Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Armin Peter

 

Industrialisierung und Nationalisierung. Fallstudien zur Geschichte des oberschlesischen Industriereviers im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Lutz Budraß / Barbara Kalinowska-Wójcik / Andrzej Michalczyk. Essen: Klartext, 2013. 372 S., Abb., Tab., Graph. = Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa, 40. ISBN: 978-3-8375-0378-4.

Inhaltsverzeichnis:

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Der wechselhafte Weg Oberschlesiens in die Moderne, diesen Themenkomplex greifen die Herausgeber Lutz Budraß, Barbara Kalinowska-Wójcik und Andrzej Michalczyk mit dem vorliegenden Sammelband auf. Dazu nutzen sie das Spannungsfeld von Industrialisierung und Nationalisierung, in welchem sich die 16 Beiträge deutscher und polnischer Autoren bewegen. Das Buch soll dabei keineswegs eine allgemeine und umfassende Betrachtung dieser beiden Prozesse im oberschlesischen Raum darstellen. Vielmehr wollen die Herausgeber es als schlaglichtartige Untersuchung der Verflechtung von Industrialisierung und Nationalisierung, der wirtschaftlichen Entwicklung und der Wanderbewegungen von und nach Oberschlesien verstanden wissen.

Die in ihrer Länge sehr unterschiedlichen Texte stammen von zwei Konferenzen aus den Jahren 2008 und 2009 an der Ruhr-Universität Bochum und der Schlesischen Universität Kattowitz und sind im Buch weitestgehend chronologisch angeordnet. Dadurch entsteht beinahe der Eindruck einer Zeitreise durch Oberschlesien von Anfang des 19. bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es ergeben sich zwar zeitliche Überlappungen unter den Aufsätzen. Da es sich jedoch um Fallstudien zu verschiedenen Orten, Gebieten oder großräumigen Vorgängen in Oberschlesien und auch dem Ruhrgebiet handelt, sind kaum inhaltliche Überschneidungen zu verzeichnen.

So beginnt das Buch – nach einer kurzen Einführung durch die Herausgeber – mit Andrzej Michalczyks maßstäbesetzendem Beitrag, der den Abschnitt lokal begrenzter Fallstudien zum 19. Jahrhundert einleitet. Michalczyk beschreibt den Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft und das Aufbrechen lokaler Loyalitäten, wobei er sich auf einige Kreise im Regierungsbezirk Oppeln konzentriert. Eine besondere Rolle nimmt die Kirche ein, da diese aus einer stark nationalisierten Phase im Vorfeld der Volksabstimmung über den Verbleib Oberschlesiens, zu rein seelsorgerischer Tätigkeit zurückkehrte. Damit sieht Michalczyk gängige Modernisierungstheorien, wie die Ernest Gellners, am Beispiel Oberschlesien scheitern. Der Konflikt spiele sich eher zwischen den Anhängern eines modern weltlichen und jenen eines antimodernistisch klerikalen Gesellschaftsentwurfes ab, nicht zwischen Deutschen und Polen. Die bedeutende Rolle der katholischen Kirche greift auch Bernard Linek auf, der den gesellschaftlichen Umbruch in Biskupitz-Borsigwerk beschreibt. Dies erinnert stellenweise eher an eine Geschichte des Unternehmens Borsig, durch dessen Präsenz viele der Entwicklungen ausgelöst wurden. Linek zeigt vor allem die Berührungs- und Konfliktpunkte zwischen den verschiedenen Gruppen und verschweigt auch die Schattenseiten wie steigende Trunksucht und Kriminalität nicht. Wie Linek geht auch Michał Witkowski auf das Vereinsleben ausführlich ein. Witkowski untersucht die nationale und politische Mobilisierung der Oberschlesier am Beispiel der Stadt Königshütte. Ohne dabei näher auf die Industrialisierung einzugehen, zeichnet er die bedeutende Rolle von Presse und Vereinen nach. Auf polnischer Seite bildeten sich diese über die Grenzen der Teilungsgebiete hinweg. Insgesamt war die propolnische Bewegung dort jedoch erfolglos, auch weil sich der Klerus der nationalen Vereinnahmung widersetzte. Sebastian Rosenbaum dagegen stellt die Industrialisierung und die daraus resultierenden Veränderungen in seinem Beitrag über den Elitenwechsel in Tarnowitz gut dar. Er betrachtet dazu die wirtschaftliche Entwicklung, Änderungen in der Sozialstruktur und verschiedene Aspekte des täglichen Lebens der Industriearbeiterschaft. Dabei reduziert er jedoch alle Aktivitäten dieser Schicht auf den Modernisierungsaspekt. Nationalisierungsprozesse behandelt er nur am Rande, und auch eine über Tarnowitz hinausgehende Betrachtung fehlt, gerade im Vergleich mit den anderen Beiträgen. Barbara Kali­now­ska-Wój­cik wiederum schreibt über die zögerlich anlaufende, von Magnaten getragene Industrialisierung der Städte im Kreis Pless. Ganz im Geiste der neueren Forschung greift die Autorin auch Naturschutzaspekte auf, die u. a. für den heutigen Tourismus bedeutend sind. Die demographische und konfessionelle Entwicklung bespricht sie nur knapp.

Den Anfang des wirtschaftshistorischen Teils macht Stefanie van de Kerkhof mit einem Überblick über die Arbeit der Interessenverbände der Schwerindustrie vor und nach der Teilung Oberschlesiens 1921. Dabei schafft auch sie es, die Verflechtung von Industrialisierung und Nationalisierung aufzuzeigen. Ein besonderer Schwerpunkt liegt hier auf der Lage Oberschlesiens als Grenzregion, samt positiven und negativen Konsequenzen für die Unternehmen. Die Einmischung in die Politik und die Kriegsziele der Schwerindustriellen finden ebenso Erwähnung wie die Folgen des Krieges: zunehmende Abschottung und Nationalisierung beiderseits der Grenze. Zu diesem Ergebnis kommt auch Piotr Greiner, der davon ausgeht, dass durch Krieg und Teilung das wirtschaftliche Geflecht in der Region zerstört wurde. Er konzentriert sich dabei vor allem auf die polnische Seite der Grenze, kommt aber kursorisch auch auf Deutschland zu sprechen. Mit Spezialfällen der wirtschaftlichen Entwicklung beschäftigen sich Harald Wixforth, der den Bankensektor untersucht, und Helmut Maier, der die Elektrizitätswirtschaft behandelt. Wixforth beschreibt vor allem die diplomatischen Verwicklungen zwischen Deutschland und Polen um die Banken. Mit dem Auswärtigen Amt war auf deutscher Seite ein Akteur beteiligt, der die Banken entgegen jeder ökonomischen Vernunft für seine Deutschtumspolitik zu instrumentalisieren suchte. Maier wiederum gelingt es, die Randlage der Region beiderseits der Grenze anschaulich zu illustrieren, auch mithilfe von Karten. Diese Randlage ist es auch, welche Oberschlesien in den Planungen der Nationalsozialisten im Laufe des Krieges immer wichtiger werden ließ. Maier beschreibt diesen erzwungenen Weg von der nicht ans Verbundnetz angeschlossenen Grenzregion zur Konzentration auf die oberschlesischen Kohle als Primärenergieträger der Stromerzeugung. Kriegsereignisse spielen dabei kaum eine Rolle, der Einsatz von KZ-Häftlingen wird aber thematisiert. Daran schließt Mirosław Sikora mit einer allgemeineren Regionalstudie zur Raumplanung durch die NS-Verwaltung an. Mit der „Theorie der zentralen Orte“ und ihrer Umsetzung beschreibt Sikora einen zentralen Aspekt der Raumplanung. Durch ihren umfassenden Charakter entstanden Spannungen, etwa zwischen der völkischen Siedlungspolitik und der Wirtschaft, die nicht auf polnische Arbeitskräfte verzichten wollte. Sikoras Fazit fällt durchaus gemischt aus. Manche Planungen haben zwar auch im Nachkriegspolen Verwendung gefunden, aber andere wurden verändert oder nicht weitergeführt. Mit dem Nationalsozialismus beschäftigt sich auch Mirosław Węcki, der die Strukturen der NSDAP am Beispiel der Stadt Tichau untersucht. Die im Titel stehende Frage „Verführt oder angepasst?“ beantwortet Węcki differenziert. Das parteipolitische Engagement beschreibt er als äußerst individuell, so dass ein breites Spektrum fanatischer, angepasster und sogar gleichgültiger Verhaltensweisen erkennbar ist. Gründe für die Mitgliedschaft in der NSDAP sieht Węcki vor allem im wirtschaftlichen Nutzen und den rechtlichen Privilegien. Die Volkszugehörigkeit nimmt eine nachrangige Stellung ein, sodass er insgesamt eine schwache Bindung der Oberschlesier an die Partei konstatiert.

Die Schilderung des gesellschaftlichen Wandels nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt Bernard Linek. Mit seinem zweiten Beitrag beschreibt er entgegen dem Titel Austausch der Eliten in der Wojewodschaft Schlesien in den Jahren 19451950 eher die Elitenkontinuität. Die Polnische Arbeiterpartei konnte in der Anfangszeit nicht auf das nationale Milieu verzichten. Weder Personal noch Machtbasis waren in ausreichendem Umfang vorhanden. Linek zeigt auf, wie die Zusammenarbeit mit den zuvor verfeindeten Gruppen des antideutschen Lagers und den Beamten des Sanacja-Regimes den Mangel ausgleichen konnte. Tomasz Nawrocki stellt den Konflikt der einheimischen Oberschlesier mit den polnischen Zuwanderern in den Mittelpunkt. Erstere bildeten durch die isolierte Lage ihrer Siedlung einen starken Zusammenhalt aus. Dies führte natürlicherweise zur Zurückweisung von Fremden. Die Problemlage wird dabei durch zahlreiche direkte Zitate plastisch dargestellt. Die Stereotype über die jeweils andere Gruppe lösten sich nur langsam auf, scheinen aber heutzutage, mit wenigen Ausnahmen, weitgehend verschwunden zu sein. Eine ähnliche Entwicklung in den Kreisen Rybnik und Loslau zeigt Bogdan Kloch anhand von Zeitungsberichten für die zweite Hälfte der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts auf. Auch hier zogen Polen zu. Wegen des hohen Bedarfs an Industriearbeitern handelte es sich vor allem um junge Männer, was zu erheblichen Problemen bis hin zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führte.

Die Wanderbewegungen von Oberschlesien ins Ruhrgebiet zeichnet Lutz Budraß nach. Dazu nutzt er auch Tabellen und Karten. Letztere sind jedoch wegen des Schwarz-Weiß-Drucks oft nicht gut zu erkennen. Von einem einzelnen Straßenzug in Bottrop ausgehend, gelingt es Budraß auch allgemeine Tendenzen und Abläufe zu erfassen. Dies beinhaltet die Kettenwanderung und den sozialen Zusammenhalt der polnischen Zuwandererfamilien aus Schlesien, Posen und Ostpreußen. So sagt dieser Beitrag, vielleicht nicht überraschend, mehr über Nationalisierung und Identität der Oberschlesier und Polen aus als die meisten anderen dies vermögen. Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg beschreibt Gregor Ploch kurz die Situation der Oberschlesier im Ruhrgebiet, wo diese keine geschlossene Gruppe mehr bildeten. Den Großteil des Beitrags macht die Betrachtung Oberschlesiens aus, mit dem sich, von den Oberschlesiern abgegrenzt, zunehmend auch die zugewanderten Polen identifizieren.

Insgesamt behandelt der vorliegende Sammelband also diverse Themen und verschiedene Orte, die nicht immer direkt von dem Titel Industrialisierung und Nationalisierung zabgedeckt werden. Insofern lässt sich fragen, ob ein anderer Titel, der allen Beiträgen gerecht würde, nicht vorteilhafter gewesen wäre. Die chronologische Anordnung der Beiträge kann beim Lesen durchaus hilfreich sein. Dies verkehrt sich jedoch ins Gegenteil, wenn nur ein bestimmtes Thema gesucht wird. Die beschriebene Vielfalt macht das Buch für eine breite Leserschaft interessant. Laien und Experten, Oberschlesien-Forscher, Historiker und auch Wissenschaftler etlicher anderer Disziplinen, z.B. Soziologie, Politikwissenschaft und Wirtschaft, dürfen sich angesprochen fühlen. Die Erkenntnisse die aus dem Buch gezogen werden können, sind vielfältig und gehen zuweilen auch über Oberschlesien hinaus.

Armin Peter, Regensburg

Zitierweise: Armin Peter über: Industrialisierung und Nationalisierung. Fallstudien zur Geschichte des oberschlesischen Industriereviers im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Lutz Budraß / Barbara Kalinowska-Wójcik / Andrzej Michalczyk. Essen: Klartext, 2013. 372 S., Abb., Tab., Graph. = Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa, 40. ISBN: 978-3-8375-0378-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Peter_Budrass_Industrialisierung_und_Nationalisierung.html (Datum des Seitenbesuchs)

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