Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Marketa Spiritova

 

Kultur als Vehikel und als Opponent politischer Absichten. Kulturkontakte zwischen Deutschen, Tschechen und Slowaken von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 1980er Jahre. Hrsg. von Michaela Marek, Dušan Kováč, Jiří Pešek und Roman Prahl. Essen: Klartext, 2010. 587 S., Abb. = Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa, 37; Veröffentlichungen der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission, 17. ISBN: 978-3-8375-0480-4.

Inhaltsverzeichnis:

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Die 2010 im Klartext Verlag erschienene Publikation geht auf eine Doppeltagung aus den Jahren 2004 und 2005 in Prag und Hamburg zurück und ist dem Andenken an den 2009 verstorbenen Hans Lemberg gewidmet. Dass zwischen Tagungen und Publikation ein großer Zeitraum liegt, ist vermutlich dem immensen Umfang des Bandes geschuldet: 34 Aufsätze auf über 580 Seiten, die in sechs thematische Kapitel gegliedert sind und als „vorläufige Bestandsaufnahmen“ (S. 13) aus verschiedenen Perspektiven Rolle und Funktionen von Kultur im Kontext deutsch-tschechisch-slowakischer Beziehungen beleuchten. Die Beiträge zeigen anhand von exemplarischen, zumeist auf fundierter Quellen- und Literaturarbeit basierenden Beispielen, auf welche Art und Weise – wie auch immer definierte – Kultur als Mittler oder als trennendes Element zwischen Kulturen, Ethnien und Nationen fungieren, und wie sie innerhalb von (Vielvölker-)Staaten und in Diktaturen als „Vehikel“ oder/und als „Opponent politischer Absichten“ ihre Wirkmächtigkeit entfalten kann.

Eine der Stärken des Bandes liegt im Aufzeigen sehr unterschiedlicher Perspektiven auf die vielfältigen internationalen und interethnischen Kulturtransfers, auf die inter- und intrakulturellen Eigenlogiken und Problematiken und die damit einhergehenden Inklusions- und Exklusionsprozesse sowie schließlich auf die Wirkungsmechanismen von Kultur als politischem Instrument in der (ost-)mitteleuropäischen Region des 19. und 20. Jahrhunderts. Den einzelnen Kapiteln sind drei Aufsätze vorgeschaltet, die informativ in die konzeptuellen und begriffstheoretischen Grundlagen einführen. Dabei „reichen“ die „Konzepte von Kultur“ in den einzelnen Beiträgen, verspricht Mitherausgeberin Michaela Marek, „vom traditionellen Begriff der Hochkultur über soziologische und anthropologische Kulturbegriffe bis hin zur Vorstellung von Kultur als kleinräumiger lebensweltlicher Kontext“ (S. 2). Allerdings dominiert letztlich das Konzept von Kultur als einer Hochkultur künstlerischer und bildungspolitischer Eliten und die Frage nach ihrer politischen Instrumentalisierung; eine kulturanthropologische Perspektive auf Kultur, die Kultur als soziale Praxis, als „selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe“ (Max Weber, Clifford Geertz) versteht, bleibt bis auf wenige Ausnahmen (s.u.) leider unberücksichtigt. Ferner wird von einigen Autoren und Autorinnen, und das ist das Problematische an der ansonsten sehr lesenswerten Publikation, ein Kulturkonzept zu vertreten, das Kultur als homogenes Gebilde im Sinne von Ethnie bzw. einer einheitlichen Nationalkultur versteht, und eben nicht als dynamischen, historisch wandelbaren (Aushandlungs-)Prozess von Bedeutungen, von Selbst- und Fremdzuschreibungen, Zugehörigkeiten, Identitäten und Loyalitäten.

Das erste Kapitel behandelt programmatisch die „Kultur als Objekt der Politik“. And­re­as Wiedemann etwa zeichnet überzeugend den Wandel nach, wie in den Grenzgebieten der böhmischen Länder in der Nachkriegszeit mit kultur- und bildungspolitischen Maßnahmen gesellschaftliche Integration, zunächst zum Zwecke einer „Re-Tschechisierung“, ab den fünfziger Jahren dann im Sinne einer sozialistischen „Aufbauarbeit“, betrieben wurde. Volker Zimmermanns fundierte Aktenrecherchen zeigen wiederum die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Kulturpolitiken der DDR/SBZ und der Tschechoslowakei in den 50er und 60er und sie belegen, welch fruchtbare Kulturbeziehungen sich zwischen den beiden Staaten entwickelten, die für die DDR gleichfalls „als wichtiger außenpolitischer Faktor in ihrem Kampf gegen die Bundesrepublik [galten]“ (S. 73). Weitere Beiträge beschäftigen sich mit der slowakischen Kultur unter deutschem „Schutzpatronat“, mit der staatlichen Kontrolle kultureller Beziehungen der Tschechoslowakei zum westlichen Ausland nach der kommunistischen Machtübernahme 1948 sowie mit der Kafka-Konferenz von 1963.

Das zweite Kapitel der Publikation firmiert unter dem weitläufigen Titel „Gesellschaftliche Arenen“ und umfasst drei recht unterschiedliche Beiträge. Es geht um Geld als „Pfeiler nationaler Identität“ in Österreich-Ungarn, um die Beziehung zwischen Kultur und kirchlicher Propaganda sowie um die identitätsstiftende und Kulturtransfer fördernde Funktion von Kaffeehäusern und Weinstuben in Bratislava in der Zwischenkriegszeit. Das dritte Kapitel stellt wieder kultur- und vor allem bildungspolitische Absichten in den Vordergrund und zeigt einmal mehr die Rolle von Kultur als einer „wichtige[n] Waffe in nationalen Auseinandersetzungen“ (S. 153). Diese zeigt sich zum Beispiel in der symbolischen Aufladung des Farbentragens von Burschenschaftsmitgliedern um die Jahrhundertwende, was nicht nur einen Nationalitätenkonflikt zwischen deutschen und tschechischen Verbindungsstudenten zutage förderte, sondern gleichfalls antisemitische und antiklerikale Tendenzen offen legte. Besonders im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts dienen Kultur (und Wissenschaft) der Bildungspolitik als Werkzeug, um national-völkisches Denken in der jeweiligen Gesellschaft zu verankern, wie die Beiträge über die deutsche Mittelschule in der Ersten Tschechoslowakischen Republik, über die Bildungspolitik in der Tschechoslowakei oder über die Prager deutsche Universität verdeutlichen.

Die letzten drei Kapitel verlagern den Fokus auf kulturelle Produkte und Errungenschaften wie Theater, Film und Fernsehen, Feuilleton und Presse, Literatur und Bildende Kunst. Unter den Titeln „Medien: Rezeption, Reflexion, Propaganda“, „Literarische Grenzziehungen“ und „Bildende Künste als Medium von Politik und Diplomatie“ zeichnen die einzelnen Aufsätze einleuchtend nach, wie Kultur, die immer politischer Natur ist, einerseits als Instrument zur Durchsetzung von Ideologien und andererseits als Opponent mit subversiver Kraft, die Gegendiskurse und Gegengedächtnisse entwirft und so nicht nur diktatorische, sondern auch andere politische Systeme untergräbt, fungieren kann.

Helena Srubars Analyse deutsch-tschechischer Kulturkontakte am Beispiel von Kinderserien, die für eine „gelungene kulturelle Überwindung politischer und nationaler Gegensätze“ einerseits und „die Wandelbarkeit von Kultur […] als symbolischer Sinnstruktur oder verdichtetem kollektivem Wissensvorrat einer Gesellschaft“ andererseits steht (S. 330), oder Alfrun Kliems’ vorzüglicher „Nachlese“ des tschechoslowakischen Literaturexils und seiner Rezeption in der BRD (der Exilschriftsteller als „transkultureller Migrant“ und Angehöriger einer hybriden Kultur), gelingt es vielleicht am überzeugendsten, die Konzepte von Hoch- und Alltagskultur zusammenzudenken, und so die politische Dimension von Kultur um eine anthropologische zu erweitern.

Die angedeutete Kritik sowie die in einigen wenigen Aufsätzen spürbare persönliche bzw. empirische Ergriffenheit schmälern den Wert des Sammelbandes keineswegs. Er stellt insgesamt eine gelungene und überzeugende Zusammenschau von Fallstudien dar. Trotz der Fülle und Heterogenität der einzelnen Beiträge spannt er einen nachvollziehbaren Bogen über die vielfältigen Kulturkontakte und ‑konflikte in den Böhmischen Ländern, der Tschechoslowakei und der BRD und DDR/SBZ und zeigt einmal mehr die kaum zu überschätzende Bedeutung der (Hoch-)Kultur für Identitätsbildungs- und damit Selbstverortungs- und Abgrenzungsprozesse auf (trans-)lokaler, (trans-)regionaler und (trans-)nationaler Ebene im 19. und im 20. Jahrhundert auf. Der Sammelband ist außerdem, auch das sollte gelobt werden, hervorragend redigiert und lektoriert und die Übersetzungen aus dem Tschechischen und Slowakischen überzeugen auf der ganzen Linie.

Marketa Spiritova, München/Regensburg

Zitierweise: Marketa Spiritova über: Kultur als Vehikel und als Opponent politischer Absichten. Kulturkontakte zwischen Deutschen, Tschechen und Slowaken von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 1980er Jahre. Hrsg. von Michaela Marek, Dušan Kováč, Jiří Pešek und Roman Prahl. Essen: Klartext Verlag, 2010. 587 S., Abb. = Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa, 37; Veröffentlichungen der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission, 17. ISBN: 978-3-8375-0480-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Spiritova_Marek_Kultur_als_Vehikel.html (Datum des Seitenbesuchs)

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