Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Oliver Reisner

 

Timo Janca: Zwischen Verklärung und Aufklärung. Identitätssuche in der georgischen Literatur 1801–1989. Kaiserslautern, Mehlingen: Parthenon, 2012. 114 S., 9 Abb. = Wild East, 1. ISBN: 978-3-942994-03-3.

Literaturwissenschaftliche Studien zur Geschichte der georgischen Literatur der letzten 200 Jahre sind eher selten oder erschöpfen sich in einer Zusammenschau (Donald Rayfield The Literature of Georgia, 1994; Heinz Fähnrich Georgische Literatur, 1993). Nicht zuletzt wegen der Sprachbarriere wird die georgische Forschung nicht nur in der breiteren Literaturwissenschaft kaum rezipiert. Der in Jena promovierende Slavist und Germanist Timo Janca hat nun versucht, die Verhandlung nationaler Identität in der georgischen Literatur seit der Annexion Ostgeorgiens durch das Zarenreich im Jahre 1801 über die Annexion durch die Rote Armee 1921 bis zum Zerfall der Sowjetunion und zur erneuten Erlangung staatlicher Unabhängigkeit systematisch zu analysieren. Etwas schablonenhaft und ohne des Georgischen mächtig zu sein, beabsichtigt der Autor zu zeigen, wie „der zweifache Verlust der nationalen Selbstbestimmung Georgiens“ (1801 und 1921) literarisch in Mustern der georgischen Selbstwahrnehmung verarbeitet wird. Außerdem soll die Fremdwahrnehmung der kaukasischen Nachbarvölker (hier exemplarisch der Abchasen) und der regionalen Großmacht Russland auf „jeweils bestimmte[n] Entwicklungsstufen [] anhand von Schlüsseltexten der georgischen Literatur“ nachvollzogen werden. „Entwicklungsstufen“ und Auswahlkriterien sowie der neue „literatur-soziologische Zugang“ werden in der Einleitung nicht diskutiert, genauso wenig wie Fragen nach Wesen und Definition nationaler Selbstbestimmung in der Belletristik. Vermutlich  war die Erreichbarkeit der Texte in deutscher oder russischer Übersetzung ein Kriterium.

Zur Systematisierung werden fünf Formen literarischer Darstellung von Identität für das „Selbst“ (2. Kapitel) und das „Andere“ (3. Kapitel) separat ein- und jeweils für das Zarenreich und die Sowjetunion an literarischen Beispielen vorgeführt, die von der georgischen Romantik über die Avantgarde- bis zur georgischen Sowjetliteratur reichen (Niko­loz Baratašvili, Ilia Čavčavadze, Važa-Pšavela, Galaktion Tabidze, Konstantine Gam­sa­churdia, Guram Rčeulišvili, Erlom Achvlediani). Die Beispiele können hier aus Platzmangel nicht einzeln diskutiert werden. Durch die getrennte Behandlung der Darstellungsformen des Eigenen und Fremden in separaten Kapiteln kann Janca die „kommunizierenden Röhren“ nicht zum Sprechen bringen. Dies gelingt ihm jedoch im 4. Kapitel zum „Sonderfall Abchasien“, indem er die verschiedenen literarischen Identitätsentwürfe aufeinander bezieht (Bagrat Šinkuba, Fazil Iskander). Deutlich wird, dass auch in der Literatur sich gegenseitig ausschließende Muster und Darstellungsformen entstanden, die einen Dialog der verschiedenen literarischen Identitätsentwürfe verhinderten.

Jedoch wirken diese Muster nach 1991 fort, ja eskalieren mit dem Fortfall der Fremdherrschaft sogar zum Bürgerkrieg, wie im abschließenden 5. Kapitel im Ausblick deutlich wird. Mit einer massiven Personalisierung von Geschichte geht eine extreme Freund-Feind-Akzentuierung einher, welche „die tiefe Uneinigkeit der eigenen Identität“ (S. 98) der Georgier verdeutliche. Einerseits degradiere sie die Bevölkerung zu unbeteiligten Statisten und entledige andererseits die Täter ihrer tatsächlichen Verantwortung. Der auf Deutsch verfasste Roman Muzal. Ein georgischer Roman des deutsch-georgischen Schriftstellers Givi Margvelašvili sowie Irina Bakanidzes Novelle Licht, du mein Licht (1994) verweigerten ein verbindliches Konzept eigener Identität, was „auch eine Reaktion auf die Instrumentalisierung von Identitätskonzepten durch die Politik“ (S. 101) sei. Folglich entstünden „Konflikte nicht aus einer realen Bedrohung durch den Anderen, sondern werden aus machtpolitischen Erwägungen initialisiert“ (S. 101–102). Eine „differenzierte Sichtweise auch in der gegenwärtigen Literatur und Publizistik“ konnte Janca 2008 und 2009 jedoch nicht nachweisen. Dagegen gingen in der russischen Literatur eher Züge einer erörternd-auflösenden Darstellung des Anderen im Austausch mit der georgischen und kaukasischen Kultur (Tolstoj, Mandelštam, Bitov, Makanin) gegen den Mainstream historisch-verklärender Darstellungen und Abwertung des Anderen einher. Für Abchasen und „Südosseten“ (Osseten, die im Autonomen Gebiet Südossetien leben) bleibe die Darstellung des Anderen (imaginiert als das Georgische) undifferenziert und werde durchweg abgewertet, da hier die Verantwortung für den Konflikt um die Unabhängigkeit Abchasiens und eine fortdauernde Bedrohung der eigenen Identität verortet werde. Allerdings weist Janca implizit auf die territoriale Konnotation von Identitäten hin, die sie ja als Ressource für Machteliten so interessant macht. Es sind eben nicht Identitäten, die miteinander kommunizieren, sondern konkrete Akteure, darunter auch viele Vertreter der „schöpferischen“ Intelligenz.

Es wird eine „erste Auseinandersetzung mit der georgischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts in übersichtlichem Zusammenhang und in einer westlichen Sprache“ auf 108 Seiten versprochen, was nur schwer einzulösen ist. Janca kann dank der vergleichsweise guten Situation – ein Erbe der DDR-Literaturpolitik – auf einen breiten Fundus an Übersetzungen georgischer Literatur ins Deutsche und auch ins Russische zurückgreifen. Seinem „neuen literatursoziologischen Zugang“ sind dann jedoch enge Grenzen gesetzt, da er die mit den genannten Werken erfolgte Rezeptionsgeschichte und Diskurse nicht untersuchen kann. Auch das angewandte Analyseraster erscheint sehr schematisch und vor allem statisch, da es sich nur auf kurze Textanalysen weniger literarischer Werke und einer noch geringeren Anzahl an Sekundärliteratur stützt. Der Nachweis von Regularitäten in der literarischen Produktion von Identität fällt dann besonders schwer, weil der konkrete Diskursverlauf und der Kontext ausgeblendet bleiben, in denen die konkreten Werke entstanden sind. Kann dann überhaupt gezeigt werden, wie nationale Identität „des georgischen Volkes“ oder bestimmter repräsentativer Gruppen (Kanzler Solomon für die ostgeorgische „Adelsnation“) in der georgischen Literatur bis 1989 „verhandelt“ wird? Implizit wird hier ein eindimensionaler – auf die Nation beschränkter – Identitätsbegriff verwendet, der das dominante Narrativ in den georgischen Geisteswissenschaften widerspiegelt und nicht so sehr den Zeitgeist des Entstehungskontextes der analysierten literarischen Werke. Gattungsspezifische Merkmale sowie Intertextualität (Puškin) werden nur am Rande in der ohnehin sehr knappen Darstellung erörtert. Daher wäre vielleicht die Bezeichnung Essay für diese Arbeit treffender. Allerdings hat Janca im Rahmen der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten und in einem sehr beschränkten Umfang wesentliche Problemlinien herausarbeiten können, die sicherlich eine Vertiefung verdient hätten. Leider müssen zahlreiche Fehler bei der Wiedergabe georgischer Textauszüge, der Umschrift und Übersetzung aus dem Georgischen (z.B. „Südosseten“ oder in „Čven, poetebi sakartvelosi / Wir, die Dichter Georgiens“, S. 40) bemängelt werden. Es bleibt zu hoffen, dass es nicht bei dieser einzelnen Arbeit zur georgischen Literatur bleiben wird.

Oliver Reisner, Tbilisi

Zitierweise: Oliver Reisner über: Timo Janca: Zwischen Verklärung und Aufklärung. Identitätssuche in der georgischen Literatur 1801–1989. Kaiserslautern, Mehlingen: Parthenon, 2012. 114 S., 9 Abb. = Wild East, 1. ISBN: 978-3-942994-03-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Reisner_Janca_Zwischen_Verklaerung_und_Aufklaerung.html (Datum des Seitenbesuchs)

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