Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 7 (2017), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Ralph Schattkowsky
Transfer und Vergleich nach dem Cross-Cultural-Turn. Studien zu deutsch-polnischen Kulturtransferprozessen. Hrsg. von Marta Kopij-Weiß und Mirosława Zielińska. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2015. 467 S., 1 Abb. = Studien zum deutsch-polnischen Kulturtransfer, 4. ISBN: 978-3-86583-915-2.
Inhaltsverzeichnis:
https://d-nb.info/1070027405/04
Die Aufsätze von Rainer Adolphi Kulturtransfer. Wissenschaftstheoretische Reflexionen zu einem neuen Sach- und Methodenprogramm und den Herausgebern des Bandes Überlegungen zu den deutsch-polnischen Kulturtransferprozessen aus der Longue-Durée-Perspektive stehen im Block I Zur Einführung am Anfang des Sammelbandes und beschäftigen sich mit Theorien und methodischen Fragen des Kulturtransfers. Während der Auftakttext den Charakter eines philosophischen Traktats besitzt und sein Inhalt und wissenschaftlicher Mehrwert der Rezensent über weite Strecken nicht zu erschließen vermochte, gibt der zweite Aufsatz, mit einem umfänglichen Apparat versehen, einen grundsoliden Überblick über Forschung, Tendenzen und Desiderate. Die Autoren sehen in den Kulturtransferstudien zu den deutsch-englischen und deutsch-französischen Beziehungen wesentliche Impulsgeber für die Forschungen zu den deutsch-polnischen kulturellen Verflechtungen und stellen methodisch einen engen Bezug zur modernen Nationalismusforschung und den Postcolonial Studies her. Eine Hauptaufgabe der Kulturtransferforschung sehen sie deshalb darin, sich von „traditionellen Kategorien der vergleichenden Kulturstudien“ (S. 30) abzusetzen, die, im Sinne der Nationalisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts, als Einflussgeschichte legitimatorische Aufgaben besaßen. Daraus entwickeln die Autoren die Hauptaufgabe der Kulturtransferforschung, nämlich die Beeinflussungsprozesse aus dem Spannungsfeld von „Aneignung und Abwehr“ und der Bewertung als „Eigen/Fremd“ herauszunehmen. Die Kulturtransferforschung muss sich vom traditionellen „Hierarchisierungsraster verabschieden und sich in die Dynamik und Vielschichtigkeit der miteinander verflochtenen Prozesse der interkulturellen Kommunikation“ (S. 31) stellen. In den Mittelpunkt der Überlegungen rückt dabei „die Frage nach soziokulturellen Interaktionen, Wechselbeziehungen und Verflechtungen“ (S. 32), die im Sinne des Spatial Turn der Band anhand der „zur Diskussion gestellten Begriffe: ‚Osten‘ und ‚Ostmitteleuropa‘ als ‚der/das Andere‘ Westeuropa“ (S. 33) zum Gegenstand macht. Der Forschung zur deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte in den letzten Jahrzehnten wird ein fast durchgängig positives Zeugnis ausgestellt und eine Überwindung der bisherigen Konfrontationsmuster attestiert. Beispielhaft werden hier vor allem die Arbeiten zur Stereotypenforschung, dem Polenbild und der Erinnerungskultur genannt. Diese Feststellung sollte als eng bezogen auf die Kulturbeziehungen und gegenseitigen Wahrnehmungen genommen werden, denn hinsichtlich der Arbeiten zu den deutsch-polnischen Beziehungen lasse sich der Quantensprung hin zu einer modernen, objektiven Geschichtsbetrachtung wesentlich weiter zurückdatieren. Im Weiteren exemplifizieren die Autoren ihre Feststellungen über die Fremdwahrnehmung für den Zeitraum bis nach dem Zweiten Weltkrieg, um dann bis 1989 den „Kulturtransfer als Normalisierungskatalysator der Politik“ (S. 38) zu behandeln. Dort, wo durch die Geschichte große Hypotheken aufgebaut waren und die entstandenen politischen Verhältnisse ein Klima des permanenten Misstrauens schufen, waren es die kulturellen Kontakte, die am ehesten unverdächtig Brücken zum gegenseitigen Verständnis bauen konnten. Dass es in diesem Zeitraum zwei deutsche Staaten gegeben hat, wird aus dem Text nicht ersichtlich.
Nach dem Einführungsteil bietet der Band noch weitere drei Komplexe, die sich mit den Themen Angliederung/Transfer, Vergleich und Multikulturalität in insgesamt 22 Beiträgen deutscher und polnischer Wissenschaftler in interdisziplinärer Perspektive befassen. Im zweiten Teil wendet sich Wojciech Kunicki dem immer wieder aktuellen Thema der Übersetzung zu. Er behandelt die Frage kulturspezifischer Kontexte, deren Vergleichbarkeit im deutsch-polnischen Rahmen für den Übersetzer eine besondere Herausforderung darstellen und den sprachlichen Aspekt durchaus überlagern können. Die Bedeutung der kulturellen Nähe macht er am Beispiel der Übersetzung von Ernst Jünger deutlich. In ihrem umfangreichen Beitrag zu Entflechtungsdiskursen im 19. Jahrhundert nimmt Mirosława Zielińska grundlegende Gedanken des Einführungsbeitrages wieder auf und konzentriert sich auf die Veränderung der gegenseitigen Wahrnehmung des deutschen Bildungsbürgertums und der polnischen Intelligenz in den Nationalisierungsprozessen des 19. Jahrhunderts. Sie schildert die Delegitimierungs- und Ablehnungsstrategien auf beiden Seiten, die sich vor allem mit der Revolution von 1848 verbanden. Der Beitrag ist stark sozialhistorisch geprägt und theoriegeladen. Im zweiten Teil geht es vor allem um die Erklärung des polnischen intellektuellen Gedächtnisses aus der Unterlegenheitserfahrung heraus und die Asymmetrie zwischen Vermittlung und Verbreitung polnischer Literatur im deutschsprachigen Raum als Ergebnis von Entflechtungs-, Grenzziehungs- und Homogenisierungsdiskursen. Nach einer umfassenden Einordnung der Romantik als gesamteuropäisches Phänomen der Öffnung gegenseitiger kultureller Wahrnehmungen durch Rainer Adolphi wendet sich Anna R. Burzyńska sehr konkret der polnischen Regietätigkeit im deutschsprachigen Raum nach dem Zweiten Weltkrieg zu. Anhand von 14 polnischen Regisseuren wird der Einfluss polnischer Theaterschaffender in großer zeitlicher Kontinuität deutlich. Damit korrespondiert der Beitrag von Ulrich Steltner, der sich mit der Übersetzung und Aufführung polnischer Dramen an deutschen Theatern beschäftigt. Sowohl für den ostdeutschen als auch zeitversetzt für den westdeutschen Raum hebt er die Bedeutung gerade des Dramas für einen Annäherungsprozess hervor und weiß dafür konkrete Beispiele in sehr interessanter vergleichender Perspektive anzuführen. Die beiden letzten Beiträge dieses zweiten Abschnittes beschäftigen sich mit dem dominanten Thema der Vertreibung und Migration im Kulturtransfer. Katarzyna Śliwińska konzentriert sich auf die Kontroversen um den Begriff der Vertreibung und ihre literarische Verarbeitung nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie macht auf die Dynamik der gegenseitigen Anerkennung von Standpunkten genauso aufmerksam wie auf die nach wie vor herrschende Fragilität in der Behandlung des Themas und betont gleichzeitig die in Deutschland weiter vorherrschende Asymmetrie in der Wahrnehmung von Vertreibung der Polen aus dem Osten und der Deutschen aus dem Osten. Wenn auch anders gelagert, so beschäftigt sich auch der den zweiten Teil abschließende Beitrag von Brigitte Helbig-Mischewski mit Vertreibung. Sie behandelt anhand von Migranten-Schriftstellern mit polnischen Hintergrund sowohl die Verarbeitung ihres Traumas der Flucht und des Exils als auch die kulturelle Wirkung der Fremderfahrung im Ausland.
Der dritte Teil mit seinen Fallstudien ist ein Fundus literarischer Rezeptionen und medialer Vermittlungsräume. Kulturtransfer und kulturelle Vermittlung bzw. Wahrnehmung des Anderen werden bei Mickiewicz, Fontane, Nietzsche, Brecht u. a. behandelt. Hier geht es nicht nur um die Feststellung einer nationalkulturellen Eigenart, sondern auch um die Stellung zu einzelnen gesellschaftlichen Phänomenen und die Art und Weise ihrer Vermittlung. Im letzten Teil schließlich wird der Spatial Turn noch einmal in den Vordergrund gerückt. Grzegorz Kowal wiederholt in seinem Beitrag zu Ostgalizien als „genius loci“ einige Feststellungen, die von der sehr umfangreichen deutschsprachigen Galizienforschung der letzten Jahrzehnte formuliert wurden. Rafał Biskup schildert den besonderen Charakter Schlesiens als Raum ethnischer Mischung und regionaler Identitäten anhand konkreter Beispiele aus neuerer Literatur. Magdalena Kardach schließlich stellt die literarischen Bemühungen zur Rekonstruktion einer Kulturlandschaft durch die Traditionspflege deutsch-polnischer historischer Landschaften dar.
Der Band wird dem in den einführenden Texten beanspruchten breiten und differenzierten Zugang zum Phänomen des Kulturtransfers vollauf gerecht. Die Beiträge arbeiten dabei konzentriert am Thema und halten sich in der übergroßen Mehrheit stringent an die methodischen Orientierungen der Dynamik und Vielschichtigkeit. Die Artikel verschaffen sowohl komplex als auch konkret tiefe Einblicke in die Dimension und Neubewertung des Kulturtransfers in den deutsch-polnischen Beziehungen, vor allem des 20. Jahrhunderts. Der Band besitzt ein Autorenverzeichnis und ein Personenregister.
Zitierweise: Ralph Schattkowsky über: Transfer und Vergleich nach dem Cross-Cultural-Turn. Studien zu deutsch-polnischen Kulturtransferprozessen. Hrsg. von Marta Kopij-Weiß und Mirosława Zielińska. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2015. 467 S., 1 Abb. = Studien zum deutsch-polnischen Kulturtransfer, 4. ISBN: 978-3-86583-915-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Schattkowsky_Kopij-Weiss_Transfer_und_Vergleich.html (Datum des Seitenbesuchs)
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