Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Matthias Stadelmann

 

Monica Rüthers: Juden und Zigeuner im europäischen Geschichtstheater. „Jewish Spaces“ / „Gypsy Spaces“ – Kazimierz und Saintes-Maries-de-la-Mer in der neuen Folklore Europa. Bielefeld: Transcript, 2012. 247 S., Abb. = Reihe Kultur und soziale Praxis. ISBN: 978-3-8376-2062-7.

In der Folge persönlicher Reiseerfahrungen in Südpolen und Südfrankreich entstand, so die Autorin im Vorwort, das Thema ihres Buches: Es geht um „Regeln und Konventionen“ von „inszenierten Bildern und Räumen“ in Krakaus pittoreskem Judenviertel Kazimierz, das inzwischen die Heimstätte eines jüdischen Kulturfestivals ist, und in Saintes-Maries-de-la-Mer, wo alljährlich eine bekannte „Zigeunerwallfahrt“ stattfindet; es geht um „institutionelle Traditionen“, um „Besucher und Zielgruppen“ der beiden Veranstaltungen, um die Gründe für das gestiegene Interesse und seine politischen Kontexte bzw. Diskurse; es geht darum, wer die neu entstehenden „symbolische[n] Ordnungen“ prägt und damit „bestimmt, wie Repräsentationen von Juden und Zigeunern zu deuten sind“. Die „zentrale Frage“ aber ist für Rüthers, was die „unübersehbare Faszination durch zwei alte europäische Minderheiten im größeren Zusammenhang des Neuen Europa“ bedeutet (S. 14).

Angesichts dieser gegenwartsbezogenen Ausrichtung, angesichts der Verortung der thematischen Gegenstände im „europäischen Geschichtstheater“ bzw. in der „neuen Folklore Europas“ überkommen den Osteuropahistoriker starke Zweifel, ob er wirklich den richtigen, d.h. kompetenten Rezensenten für das Buch abgibt. Um eine Besprechung gebeten, kann er freilich nichts anderes tun, als das Werk aus seinem professionellen Horizont heraus zu kommentieren – ob er damit dessen Intentionen gerecht wird, mag er nicht beurteilen. Rüthers’ Buch liegt ohne Zweifel am „Puls der Zeit“; das Thema ist unkonventionell, das methodische Vokabular topaktuell, Inhalte und Ansätze warten mit einer ganzen Phalanx an Konzepten und Codeworten auf, die zum guten Ton kultur- und inzwischen auch geschichtswissenschaftlichen Agierens gehören. Schon eine brainstormartige Aufzählung der Schlüsselbegriffe des Buches offenbart dies: Juden, Zigeuner (über deren politisch korrekte Ethnisierung als Sinti und Roma sich die Autorin selbstredend bewusst ist), Minderheiten, Ausgegrenzte, Grenzgänger, Kontaktzonen, Rollenspiele, Identifikationen, Einschreibungen, „spaces“, konstruierte Räume, „mappings“, imaginäre Topografien, Bildproduktionen, Repräsentationen, Mythen, Schwellenzustände, Möglichkeitsräume, Erinnerungskulturen, Folkloresysteme, Europa, ja, am Ende auch: Globalisierung – da vereint sich Vieles, was derzeit modern und modisch, spannend und geradezu unverzichtbar ist.

Dennoch würde sich der Historiker etwas mehr Stringenz, genauere Zielgerichtetheit, klarere Fragen und klarere Antworten wünschen. Schon das erste, hinführende Kapitel („Schtetl“ und „Zigeunerlager“ als Touristenziele) hätte hier Bringschuld zu leisten. Zwar wird deutlich, dass es der Autorin um kulturwissenschaftliche Hinterfragung der Faszination für Juden und Zigeuner, genauer für die „virtuelle[n], künstliche[n] und inszenierte[n] Räume des Jüdischen und des Zigeunerischen“ (S. 18) geht, aber die Aneinanderreihung von Erkenntnisinteressen, Ansätzen, Hintergründen, Kontexten und anderem Interessanten verwirrt eher, als dass sie konzeptionelle Übersichtlichkeit schafft: So kommen wir von „Europas neuer Folklore“ über „Europäische Integration“ und „Europäische Gedächtniskultur“ zu „Juden und Zigeuner[n] im Geschichtstheater“. Der Abschnitt „Problemfelder und Forschungskontexte“ schweift von Konzept zu Konzept (Nomadismus, imaginäre Geografien, Geschichtstheater, popular memory); es folgen Einschübe zu „Fakten: Einwanderung und Sesshaftigkeit“ sowie zu „Stereotypen der populären Zigeunerromantik“, bevor es wieder zu Forschungsansätzen geht. Am Ende dieser Einführung stellt Rüthers jene, aus der Ritualforschung entnommenen, Konzepte vor, die sie für ihr Thema am vielversprechendsten hält: „Schwellenzustände, Grenzgänger, Möglichkeitsräume“. Dabei sei für die Analyse von Juden und Zigeunern im europäischen Geschichtstheater die Untersuchungskategorie der Liminalität besonders wichtig: Einerseits da „Schwellenerfahrungen und -zustände“, wie sie in traditionalen Ritualen üblich und gerade bei Festivals möglich seien, „liminoide Räume, Möglichkeitsräume“ schüfen, anderseits da sich „liminale Gruppen“ als „Grenzgänger zwischen dem Eigenen und dem Fremden und als Bewohner der Zwischenräume“ fassen ließen (S. 53). Aus der einschlägigen Literatur ist zu erfahren, dass man in Möglichkeitsräumen „Konventionen der Gesellschaft“ transzendieren, Bestehendes überprüfen und Neues imaginieren könne (S. 48) und dass Grenzgänger „Individuen, Typen oder Gruppen“ sein könnten, „deren Lebensweisen sie von den Mehrheitsgesellschaften unterscheiden“ (S. 49).

In Kapitel 2 erzählt Rüthers von Kazimierz, dem ehemaligen jüdischen Viertel Krakaus und seinen Metamorphosen in der jüngsten Vergangenheit. Der Anlage des Buches entsprechend erfährt man über (das reale und historische) Kazimierz wenig, über seine heutigen Konstruktionen und Stilisierungen als „jüdischen Raum“ dagegen viel. Kapitel 3 ist das Gegenstück, das sich der Zigeunerwallfahrt in „France’s Gypsy Mecca“ widmet, Kapitel 4 bringt Ost und West unter dem Titel „Blicke, Bilder, Stereotypen“ deskriptiv wieder zusammen, indem nach den „Blicken auf das Andere“, also auf Juden und Zigeuner respektive Jüdinnen und Zigeunerinnen und ihre medialen Repräsentationen gefragt wird – Carmen, Esmeralda, Judith und Salome bilden hier literarisch prominente Aufhänger. Kapitel 5 bleibt im Bereich der Blicke auf das Fremde, indem es sich der zigeunerischen Migration in Europa und der dem Phänomen unangemessenen „Erfindung des Nomadismus“ durch nichtwissende europäische Regierungen und Gesellschaften widmet. Nachdem inzwischen deutlich geworden ist, „dass Bilder und Vorstellungen eine weit bedeutendere Rolle spielen als Tatsachen“ (S. 179), kehrt Kapitel 6 zurück zu Kazimierz und Saintes-Maries, indem es die „Konstruktionen des Jüdischen […] und des Zigeunerischen“ als „kulturelle Aufführungen“ einer „europäischen[n] Folklore“ zwischen Klezmer und Flamenco anspricht. Wo es um jüdische Erinnerungs- und Ausdrucksorte geht, ist in unserem Horizont die Shoah immer präsent, so dass das 7. Kapitel „unterschiedliche Perspektiven auf die Vergangenheit und die Bedeutung des Holocaust für unterschiedliche Individuen und Gemeinschaften näher beleuchtet“ (S. 199), im Klartext: Erinnerungspolitik, Antisemitismus, Antiziganismus, Opfer-Ranking, hegemonialer Holocaust-Diskurs, Entlastungsrituale, um nur einige Stichworte aus diesen Perspektiven zu nennen. „Was sagen nun die Beispiele von Krakau und Saintes für Europa aus?“ (S. 215) fragt das abschließende 8. Kapitel, und kommt zu dem „zentralen Fazit“, dass „das Judentum als Teil der europäischen Zivilgesellschaften nicht mehr überwiegend von außen definiert und zugeschrieben wird“, die Debatten über den Ein- oder Ausschluss von Roma/Zigeunern aber immer noch im Gang“ seien und diese daher „weiterhin auf der Schwelle Europas“ lebten (S. 226).

Der zur Verfügung stehende Raum reicht nicht aus, um hier die Fragen anzuführen, die die Abhandlung beim rezensierenden Historiker aufwirft, ob auf konzeptioneller oder auf inhaltlicher Ebene. Allzu viele „Geschichte(n)“ im klassischen Sinne gibt es in diesem Buch nicht, stattdessen gibt es Theorien und Konzepte, mit denen versucht wird, den heutigen Konstruktionen und Imaginationen des Jüdischen und Zigeunerischen auf die Spur zu kommen. Die Abhandlung ist stark gegenwartsorientiert und integriert Geschichte vor allem in der (de-)konstruierenden Perspektive eines „Geschichtstheaters“. Vielleicht liegt es auch hieran, dass der Rezensent nach der Lektüre den Eindruck bekam, etwa 230 Seiten befußnotetes Feuilleton gelesen zu haben: niveauvolles, anregendes Feuilleton zwar, von einer klugen, belesenen, dabei stets gegen Bestechungsversuche historischer Faszination immunen Autorin, das aber trotz eines stattlichen Literaturverzeichnisses eher im wissenschaftsessayistischen Duktus gehalten ist. Dieser gibt zwar lohnenswerte Freiheiten zu eigener, manchmal auch belegloser Einschätzung, zu Assoziation und Rhapsodie, mitunter auch zu Wiederholung, schöpft aber das Ertragspotential stringent-konzentrierter Studien nicht zur Gänze aus. Aber, wie eingangs schon betont: Womöglich hat der Rezensent das Buch völlig ‚falsch‘ gelesen und die Anliegen der Autorin sind eigentlich ganz andere. In diesem Fall wäre der Historiker einem Missverständnis aufgesessen – und würde dem Buch kompetentere Leser wünschen, als er es sein konnte.

Matthias Stadelmann, Eichstätt-Ingolstadt

Zitierweise: Matthias Stadelmann über: Monica Rüthers: Juden und Zigeuner im europäischen Geschichtstheater. „Jewish Spaces“ / „Gypsy Spaces“ – Kazimierz und Saintes-Maries-de-la-Mer in der neuen Folklore Europa. Bielefeld: Transcript, 2012. 247 S., Abb. = Reihe Kultur und soziale Praxis. ISBN: 978-3-8376-2062-7, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Stadelmann_Ruethers_Juden_und_Zigeuner.html (Datum des Seitenbesuchs)

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