Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Grzegorz Rossoliński-Liebe

 

Deutsch-polnische Erinnerungsorte. Band 2: Geteilt / Gemeinsam. Hrsg. von Hans Henning Hahn / Robert Traba unter Mitarbeit von Maciej Górny / Kornelia Kończal. Paderborn, München, Wien [usw.]: Schöningh, 2014. 732 S., 57 Abb. ISBN: 978-3-506-77339-5.

Der zweite Band des fünfbändigen Projekts Deutsch-Polnische Erinnerungsorte ist wie der erste dem Thema „Geteilt/Gemeinsam“ gewidmet. Er besteht aus 34 Beiträgen, die eine große Bandbreite an Personen, Gruppen, Objekten und Stichworten wie „Europa“, „Akt von Gnesen“, „Gastarbeiter“, „Friedrich der Große“ oder „SS“ behandeln, welche als Erinnerungsorte verstanden und untersucht wurden. Den Herausgebern zufolge handelt es sich dabei um Erinnerungsorte, „die in beiden [deutschen und polnischen] Gesellschaften Relevanz besitzen, jedoch in eine unterschiedliche Erinnerungsgeschichte eingebettet sind“. Die meisten Beiträge sind auch entsprechend dieser Methode geschrieben, wodurch ein bi-nationaler Zugang zur Geschichte geschaffen wird, aber eine breitere europäische oder globale Kontextualisierung sowie eine multikulturelle oder hybride Herangehensweise meistens nicht zustande kommt. Obwohl die Auswahl der Erinnerungsorte etwas zufällig erscheint und die Beiträge unterschiedlich gut recherchiert und geschrieben sind, erschließt die Lektüre des Bandes durchaus viele neue und interessante Perspektiven auf verschiedene Aspekte der deutschen und polnischen Geschichte und ebenso einige zeitgeschichtliche Fragen.

Im Beitrag Europa zeigt Maciej Górny, wie Europa von polnischen und deutschen Intellektuellen dargestellt, metaphorisiert und personifiziert wurde, wo seine geographischen und politischen Grenzen erkannt wurden und wie verschiedene kulturelle und politische Prozesse den Bezug deutscher und polnischer Intellektueller zu Europa bedingten, wodurch sie sich mal mehr und mal weniger ähnelten bzw. einander ausschlossen. Ähnlich abweichende oder sich gleichende Erinnerungen an geographische Einheiten werden in den Beiträgen über Amerika, Frankreich und Russland präsentiert. Teilweise ist die Argumentation in diesen Beiträgen stark historisch orientiert und darauf bedacht, die in der polnischen und deutschen Kultur verankerten Assoziationen einander gegenüberzustellen.

Die Erinnerungsorte Maximilian Kolbe und Bromberger Blutsonntag behandeln Themen, die sich entweder einer eindeutigen Interpretation entziehen oder wo durch eine politische Instrumentalisierung der Geschichte unklare Ereignisse klar interpretiert werden. Paradigmatisch ist dafür die Gestalt von Kolbe, eines polnischen Priesters, der in der Zwischenkriegszeit die Zeitungen Rycerz Niepokalanej und Mały Dziennik herausgab, die antisemitische Artikel publizierten, welche unter anderem zum Boykott gegen Juden aufriefen und den Antisemitismus im nationalsozialistischen Deutschland verharmlosten. Im Zweiten Weltkrieg wurde Kolbe in Auschwitz eingesperrt, wo er 1941 Franciszek Gajowniczek (1901–1995) das Leben rette, indem er bei einem Strafappell anbot, anstelle von Gajowniczek selbst mit neun anderen Häftlingen zu sterben. Die Verherrlichung dieser Tat, die bereits 1943 in Kolbes erster Biographie auftauchte, brachte einen weiteren Heiligenkult in Polen hervor: 1947 wurde sein Seligsprechungsprozess eingeleitet, 1971 wurde er vom Papst Paul VI. selig und 1982 von Johanes Paul II. heiliggesprochen. Kolbe wurde zu einer zentralen Identifikationsfigur für die Generation der polnischen Auschwitz-Überlebenden und zu einem Märtyrer der Solidarność. Die weniger schmeichelhaften Seiten seiner Vita wurden in den meisten Biographien verschwiegen. Sie stellten auch eine besondere Herausforderung für die katholische Kirche in Deutschland dar, die die Versöhnung mit der polnischen Kirche suchte (S. 339–348).

Im Beitrag Auschwitz erklärt Zofia Wóycicka wie dieses Konzentrations- und Vernichtungslager in West- und Ostdeutschland sowie in Polen kodiert und interpretiert wurde. In Polen wurde Auschwitz bereits während des Krieges zu einem Symbol des Leidens der polnischen Nation. Zahlreiche im und kurz nach dem Krieg erschienene Publikationen sowie die Hauptkommission zur Erforschung der deutschen Verbrechen gingen offensichtlich nicht auf die Motive der Nationalsozialisten ein und vermieden es, die jüdische Dimension dieses Verbrechens herauszuarbeiten. So wurde 1947 das Museum mit dem Gesetz „Über die Erinnerung an das Leiden der Polnischen Nation und andrer Nationen in Auschwitz“ ins Leben gerufen und das Leiden der dort ermordeten Menschen entsprechend unscharf bzw. propagandistisch dargestellt (S. 615–616). Bis 1990 nahm man sogar in offiziellen Diskursen an, dass in Auschwitz vier anstatt, wie man heute weiß, etwa 1,1 Millionen Menschen ermordet wurden. In der Volksrepublik Polen änderten sich die Ausstellungen im Museum Auschwitz-Birkenau mehrmals und ihr Inhalt wurde jeweils stark von der sowjetischen oder internationalen Politik oder auch von Visionen politischer Eliten bestimmt (S. 617–625). In Ostdeutschland wurde der Holocaust ebenso wie im kommunistischen Polen tabuisiert, aber Auschwitz hatte dort aufgrund des DDR-Narratives vom heldenhaften Kampf gegen den Faschismus eine stärker antifaschistisch-kommunistische und antikapitalistische Konnotation (S. 635–627). In Westdeutschland wurde Auschwitz trotz Publikationen von Joseph Wulf und anderen Historikern erst in den sechziger Jahren durch den Eichmann-Prozess und die Auschwitz-Prozesse entdeckt. Es war aber anders als das bei München liegende Dachau kein konkreter Ort, sondern ein abstraktes und hinter dem Eisernen Vorhang liegendes Lager, das nur von bestimmten Gruppen und Individuen besucht wurde (S. 629–631).

Einen weiteren lesenswerten Beitrag über den Holocaust liefert Magdalena Marszałek, die beim Schreiben von Nicolas Berg unterstützt wurde. Die Autorin erklärt, dass der Judenmord zunächst ein transnationales Schweigen hervorbrachte, wobei vor allem Überlebende – darunter auch Historiker wie Filip Friedman, Szymon Datner oder Artur Eisenbach – sich gegen diese Entwicklung stellten. In Ostdeutschland konnte der Judenmord keine wichtige Rolle spielen, weil der Umgang mit dem Thema stark auf den antifaschistisch-kommunistischen Widerstand reduziert wurde und die Verantwortung für diesen Genozid auf Westdeutschland abgeschoben wurde. In der BRD wurde das Schweigen um das Thema erst in den sechziger und noch einmal verstärkt in den achtziger Jahren durchbrochen. Seitdem wird der Holocaust unter anderem als eine Beeinträchtigung der nationalen Normalität verstanden oder wegen einer ethnisch verstandenen Verpflichtung von einem Teil der Politiker, Intellektuellen und Geisteswissenschaftler als ein ausschließlich deutsches Verbrechen abgebildet, was sein vielschichtiges und transnationales Wesen entstellt und die Erforschung seiner Komplexität verhindert bzw. gar unmöglich macht. In Polen änderte sich der Umgang mit dem Judenmord durch die Debatten in den neunziger Jahren und auch durch die 2001 verlaufene Diskussion um Jedwabne, die beide klar machten, dass Polen zum Holocaust verschiedentlich beigetragen und von diesem Genozid auch profitiert haben.

Der zweite Band des bi-nationalen und sehr umfangreichen Projekts der Erinnerungsorte bringt die bis jetzt mit wenigen Ausnahmen national-orientierte Forschung der Erinnerungsorte voran, indem er die Rezeption der Objekte um eine weitere nationale Perspektive erweitert und die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen ihnen erklärt. Er demonstriert aber auch, wo die Grenzen der geschichtswissenschaftlichen Erinnerungsforschung liegen. So werden den Lesern zahlreiche, meistens durch Intellektuelle oder Politiker erschaffene Bilder von für die kollektive Identität relevanten Gegenständen präsentiert, ohne dass die Geschichte dieser Objekte selbst eingehend beleuchtet wird oder dass vertiefende Forschung durchgeführt wird. So veranschaulicht die Erinnerungsgeschichte zwar, wie nationale Kollektive bestimmte Ereignisse, Personen oder geographische Orte in Erinnerung behalten bzw. wie die Erinnerung an diese Objekte konstruiert wurde und wie wechselhaft oder sogar widersprüchlich sie sein kann. Gleichzeitig lässt sie aber die Geschichte selbst am Ende eines langen Tunnels zufälliger oder absichtlicher Wahrnehmungen und Darstellungen klein und irrelevant erscheinen.

Grzegorz Rossoliński-Liebe, Berlin

Zitierweise: Grzegorz Rossoliński-Liebe über:

Deutsch-polnische Erinnerungsorte. Band 2: Geteilt / Gemeinsam. Hrsg. von Hans Henning Hahn / Robert Traba unter Mitarbeit von Maciej Górny / Kornelia Kończal. Paderborn, München, Wien [usw.]: Schöningh, 2014. 732 S., 57 Abb. ISBN: 978-3-506-77339-5,

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