Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 3 Rezensionen online

Verfasst von: Claus Scharf

 

Janet M. Hartley: Russia, 1762–1825. Military Power, the State, and the People. Westport, CT, London: Praeger, 2008. VIII, 318 S., Tab. = Studies in Military History and International Affairs. ISBN: 978-0-275-97871-6.

Es ist gewiss nicht leicht, den Werken von Dietrich Beyrau, John L. H. Keep, Elise Kimerling Wirtschafter und William C. Fuller, Jr., aus den letzten Jahrzehnten eine weitere Untersuchung der Wechselbeziehungen zwischen Staat, Gesellschaft und Militärwesen im kaiserlichen Russland folgen zu lassen. Obwohl Janet M. Hartley keine grundlegende Revision des Forschungsstandes proklamiert und vor allem die aktuelle, gegenüber dem Sowjetpatriotismus kritische russische Historiographie zu kurz kommt, kann ihr aspektreiches und übersichtlich gegliedertes Buch zweifellos zu den genannten westlichen Standardwerken aufschließen. Umfassende Archivstudien in Russland und Finnland erlauben ihr eigenständige Beurteilungen selbst dort, wo sie etablierte Interpretationen bestätigt. Ihr Werk ist früheren Gesamtdarstellungen darin sogar überlegen, dass sie pauschale Zahlen zur militärischen Stärke durch ihre exemplarischen Erkenntnisse über Faktoren wie Krankenstand und Desertion in einzelnen Garnisonen in Zweifel ziehen kann und dass zahllose Einzelbeobachtungen das Leben in Standorten zwischen Reval und Gižiga am Ochotskischen Meer anschaulich machen.

Zu ausgewählten Thesen der Vorgänger und dem internationalen Diskurs unter dem aktualisierten Paradigma des „Fiskal- und Militärstaates“ bezieht die Autorin mit guten Argumenten Position. Den Begriffen des garrison state, den Richard Hellie und John Keep einführten, eines fortress Russia von John LeDonne oder der „Militarisierung“ des Russischen Reiches begegnet sie mit Vorbehalten. Denn trotz der Beteiligung von Offizieren und Garderegimentern an den Staatsstreichen erkennt sie bis 1825 keinen entscheidenden Einfluss des Militärs auf Staat und Politik. Auch habe der über die Streitkräfte hinausreichende „Militärstand“ durch den langen Offiziersdienst der Adligen und durch das System der Aushebung von Rekruten auf Lebenszeit vom größten Teil der Gesellschaft und vor allem von den ländlichen Lebenswelten getrennt existiert. In den meisten Regionen sei das Militär nicht einmal präsent gewesen, und auch wenn die zivilen Ämter der Behörden und Gerichte nach der Gouvernementsreform Katharinas II. von 1775 vornehmlich aus dem Reservoir ehemaliger Offiziere besetzt wurden, sei die Lokalverwaltung nicht „militarisiert“ worden. Konflikte zwischen Militärangehörigen und der zivilen Gesellschaft in Friedenszeiten verursachten dagegen stets von neuem die erzwungenen Einquartierungen in den militärisch verdichteten Grenzräumen im Süden und Westen. Die irregulären Regimenter der Kosaken, die der Staat in der Steppenzone und im Kaukasus einsetzte und zum Schutz der wandernden Grenzen in Sibirien jeweils neu gründete, die Reiterei der nichtrussischen Völker und die „alten Dienste“ der Einhöfer und Ackerbau betreibenden Soldaten als kleiner freier Grundbesitzer ohne Leibeigene hält die Autorin im internationalen Vergleich für militärisch besonders flexible und relativ kostengünstige Kontingente.

Der nicht militärgeschichtlich zu begründende Zeitraum der Untersuchung leuchtet insofern ein, weil die Autorin als ausgewiesene Kennerin der Regierungen Katharinas II. und Alexanders I. aus einer 50jährigen Vorgeschichte des Krieges von 1812 umfassende Erkenntnisse über das Militärsystem zu gewinnen sucht, mit dem es Russland gelang, nach den Kriegen gegen Osmanen, Polen und Schweden auch die Invasion der Grande armée letztlich siegreich zu bestehen. Entschieden bestreitet sie, dass die in der Kriegführung überlegene russische Militärmacht im Inneren zur Modernisierung beigetragen habe. Der Staat entwickelte für das nur in absoluten Zahlen größte Heer in Europa keine moderne oder gar gesellschaftlich ausgewogene Form der Finanzierung, sondern bürdete die Steuerlasten einseitig den gleichen Bevölkerungskategorien auf, aus deren Mitte die Rekruten gezogen wurden. Mit diesen nicht endlos zu steigernden Einnahmen gelang es jedoch nie, die galoppierende Staatsverschuldung zu drosseln. Vor allem aber habe in Russland das Militärwesen traditionale soziale Unterschiede zwischen Privilegierten und Nichtprivilegierten nicht aufgehoben, sondern verfestigt: Dauerhaft blieb der Dienst des mehrheitlich armen Adels von der Schollenbindung der Bauern abhängig, und neben der Steuererhebung lieferte die Rekrutierungspraxis in den bäuerlichen Gemeinden ärmere und widerspenstige Mitglieder der Willkür der Ältesten aus. Als eher untauglichen Reformversuch charakterisiert die Autorin das unter Alexander I. mit Gewalt durchgesetzte und 1831 abgebrochene „utopische“ Projekt der Militärkolonien, mit dem der Staat eine kostengünstigere Alternative angestrebt hatte. Bis auf die Waffen- und Textilproduktion für Heer und Flotte sei auch kein stimulierender Einfluss auf Industrie und Handel festzustellen, und weder positiv noch negativ habe das Militär auf die Agrarwirtschaft gewirkt. Nicht zuletzt erweist sich Janet Hartley als ideologiegeschichtlich kompetent, ohne dass ihr Ergebnis überrascht: Während im 18. Jahrhundert noch eine enge Verbindung von orthodoxer Identität und Patriotismus zur Motivation der Streitkräfte genügte, wurde das Jahr 1812 entscheidend für die Entstehung des russischen Nationalismus weit über das Militär hinaus.

Claus Scharf, Mainz

Zitierweise: Claus Scharf über: Janet M. Hartley Russia, 1762–1825. Military Power, the State, and the People. Westport, CT, London: Praeger, 2008. VIII. = Studies in Military History and International Affairs. ISBN: 978-0-275-97871-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Scharf_Hartley_Russia_1762_1825.html (Datum des Seitenbesuchs)

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