Begriff der Moderne. Doch während die meisten Kulturhistoriker die Ambivalenzen und Schattenseiten der Moderne betonen, schlägt sich Stauter-Halsted ganz auf die Seite der Zukunft und des Fortschritts. Sie schreibt die Geschichte der polnischen Nationalbewegung als eine Erfolgsgeschichte, indem sie den inklusiven Charakter der polnischen Nation hervorhebt. Diesen macht sie am Umgang mit Prostituierten fest, der sich von einem sittlich-moralischen zu einem wissenschaftlich-rationalen gewandelt habe. Für den sittlich-moralischen Umgang des 19. Jahrhunderts steht die Verurteilung der Prostituierten als „gefallen“ und ihre regulatorische Kontrolle durch die Polizei; den wissenschaftlich-rationalen Umgang erblickt sie in dem Umstand, dass sich die Mediziner seit der Gründung der zweiten polnischen Republik nach 1918 gegen die Polizei durchgesetzt haben und die Aufsicht über die Prostituierten nun in ihrer Hand lag. Nicht mehr moralische Verurteilung stand im Vordergrund, sondern das Lösen volksgesundheitlicher Probleme – allen voran sexuell übertragbarer Krankheiten. Prostituierte, so Keely Stauter-Halsted, wurden nicht als soziale Außenseiter gebrandmarkt, sondern in die neue polnische Nation inkorporiert. Die Eugenik, die sich seit der zweiten Dekade des vergangenen Jahrhunderts auch im zukünftigen Polen etablierte, erscheint bei Stauter-Halsted als unbedenkliche Wissenschaft, die Kriminologie als eine positiv konnotierte Möglichkeit zur Verbesserung der Welt – von Exklusion, Rassismus oder Antisemitismus schien Stauter-Halsteds Polen in den zwanziger Jahren meilenweit entfernt zu sein. Auch dieser Befund überrascht sowohl im Lichte der Traditionslinien des 19. Jahrhunderts als auch angesichts des weiteren Verlaufs polnischer Geschichte.

Stauter-Halsteds Geschichte der polnischen Prostitution möchte insofern eine dezidiert „polnische“ sein, als sie immer wieder vermeintlich polnische Spezifika betont. Der inklusive Charakter des polnischen Nationalstaatsprojekts lasse sich an der ungewöhnlich progressiven Aneignung kriminologischer und anderer biomedizinischer Theorien festmachen, etwa der Degenerationstheorie. Stauter-Halsted bemüht oft die französische oder italienische Tradition dieser Wissenschaften oder zieht den Vergleich mit Londoner oder Pariser Diskursen. Was allerdings als Vergleichsfolie viel eher auf der Hand liegen würde, nämlich die Aneignung und Fortentwicklung dieser Theorien durch deutsche, k. und k. und russische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sowie deren Rückwirkung auf den polnischen Diskurs kommt leider nur kursorisch vor. Dies führt dazu, dass Stauter-Halsted die Fusion unterschiedlicher kriminologischer Theorieschulen als dezidiert polnisches Phänomen beschreibt, während doch die gleiche eigentümliche Fusion auch unter russischen Wissenschaftlern weit verbreitet war.

Keeley Stauter-Halsteds Geschichte der Prostitution ist reich an Quellen und Thesen, es liefert eine Plethora an Themen. Historiker wie Studenten nehmen eine Menge mit und werden zugleich gefordert. Das Buch regt – in bester akademischer Tradition – zum Widerspruch an.

Alexandra Oberländer, Bremen

Zitierweise: Alexandra Oberländer über: Keely Stauter-Halsted: The Devil’s Chain. Prostitution and Social Control in Partitioned Poland. Ithaca, NY, London: Cornell University Press, 2015. X, 379 S., Abb. ISBN: 978-0-8014-5419-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Oberlaender_Stauter-Halsted_The_Devils_Chain.html (Datum des Seitenbesuchs)

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