Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 3 Rezensionen online

Verfasst von: Stefan Rohdewald

 

Historyja Belarusi u šasci tamach. Tom druhi: Belarus’ u peryjad Vjalikaha knjastva Litoŭskaha [Geschichte Weißrusslands in 6 Bänden. Band 2: Weißrussland in der Periode des Großfürstentums Litauen]. Rėdaktary Juryj Bochan, Heorhij Halenčanka. Minsk: Vydav. Sovremennaja škola; Vydav. Ėkoperspektiva, 2008. 685 S., Ktn., Abb. ISBN: 978-985-513-105-3; 978-985-469-204-3.

Die auf 6 Bände angelegte und damit umfangreichste Gesamtdarstellung der Geschichte Weißrusslands, die seit der staatlichen Unabhängigkeit von Belarus 1991 publizierte wurde, und insbesondere ihr hier zu besprechender zweiter Band zur „Periode des Litauischen Großfürstentums“ sind von führenden und nicht nur von politisch genehmen Historikern der Republik verfasst worden. Die Einleitung beschreibt den Gegenstand des Werks als die Darstellung der „belarusischen Länder im Verband des Großfürstentums Litauens“ und gleichzeitig als „Geschichte des belarusischen Volkes im Mittelalter und zu Beginn der Frühen Neuzeit“. Damit vereint die Anlage beide möglichen und problematischen Zugänge einer Staats- oder Nationalgeschichte, die von einem mehr oder weniger willkürlichen Punkt in der Geschichte – meist der Gegenwart – das zu diesem Zeitpunkt etablierte Volk bzw. den Raum des betreffenden Staates möglichst weit in die Vergangenheit zurückprojiziert: Der erste Band des vorliegenden Werkes beginnt denn auch in der Steinzeit. Der zweite Band thematisiert seine Einschränkung auf nur die „belarusischen Länder“ des Großfürstentums mit der These, diese Länder hätten „in vielerlei Hinsicht […] den Charakter dieses mächtigen europäischen Staates geprägt“. Die „Vorfahren der heutigen Belarusen“ hätten in dieser Periode und im Rahmen des „multiethnischen Staates“ erstmals ein einheitliches Volksbewusstsein an den Tag gelegt. Im Gegensatz etwa zum – nicht zitierten – Band von Barbara Topolska wird schon auf der ersten Seite das im Verband jenes Staates vergleichsweise hohe kulturelle Niveau dieses Volkes betont, was sich im Einsatz der „rus’ischen (altbelarusischen)“ Sprache als einer „Kontaktsprache für alle Völker und ethnischen Gruppen sowie der offiziellen Schriftlichkeit“ gezeigt habe (S. 5). Tatsächlich wird in zahlreichen Beiträgen das Adjektiv „rus’isch“ im Sinne von „ruthenisch“ in Anführungszeichen verwendet und damit eine im zeitgenössischen Wortgebrauch begründete Differenz zum modernen „belarus’isch“ oder „russisch“ bewahrt.

Wesentlich ist sodann nicht nur in der Einleitung die Betonung der engen Verflechtung des Gemeinwesens, das unabhängig von der Goldenen Horde war, mit allgemeineuropäischen Vorgängen. Dazu zählt nach 1400 die Festigung einer ständischen und „staatlich-politischen Verfassung europäischen Typs“, während sich in der nordöstlichen Rus’ die Autokratie ausgestaltete. „Häretiker“ und „Freidenker“ Ost- und Westeuropas fanden hier Zuflucht, wobei die Rede von einer „(ständischen) Demokratie“ doch zu weit geht (S. 7). Der Band ist in drei Teile gegliedert: Zunächst werden staatlich-politische, sozialökonomische und konfessionelle Prozesse bis zur Mitte des 15. Jh. geschildert, sodann die „Entstehung und Entwicklung der Ständevertretungsmonarchie“ bis Mitte 16. Jh. und in einem dritten Teil „ethnokulturelle Prozesse“.

Ein vorangestellter umfangreicher historiographischer Abriss bezieht die litauische und polnische sowie die ukrainische und die russische Forschung mit ein. Der unglücklich formulierte Befund einer „Belarusizacyja“ Litauens im 14. Jh. steht am Ende des Abschnitts zum „Staatsschaffungsvorgang“ im Großfürstentum (S. 96). Im Kapitel zur „administrativ-territorialen Aufteilung“ findet die einsetzende Herausbildung auch städtischer Stände Platz. Die Verbindung der lokalen Versammlungen mit dem „veče“ der alten Rus’ namentlich in Polack bleibt zunächst gebührend zurückhaltend  (S. 172). Erst in einem zweiten Schritt erfolgt der unkritische Verweis auf die Passage des Renaissancehistorikers Stryjkowski zum „Polacker Venedig“ als Beleg der Existenz von Städterepubliken (S. 174). Ausführlich werden die kirchengeschichtliche Entwicklung im Wettkampf mit Moskau bis ins 15. Jh. und der Wandel des Machtverhältnisses zwischen den Herrschern Litauens und den Moskauer Großfürsten zugunsten der letzteren umrissen. Die Formulierungen von „sozialen Klassengegensätzen und -Konflikten“ für die beginnende Frühe Neuzeit sind wie auch die vom „Feudalismus“ Überbleibsel der älteren, sowjetischen historiographischen Zugänge. Der stadtgeschichtliche Überblick für das letzte Viertel des 15. Jh. und das 16. Jh. betont zu Recht die beginnende Organisation der Stadtbevölkerung in ständischen und korporativen Verbänden. Er versäumt es aber, die Entstehung von Laienbruderschaften zu Ende des 16. Jh. in übergreifende ostmitteleuropäische konfessionsgeschichtliche Verflechtungen einzubetten (S. 367). Allzu knapp kommen „Kirchen und Konfessionen ethnischer Minderheiten“ (S. 500–504) bzw. Aspekte jüdischer und muslimischer Geschichte zur Sprache. Viele Probleme wirft das abschließende Kapitel zur „Entstehung des belarusischen Ethnos“ auf, das in der Zeit der „Feudalen Zergliederung“ bzw. der Teilfürstentümer der Rus’ ansetzt. Im 16. und 17. Jh. soll die Herausbildung eines belarusischen Volkes stattgefunden haben  (S. 567). Immerhin wird in diesem Zusammenhang auch Aspekten des „polyethnischen“ Zusammenlebens Rechnung getragen (S. 544f). Die Suche nach „geistigen Archetypen“ etc. „der Belarusen“ mit Beispielen aus der „materiellen Kultur“ läuft aber ins Leere (S. 559–568). Nicht nur die Auseinandersetzung mit der neueren ukrainischen Forschung zu ruthenischen Identitäten (Serhii Plokhy) bleibt aus. Eine eigenständige Zusammenfassung rundet den Band ab. Sie sieht insbesondere das 16. Jh. als Wendezeit der dargestellten Geschichte, wobei der im 15. Jh. intensiv einsetzende Wandel hin zur ständischen Gliederung der Gesellschaft aus dem Blick gerät. Jedenfalls wird nicht wie in von slavophilen Geschichtsbildern beeinflussten Texten der Abbruch alter Traditionen der Rus’ durch vermeintlich verderblichen westlichen Einfluss beklagt, sondern durchwegs die Entstehung neuer Formationen, die teilweise auf der alten Grundlage basierten, herausgearbeitet.

Eines der deutlichsten Defizite des umfangreichen Bandes ist, dass die Darstellung von identitätsbildenden zeitgenössischen Diskursen wie Verehrungs- und Erinnerungskulturen (Mathias Niendorf) weitgehend fehlt. Obschon die Darstellung nicht ausschließlich auf die sogenannten „belarusischen Länder“ beschränkt wurde, bleibt die der Konzeption des Bandes geschuldete Ausklammerung der mehrheitlich litauischen Gebiete des Großfürstentums und noch mehr derjenigen der heutigen Ukraine problematisch.

Stefan Rohdewald, Passau

Zitierweise: Stefan Rohdewald über: Historyja Belarusi u šasci tamach. Tom druhi: Belarus’ u peryjad Vjalikaha knjastva Litoŭskaha [Geschichte Weißrusslands in 6 Bänden. Band 2: Weißrussland in der Periode des Großfürstentums Litauen]. Rėdaktary Juryj Bochan, Georhij Galenčanka. Minsk: Vydav. Sovremennaja škola; Vydav. Ėkoperspektiva, 2008. ISBN: 978-985-513-105-3; 978-985-469-204-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Rohdewald_Historyja_Belarusi_Tom_druhi.html (Datum des Seitenbesuchs)

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