Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Gerhard Seewann

 

Migration im Gedächtnis. Auswanderung und Ansiedlung im 18. Jahrhundert in der Identitätsbildung der Donauschwaben. Hrsg. von Márta Fata unter Mitarbeit von Katharina Drobac. Stuttgart: Steiner, 2013. 233 S., 18 Abb., 2 Tab. = Schriftenreihe des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, 16. ISBN: 978-3-515-10329-9.

Inhaltsverzeichnis:

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Die 1923 entstandene Bezeichnung „Donauschwaben“ bezieht sich auf die deutschen Kolonisten, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts von privaten Grundherren wie auch  staatlichen Behörden der Habsburgermonarchie im Königreich Ungarn angesiedelt worden waren. Nach dem Zerfall Österreich-Ungarns waren die Jugoslawiendeutschen die ersten, die Ende der 1930er Jahre diese Bezeichnung übernahmen, um ihre Zugehörigkeit zu einem „Volksstamm“ deutlich zu machen, den sie damals als Teil der Länder übergreifenden deutschen „Volksgemeinschaft“ begriffen. Nach 1945 haben sich in Westdeutschland die aus Jugoslawien und Ungarn stammenden Vertriebenen zusammen mit den Aussiedlern aus dem rumänischen Banat diesen Gruppennamen zu eigen gemacht, der jedoch von den im heutigen Ungarn lebenden Nachfahren jener Kolonisten immer noch als Fremdbezeichnung verstanden wird. Diese im Zeitraum von 1923 bis 1950 entstandene Gruppe der „Donauschwaben“ benötigt im Rahmen ihrer Identitätsbildung Mythen, in denen Migrationsprozesse eine entscheidende Rolle spielen. Es geht hier um Prozesse, die sich auf die Ansiedlung im 18. und auf die Vertreibung im 20. Jahrhundert beziehen.

Der hier vorliegende Band setzt sich zum Ziel, „den Stellenwert des Migrationsprozesses im kollektiven Gedächtnis der Donauschwaben an ausgewählten Beispielen zu untersuchen“ (S. 17). Zu diesem Zweck werden Bilder (Christian Glass: Die inszenierte Einwanderung. Stefan Jägers Triptychon „Die Einwanderung der Schwaben in das Banat“ und seine Wirkungsgeschichte, S. 5571), Ansiedlungsfeierlichkeiten (Ingomar Senz: Ansiedlungsfeierlichkeiten in der Batschka. Das Beispiel Filipowa 1938, S. 7186), Zeitschriften (Ferenc Eiler: Identität durch Geschichte. Die Zeitschrift „Deutsch-ungarische Heimatblätter 19291943, S. 87100), Volksschauspiele (Katharina Drobac:  Stefan Kircz, „Die Einwanderer von Tevel“. Ein Lehrstück in Sachen Identitätsbildung, S. 101120), Schulbücher (Ágnes Klein: Geschichtsunterricht und Identitätspolitik. Grundschulbucher der Deutschen in Ungarn von 1868 bis heute, S. 121134), Heimatbücher (Katalin Orosz-Takács: Zwischen Mythos und Realität. Historische Kulminationspunkte in Heimatbüchern der ungarndeutschen Vertriebenen, S. 135154), Ortsnamen (Josef Schwing: Ortsnamen als Identitätssymbole. Das Beispiel der Schwäbischen Türkei (Ungarn), S. 155168), Kirchenbauten (János Krähling: Architektur und Gedächtnisgemeinschaft. Die Kirchen der evangelisch-lutherischen Deutschen im Komitat Tolna in Ungarn, S. 169186) und Denkmäler (Márta Fata, Klaus Loderer: Gedenkkreuz und Ulmer Schachtel. Monumentalisierung der Auswanderung und Ansiedlung der Donauschwaben, S. 187220) untersucht. Allen diesen hier genannten Elementen der Erinnerungskultur ist gemeinsam, dass sie mit ganz wenigen Ausnahmen erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts entstanden sind. Wenn in diesem Zusammenhang die Frage gestellt wird,  „wie der Entstehungsmoment der ‚Wir-Gruppe‘ im kollektiven Gedächtnis gespeichert wurde und welche Formen und Wege der Konstruktion und Inszenierung dieses identitätsstiftenden Elements aufzuzeigen sind“ (ebenda), dann ist darauf hinzuweisen, dass diese „Wir-Gruppe“ nicht zu verwechseln oder gar gleichzusetzen ist mit den Kolonisten des 18. Jahrhunderts, die selbst und deren Nachkommen bis 1918 keineswegs eine über Regionen oder Lokalitäten hinausreichende Gruppenidentität oder gar ein Gemeinschaftsbewusstsein entwickelten, also nach Brubaker eine „ethnicity without group“ darstellten. Der in der Zwischenkriegszeit einsetzende Nachholprozess einer im Vergleich zu anderen Nationalitäten dieses Raumes verspäteten Gruppenbildung intensivierte sich nach 1945, als sich die Interessenverbände der Landsmannschaften als Donauschwaben verorteten, in einer historischen Zeit, die mit der Vertreibung ihren Endpunkt erreicht hatte, und in einem Raum, der endgültig verloren war. Von Verlust geprägte Erinnerungen bedürfen der Mythenbildung, denn nur in ihrem Rahmen kann historische Vergangenheit emotionalen Bedürfnissen folgend wirksam uminterpretiert und somit erträglich gemacht werden. Dazu gehört beispielsweise der Mythos vom leeren, entvölkerten Land, der sich mit den Mythen der creatio ex nihilo der Siedler und deren Kulturträgerschaft zum Ursprungsmythos der Donauschwaben verdichtet. In diesem ethnozentrischen Selbstbild unter Ausgrenzung und Ablehnung aller nichtdeutschen historischen Faktoren und Gruppen bekommt das Schlüsselthema des Zusammenlebens in einer multiethnischen und multikonfessionellen Umgebung keinen Platz, obwohl gerade die kaum zu überschätzende historische Integrationsleistung der Siedler zusammen mit den daraus resultierenden wirtschaftlichen und kulturellen Innovationen und Elementen der Modernisierung für das Königreich Ungarn den eigentlichen Eckpunkt ihrer Geschichte ausmachen. Zahlreiche und  auch in diesem Band im einleitenden Teil zitierte Quellen aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert können dafür als Belege herangezogen werden. So bestätigt sich der Befund des Migrationsforschers Harald Kleinschmidt, der unterscheidet „zwischen den Erfahrungen der Migranten und den Erinnerungen an tatsächliche, vermutete oder erfundene Migrationen in späteren Generationen“, wobei er letztere als Migrationismus definiert. „Migrationismus gehört also stets in den Kommunikationsraum der rückblickend sich erinnernden Gruppen und hat mit den Erfahrungen und Wahrnehmungen von Migranten nichts gemein.“ (Kleinschmidt, Harald: Menschen in Bewegung. Inhalte und Ziele historischer Migrationsforschung. Göttingen 2002, S. 30 und 35). Es ist bedauerlich, dass dieser Forschungsansatz von den Autoren des Sammelbandes nicht aufgegriffen wurde. Keinesfalls ist daher das Selbstbild der Donauschwaben mit dem der Kolonisten des 18. Jahrhunderts gleichzusetzen und dieses ist durch jenes auch nicht rekonstruierbar, auch wenn dies einige Bemerkungen und Schlussfolgerungen in den Beiträgen zu diesem Band suggerieren oder als naheliegend erscheinen lassen. Darauf verweist beispielsweise die Feststellung auf S. 194: „Die Ehrung der eingewanderten Vorfahren mit der Ansiedlung als ein entscheidendes Ereignis, gewissermaßen als Heldentat, zu verbinden, war bei den deutschen Bauern in Ungarn wahrscheinlich verbreitet.“ Die „Heldentat“ ist tatsächlich ein Produkt des Migrationismus, also der späteren Erinnerung, und der Begriff in keinem bislang bekannten Dokument aus dem 18. oder dem frühen 19. Jahrhundert zu finden. Das Zitat stammt aus dem Beitrag von Márta Fata und Klaus Loderer über die Denkmäler, die in Erinnerung an Ansiedlung und Vertreibung in den letzten 100 Jahren errichtet wurden. So verdienstvoll dieser Beitrag auch ist, insbesondere auch der Versuch eines internationalen Vergleichs mit Denkmälern der Amerikawanderer in Europa und den USA, ist doch die Behauptung auf S. 219 zurückzuweisen, dass „nach 1920“ das „Heimatrecht der Donauschwaben in Frage gestellt wurde“. Abgesehen davon, dass der Begriff des Heimatrechtes erst nach 1945 im Vertreibungsdiskurs auftaucht, ist eine solche Infragestellung viel später als 1920, näm­lich durch die Hitler-Rede vom 6. Oktober 1939 eingetreten, als die dort angekündigte Rücksiedlung der „nicht lebensfähigen Splitter des deutschen Volkes“ in die von der SS geleitete Heim-ins-Reich-Aktion mündete, die rund eine Million  von „Volksdeutschen“ zwang, ihre Siedlungen im östlichen Europa (und Südtirol) zu verlassen, um mit ihnen den „Lebensraum“ des „Großdeutschen Reiches“ aufzufüllen. Das hat eine große Verwirrung in allen deutschen Siedlungsgebieten des östlichen Europas hervorgerufen und niemand war sich danach sicher, ob er auf seiner durch Jahrhunderte bewirtschafteten Scholle bleiben konnte oder gehen musste.  Dass zahlreiche Deutsche z. B. in Bessarabien es in diesem Zusammenhang vorzogen, lieber ihr Deutschtum zu verleugnen als Bürger des Dritten Reiches zu werden, ist bis heute ein Forschungsdesiderat geblieben. Doch ist das eine Identitätsvariante, die Beachtung verdient und in verschiedener Ausrichtung und Ausprägung auch in Ungarn oder Rumänien vorzufinden war. Darüber berichtete beispielsweise eine offiziöse ungarische Quelle im Herbst 1939: „Die Schwaben sind sehr still. Als Alptraum bedrückt sie Hitlers Aussage, dass er die im Ausland lebenden Deutschen ins Reich umsiedeln will. … Man kann sagen, dass 90 % der hiesigen Schwaben von einer Umsiedlung nach Deutschland nicht einmal hören will und sie sagen schon offen und immer nachdrücklicher, dass sie nicht gehen werden, ….“ (Zitiert nach Gerhard Seewann: Geschichte der Deutschen in Ungarn, Band 2, Marburg 2012, S. 285).

Der vorliegende Sammelband widmet sich hingegen ausschließlich dem Migrationismus der Donauschwaben und seinen verschiedenen Aspekten, die hier fundiert untersucht werden. Doch ist abschließend noch einmal darauf hinzuweisen, dass die Identitätsbildung dieser Gruppe keineswegs gleichzusetzen ist mit derjenigen der Ungarndeutschen, obgleich auch zu dieser recht wertvolle Beiträge in diesem Band zu finden sind.

Gerhard Seewann, Pécs

Zitierweise: Gerhard Seewann über: Migration im Gedächtnis. Auswanderung und Ansiedlung im 18. Jahrhundert in der Identitätsbildung der Donauschwaben. Hrsg. von Márta Fata unter Mitarbeit von Katharina Drobac. Stuttgart: Steiner, 2013. 233 S., 18 Abb., 2 Tab. = Schriftenreihe des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, 16. ISBN: 978-3-515-10329-9, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Seewann_Fata_Migration_im_Gedächtnis.html (Datum des Seitenbesuchs)

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