Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Sebastian Rimestad

 

Daniela Kalkandjieva: The Russian Orthodox Church, 1917–1948. From Decline to Resurrection. Abingdon, Oxon, New York: Routledge, 2015. 377 S., 4 Abb., 2 Ktn., 2 Tab. ISBN: 978-1-13-878848-0.

Die Beziehungen zwischen der Russischen Orthodoxen Kirche und dem Sowjetstaat in der Zwischenkriegszeit sind kein neues Thema. Einer der ersten, der sich ihm mit der nötigen Distanz widmete, war Dmitry Pospielovsky (Dmitry Pospielovsky: The Russian Orthodox Church under the Soviet Regime 1917–1982. Volume 1. Crestwood, NY 1984), geschrieben zu einer Zeit, als der Kalte Krieg noch in vollem Gange war, was den Zugang zu Quellenmaterial natürlich stark begrenzte. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind russische Archive leichter zugänglich, und auch die Forschungen zur Beziehung zwischen Staat und Kirche in der Sowjetunion sind regelrecht explodiert. Die meisten Betrachtungen dieser Thematik haben sich das Paradigma der Kirche als einer unterdrückten Institution auf die Fahne geschrieben, was teilweise sicher der Fall war, jedoch die Komplexität des Verhältnisses unterschätzt.

Die bulgarische Historikerin Daniela Kalkandjieva unternimmt in diesem ambitionierten Band den Versuch, die Geschichte des Moskauer Patriarchats in den ersten drei Jahrzehnten der Sowjetunion neu aufzurollen und zwar mit Blick auf die Außenbeziehungen des Patriarchats. Ich nenne diese Aufgabe ambitiös, da es sich hierbei um eine immens vielfältige und komplexe Geschichte über einen relativ langen Zeitraum handelt, der mit politischen Intrigen, verzerrender Propaganda und nachträglichen Beschönigungen durchtränkt ist. Eine Betrachtung muss daher nicht nur Wahrheit von Fiktion trennen, sondern vor allem aus dem komplexen und reichhaltigen Material verschiedener Archive ein zusammenhängendes Narrativ strukturieren. Gestützt auf verschiedene russische und britische Archive gelingt es der Autorin, das überaus komplexe Beziehungsgeflecht zwischen kirchlichen und politischen Akteuren detailliert nachzuzeichnen.

Das Buch besteht aus acht Kapiteln, die chronologisch-thematisch geordnet sind. Jedes dieser Kapitel umfasst einen wichtigen Aspekt der Außenbeziehungen des Moskauer Patriarchats. Durch den geschickten Einsatz von moderaten Wiederholungen gelingt es Kalkandjieva, jedes Kapitel so zu gestalten, dass es auch ohne Kenntnis der vorhergehenden Kapitel in sich verständlich bleibt. Kapitel eins beschreibt den Verfall der Autorität des Moskauer Patriarchats im Zuge des Zusammenbruchs des Russischen Reiches nach 1917. Dies betrifft nicht nur die Abspaltungen in den ehemaligen russischen Randgebieten Finnland, Polen, Baltikum und Ukraine, sondern auch eigenständige Exiljurisdiktionen sowie innerrussische, theologisch motivierte Abspaltungen. Diese Vorgeschichte sei wichtig, um die Wiedergeburt des Patriarchats im Laufe des Zweiten Weltkrieges zu verstehen, so Kalkandjieva.

Die Aktivitäten des stellvertretenden Patriarchatsverwesers (locum tenens), Metropolit Sergij (Stragorodskij), in den Jahren 1939–1941 in den von der Sowjetunion annektierten baltischen und polnischen Gebieten bilden das Thema des zweiten Kapitels. Laut Kalkandjieva war die Entscheidung Stalins, dort nur kirchliche Würdenträger der geschwächten Patriarchatskirche zuzulassen, das erste Zeichen ihrer Wiedergeburt. Diese Periode, die in vielen anderen akademischen Arbeiten zur russischen Kirchengeschichte vernachlässigt wird, habe die weiteren Entwicklungen vorgeprägt. Unter Metropolit Sergij habe die Kirche angefangen, unabhängige kirchliche Strukturen aufzulösen, um sie gleich wieder in leicht abgeänderter Form neu zu gründen.

Kapitel drei behandelt die kirchliche Selbstinszenierung im Laufe des Zweiten Weltkrieges. Anders als viele Kommentatoren, die die Kirche als von Stalin für Propagandazwecke instrumentalisiert betrachten, zeigt Kalkandjieva beträchtliche Eigeninitiative von Seiten der Kirche auf. Es war Metropolit Sergij stark daran gelegen, als Verteidiger des Vaterlandes und Verfechter der heiligen russischen Interessen im Krieg dargestellt zu werden. Die kirchlichen Würdenträger traten in ihren Verlautbarungen und Predigten aktiv für eine positive Rolle des orthodoxen Christentums im Kampf gegen Deutschland ein, während gleichzeitig auch die Einheit der Russischen Orthodoxen Kirche unter locum tenens Sergij wiederholt betont wurde.

Dieselbe Zeitperiode (1941–1943) steht auch im Fokus des vierten Kapitels, diesmal allerdings unter dem Blickwinkel der Beziehungen mit den nicht-orthodoxen Christen in Westeuropa, insbesondere denen anglikanischer Konfession. Im Zentrum steht dabei ein Buch mit dem Titel Die Wahrheit über die Religion in Russland, welches 1942 zu Propagandazwecken in Moskau publiziert und in den Westen verschickt wurde. Dieses Buch, in dem Metropolit Sergij behauptete, es habe nie eine Religionsverfolgung in der Sowjetunion gegeben, stellte die anglikanische Kirche vor ein Dilemma, denn sie wurde von den russischen Bischöfen aufgefordert, eine englischsprachige Übersetzung anzufertigen und zu verbreiten. Die Frage, ob sie sich mit einem solchen Propagandatext in Verbindung bringen lassen sollte, beschäftigte nicht nur die kirchliche Administration, sondern hatte auch diplomatische Brisanz. Die Briefwechsel und Gespräche zwischen anglikanischen und russischen kirchlichen Würdenträgern sowie zwischen britischen und sowjetischen Diplomaten erreichten ihren Höhepunkt mit der Einladung einer anglikanischen Delegation nach Moskau, damit diese sich selbst ein Bild machen könne, wie es mit der Religionsfreiheit in der Sowjetunion stehe.

Kapitel fünf präsentiert dann das, was gemeinhin als Wende in der sowjetischen Religionspolitik beschrieben wird, die erneute Anerkennung des Moskauer Patriarchats durch den Staat und die Wahl Sergijs zum Patriarchen. Diese hastig durchgeführte Wahl, von Stalin selbst angeordnet, führte zu einer Konsolidierung der Moskauer Vormachtstellung in der russischen Orthodoxie. Nicht nur innerhalb Russlands, sondern auch in der Emigration wurden Maßnahmen ergriffen, die zur Beseitigung alternativer russischer orthodoxer Strukturen führen sollten. Gleichzeitig sollte das Moskauer Patriarchat als ‚Zentrum der Weltorthodoxie‘ und ‚Orthodoxer Vatikan‘ inszeniert werden. Dass Patriarch Sergij schon 1944 starb, verzögerte das Projekt ein wenig, aber sein Nachfolger, Aleksij (Simanskij), setzte den Prozess fort.

Diese Fortsetzung wird in den Kapiteln sechs bis acht analysiert, insbesondere in Bezug auf die Erweiterung der Jurisdiktion Moskaus. Kapitel sechs handelt einerseits von der bisher mit Rom unierten griechisch-katholischen Kirche in der Ukrainischen SSR und andererseits von den orthodoxen Gläubigen Zentral- und Osteuropas ohne eigenständige Kirchen. Im folgenden Kapitel geht es dann um die kirchlichen Strukturen der russischen Emigration, die ebenfalls Moskau untergeordnet werden sollten, des Öfteren mit Hilfe politischen Intrigenspiels. Kapitel acht behandelt dann die Beziehungen zwischen dem wiedererrichteten Moskauer Patriarchat und den selbständigen Kirchen auf dem Balkan und im Nahen Osten, wobei auch hier politische Intrigen und gezielte Geldgeschenke die Linie Moskaus attraktiver machen sollten. Dabei stützte das Patriarchat oft auf niedere Kleriker oder eingeschleuste loyale Laien, um Bischöfe zum Umdenken zu bewegen. Wo ein hohes Kirchenamt neu zu besetzen war, erschien auch das Moskauer Patriarchat rasch auf der Bühne mit finanzieller und rhetorischer Unterstützung des bevorzugten Kandidaten. Diese Strategie war oft erfolgreich, denn es gab kaum eine Instanz, die den anderen Kandidaten hätte unterstützen können.

Das letzte Kapitel umfasst letztlich die Versuche der sowjetischen Führung unter Josef Stalin, aus dem Moskauer Patriarchat eine Art ‚orthodoxes Vatikan‘ zu machen. Der Versuch umfasste die Einberufung eines ökumenischen Konzils mit Vertretern aller orthodoxen Teilkirchen nach Moskau, das dann offiziell die Rechte des ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel als Ehrenoberhaupt an das Patriarchat von Moskau übertragen sollte. Obwohl dieses Szenario Anfang 1947 noch durchführbar schien, wurde es mehr und mehr unwahrscheinlich, unter anderem durch den Beginn der Kalten Krieges und die Wahl des Patriarchen Athenagoras von Konstantinopel, ein US-amerikanischer Staatsbürger.

Alle diese Vorgänge, die Kalkandjieva im Einzelnen analysiert, sind von einem hohen Maße an Komplexität gekennzeichnet, aber die Autorin vermag es, daraus ein fesselndes Narrativ zu machen. Sie lässt weder lokale Besonderheiten, Komplikationen auf politischer Ebene, noch individuelle Charakteristika der Akteure aus den Augen. Ihre Quellen aus verschiedenen Archiven in Russland, Großbritannien und Ungarn sowie zeitgenössische Periodika erlauben es ihr, einen hohen Grad an Vollständigkeit zu erreichen, was dieses Buch wertvoller als viele andere Forschungen zur Rolle des Moskauer Patriarchats in Europa macht. So hat z. B. S. V. Bolotov (Russkaja Pravoslavnaja cerkov i meždunarodnaja politika SSSR v 1930-e – 1950-e gody. Moskva 2011) einen sehr ähnlichen Fokus, er benutzt aber nur russische Archive. Kalkandjieva zeichnet eine Linie von der Russischen Kirche von 1917 zu derjenigen von 1948, die es, glaubt man einigen gegenwärtigen Kommentatoren insbesondere aus den Reihen der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland, gar nicht gibt. Sie zeigt, dass Patriarch Tichon (Bellavin) in der frühen Sowjetunion keine Entscheidungen  zur Beeinträchtigung der Jurisdiktion des Moskauer Patriarchats traf, sondern immer nur temporäre Lösungen befürwortete, die seine Nachfolger dann in und nach dem Zweiten Weltkrieg widerrufen konnten.

Trotz allem Lob ist auch dieses Buch leider nicht ohne Schattenseiten. Zum einen hat die Autorin bei der Transkription von Namen einige sehr merkwürdige Entscheidungen getroffen. Der Metropolit und spätere Patriarch Sergij (Stragorodskij) wird zum Beispiel das ganze Buch hindurch als „Starogorodskii“ bezeichnet, was zwar eher nach modernem Russisch klingt, aber nicht sein Name war. Auch der lettische Autor Alexander Cherney, der mehrfach zitiert wird, erscheint immer als „Chernev“, obwohl sein Name gar nicht transkribiert wird. Dass dieser Autor ein einfacher Priester war, ohne jegliche akademische Bildung, übersieht die Autorin ebenfalls und benutzt ihn kritiklos als Informationsquelle. Die Transkription des russischen Bischofsnamen Ioann als Yoann ist eine andere Besonderheit, die ich bisher noch nie gesehen habe. Auch in diese Kategorie fallen Sätze, die sich wiederholen. Dies ist insbesondere der Fall für die Endnoten 24 und 25 in Kapitel vier, die identisch sind.

Zum Zweiten hat die Autorin, die selbst aus Bulgarien stammt, ganz eindeutig mehr Affinität zur Entwicklung in den Balkanstaaten als weiter nördlich. Bei der Darstellung der Ereignisse in Nordosteuropa finden sich mehrere Ungenauigkeiten und Verdrehungen. Dies mag daran liegen, dass die Hauptquelle der Autorin hier der erwähnte Alexander Cherney ist, aber natürlich auch daran, dass sie der Sprachen dieser Ecke Europas nicht mächtig ist. Sie hätte aber z.B. auch neuere englischsprachige Literatur (z.B. Sebastian Rimestad: The Challenges of Modernity to the Orthodox Church in Estonia and Latvia (1917–1940). Frankfurt [usw.] 2012) zu Rate ziehen können. Neben einigen weniger wissenschaftlichen Artikeln fällt auf, dass die gesamte benutzte Literatur vor 2008 erschienen ist, was darauf hindeutet, dass ein Großteil des Textes wohl schon längere Zeit fertig war.

Als drittes vermisst der Rezensent eine allgemeine Auseinandersetzung mit einigen wichtigen Aspekten des behandelten Themas. Da ist einerseits die schon erwähnte Sekundärquellenfrage: Kalkandjieva benutzt Informationsquellen, ohne diese einzuordnen. Besonders zur russischen Kirchengeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts sind die meisten publizierten Beiträge politisch aufgeladen und mehr oder weniger polemisch. Dies müsste unseres Erachtens thematisiert werden, weil Kalkandjieva sich unkritisch auf Autoren wie Alexander Cherney oder solche, die der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland ideologisch nahe stehen, stützt. Andererseits fehlt eine Betrachtung des orthodoxen Kirchenrechts. Die Kanones oder Rechtsvorschriften sowie kirchenrechtliche Argumentationen werden immer wieder erwähnt, aber dem Leser wird nirgends erklärt, dass diese Rechtsvorschriften in der orthodoxen Kirche eine sehr ambivalente Rolle spielen.

Diese Einschränkungen schmälern das Leseerlebnis ein wenig, beeinflussen aber nicht das Fazit zum Wert dieses Buches. Kalkandjievas Studie kann definitiv als ausführliche Analyse der Außenbeziehungen des Moskauer Patriarchats in einer sehr kritischen Periode seiner Geschichte empfohlen werden. Es bleibt das Verdienst Kalkandjievas, dass sie sich mit der gesamten Palette dieser Außenbeziehungen aus beidseitiger Perspektive befasst, was das Buch zu einem Überblickswerk für diesen Aspekt der sowjetischen Geschichte macht.

Sebastian Rimestad, Erfurt

Zitierweise: Sebastian Rimestad über: Daniela Kalkandjieva: The Russian Orthodox Church, 1917–1948. From Decline to Resurrection. Abingdon, Oxon, New York: Routledge, 2015. 377 S., 4 Abb., 2 Ktn., 2 Tab. ISBN: 978-1-13-878848-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Rimestad_Kalkandjieva_Russian_Orthodox_Church.html (Datum des Seitenbesuchs)

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