Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 7 (2017), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Raphael Rauch
Lea Wohl von Haselberg: Und nach dem Holocaust? Jüdische Spielfilmfiguren im (west)deutschen Film und Fernsehen nach 1945. Berlin: Neofelis, 2016. 424 S., 54 Abb. = Jüdische Kulturgeschichte in der Moderne, 7. ISBN: 978-3-943414-60-8.
Filme über Juden in der Nachkriegszeit haben in den letzten Jahren immer wieder für Aufsehen gesorgt: so etwa die TV-Verfilmung über Kurt Landauer, den jüdischen Präsidenten des FC Bayern; der Fernsehfilm Let’s go über jüdische displaced persons in München; der Kinostreifen Phoenix über eine Auschwitz-Überlebende, die von ihrem Ehemann für tot gehalten wird. Oder der audiovisuelle Fritz-Bauer-Reigen: Lange Zeit fristete der Holocaust-Überlebende und spätere hessische Generalstaatsanwalt ein Schattendasein. Doch dann widmeten sich innerhalb von zwei Jahren gleich drei Filme seiner Vita – mit jeweils unterschiedlichen Akzenten: Im Labyrinth des Schweigens und Der Staat gegen Fritz Bauer im Kino sowie das TV-Politikdrama Die Akte General. Film und Fernsehen unterliegen gewissen Konjunkturen; zugleich fallen filmische Artefakte nicht in den geschichtslosen Raum, sondern stets in einen politisch aufgeladenen Kontext, was insbesondere für jüdische Figuren in der Geschichte der Bundesrepublik gilt.
Die Selbstverständlichkeit von Juden in Film und Fernsehen ist noch sehr jung, wie Lea Wohl von Haselberg in ihrer mit dem Joseph-Carlebach-Preis ausgezeichneten Dissertation Und nach dem Holocaust? Jüdische Figuren im (west)deutschen Film und Fernsehen nach 1945 herausgearbeitet hat. Nach zahlreichen Arbeiten zum NS- und Holocaust-Film rückt damit die Zeit der Bundesrepublik in den Fokus der Forschung.
Auch wenn die Arbeit spezifisch medienwissenschaftliche Züge trägt und am „Fachbereich Sprache, Literatur, Medien“ der Universität Hamburg entstanden ist, gibt sie auch über Fragestellungen der osteuropäischen Geschichte Aufschluss: Schließlich sind Filme eine spannende kulturgeschichtliche Quelle, die Aussagen über Mentalitäten von Gesellschaften ermöglichen, und viele jüdische Figuren haben einen osteuropäischen Hintergrund.
Die Fragestellung der Arbeit lautet, „wie jüdische Figuren, jüdisches Leben und jüdische Themen – mehr oder weniger zeitgenössisch – in deutschen Spielfilmen nach 1945 dargestellt wurden“ (S. 15). Die Verfasserin untersucht, „wie die jüdischen Spielfilmfiguren sichtbar gemacht und wie sie im Einzelnen gestaltet sind“, und will so am Beispiel von Film und Fernsehen „das ‚deutsch-jüdische Verhältnis‘ nach 1945“ beleuchten (S. 14). Der Schwerpunkt liegt damit auf den audiovisuellen Artefakten; den vor allem für Historiker interessanten Produktions- und Rezeptionskontext blendet die Autorin aus.
Die Arbeit ist in vier Kapitel gegliedert: Jüdische Filmfiguren, Jüdische Filmfiguren im Kontext, Kodierungen von Jewishness und Typologie jüdischer Figuren. Für den Begriff Jewishness hat sich die Verfasserin entschieden, weil der deutsche Begriff Jüdischkeit kaum noch geläufig sei. Mit „Jewishness“ geht es ihr „nicht nur um das Judentum der Figuren im Sinne ihrer Religion, nicht nur um ihre jüdische Identität im Sinne eines individuellen, psychologisch perspektivierten Selbstverständnisses“, sondern „um ein umfassenderes Konzept von ‚Jüdischkeit‘ als Eigenschaft der Figuren“ (S. 119).
Durch die Analyse von über 150 Film- und Fernsehprodukten werden verschiedene Muster erkennbar. Jewishness werde vor allem über Orte wie Synagogen, Friedhöfe und Gemeindezentren, aber auch über jüdische Rituale in hebräischer Sprache, sichtbare hebräische Lettern und Judaica wie Kippa, Menora und Mesusa, koschere Speisevorschriften oder jüdisches Essen wie „gefilte Fish“ erzeugt. Auch trügen jüdische Figuren meistens jüdische Namen; über Klezmer- und Klarinettenmusik sowie einzelne jiddische Begriffe werde Jewishness auch auf der auditiven Ebene deutlich. Oft werde mit Stereotypen gespielt: der Bereich „Geld und Arbeit“ werde häufig thematisiert; Juden aus Osteuropa würden oft über jiddelnde oder osteuropäisch akzentuierte Sprache exotisiert.
Mit zunehmendem zeitlichen Abstand zum Holocaust sei die Präsenz von Juden in Film und Fernsehen gestiegen. Waren die fünfziger Jahre von der Weigerung geprägt, sich mit der NS-Zeit auseinanderzusetzen, so ging dies mit der Abwesenheit jüdischer Figuren in Fernsehen und Kino einher. In den sechziger Jahren begann das Fernsehen mit ersten Ansätzen von Aufklärungsarbeit. In den siebziger Jahren nahm die Präsenz deutlich zu, ausgelöst durch die sogenannte „Hitler-Welle“ und die amerikanische TV-Miniserie Holocaust. In den achtziger Jahren stieg die Präsenz exponentiell an, unter anderem mit Filmen, die erstmals eine Innenperspektive der Figuren entwickelt haben und nicht mehr nur als „Spiegelfiguren für eine dezidiert politische Gegenwartsbeschreibung der bundesrepublikanischen Gesellschaft“ fungieren (S. 171). In den neunziger Jahren, die durch die starke Vergrößerung der jüdischen Gemeinde in Deutschland durch Zuzug von Juden aus Osteuropa geprägt waren, entwickelten auch Film und Fernsehen Interesse am vitalen jüdischen Leben in Deutschland; kulturelle und religiöse Traditionen wurden nun „stärker betont und damit die Unterschiede zur nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft“ hervorgehoben (S. 171).
Je größer der Abstand zum Holocaust, desto unverkrampfter wurden die Darstellungsweisen. Bis weit in die siebziger Jahre hätten die Filmemacher bei jüdischen Figuren noch Gleichheit und Ähnlichkeit zu nichtjüdischen Deutschen betont; eine explizit jüdische Kodierung hätte, so die Verfasserin, zu sehr Assoziationen geweckt, die man noch aus dem Stürmer kannte. Der Umbruch von 1989/1990 stelle auch für die filmische Darstellung von Juden eine Zäsur dar: „Die als ambivalent gezeichnete, zwischen ihrem als widersprüchlich empfundenen Deutsch- und Jüdischsein zerrissene, jüdische Figur der second generation wird in den 1990er Jahren […] populär. Ihre Sichtbarkeit wird so groß, dass sie beginnt, andere und möglicherweise auch gegenläufige Aspekte jüdischen Lebens zu verdecken.“ (S. 255)
Die Autorin hat ihr Korpus nach vier Recherchestrategien ausgewählt: Datenbanken mit thematischen Schlagworten, Sekundärliteratur zur filmischen Darstellung der Shoah, Konsultation von Wissenschaftlern und Untersuchung der Werke jüdischer Filmschaffender. Liebhaber einer systematischen Korpus-Zusammensetzung mögen hier vielleicht die Gefahr einer Kontingenz erkennen. Angesichts der bemerkenswerten Vielfalt der analysierten Filme fällt dies jedoch nicht ins Gewicht, auch wenn so mancher wichtige Beitrag durchs Raster fällt, der über eine systematische Auswertung von Programmfahnen und Fernsehzeitschriften ins Auge gesprungen wäre: etwa die Stücke des polnisch-jüdischen Drehbuchautors Leo Lehman, der für deutsche Rundfunkanstalten Fernsehspiele schrieb. In Chopin-Express (1971) kritisierte er etwa die mangelnde Aufarbeitung des polnischen Antisemitismus und wurde so in Polen zur persona non grata. Auch wichtige Serien wie Helmut Dietls Münchner Geschichten bleiben unberücksichtigt.
Abgesehen von der üppigen Materialrecherche und akribischen Auswertung überzeugt die Dissertation durch flüssige Sprache sowie durch klare und präzise Argumentation. Hier und da wird etwas überbewertet – so darf beispielsweise angezweifelt werden, ob dem Zuschauer wirklich bewusst ist, dass die Schauspielerin Iris Berben „als Nichtjüdin mit einem jüdischen Mann verheiratet war, enge Beziehungen nach Israel hat und deshalb häufig mit jüdischen Themen assoziiert“ wird (S. 30).
Jüdische Spielfilmfiguren haben, so das Fazit der Autorin, vor allem zwei Funktionen: Entweder sie geben nichtjüdischen Figuren die Möglichkeit, sich zu Juden, Antisemitismus und dem Holocaust zu äußern und spiegeln somit die bundesrepublikanischen Verhältnisse und konkrete Ereignisse wider, oder sie dienen – oft folkloristisch dargestellt – als Vermittler jüdischen Lebens; über ihre Präsenz werden Einblicke in das Judentum möglich.
Die Jury des Joseph-Carlebach-Preises dürfte sich mit ihrer Auszeichnung leicht getan haben: Lea Wohl von Haselberg hat eine herausragende Studie vorgelegt, die neue Erkenntnisse zur Film- und Fernsehgeschichte, zur bundesrepublikanischen Kulturgeschichte und zum weiten Feld der Jewish Studies liefert. Der Anhang mit Synopsen der Spielfilme ermöglicht einen schnellen Überblick; die ebenfalls abgedruckten analyseleitenden Fragen helfen dazu, die eigenen TV-Sehgewohnheiten zu schärfen. Dass es hierzu auch künftig viele Gelegenheiten geben wird, zeigen nicht nur viele Programmankündigungen, sondern seit 2015 auch der Berliner Tatort – mit seiner jüdischen Ermittlerin Nina Rubin.
Zitierweise: Raphael Rauch über: Lea Wohl von Haselberg: Und nach dem Holocaust? Jüdische Spielfilmfiguren im (west)deutschen Film und Fernsehen nach 1945. Berlin: Neofelis, 2016. 424 S., 54 Abb. = Jüdische Kulturgeschichte in der Moderne, 7. ISBN: 978-3-943414-60-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Rauch_Wohl_von_Haselberg_Und_nach_dem_Holocaust.html (Datum des Seitenbesuchs)
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