Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 3 Rezensionen online

Verfasst von: Konstantin Tsimbaev

 

Petr V. Vologodskij: Vo vlasti i v izgnanii. Dnevnik prem’er-ministra antibol’še­vistskich pravitel’stv i ėmigranta v Kitae (1918–1925) [An der Macht und im Exil. Tagebuch eines Premierministers antibolschewistischer Regierungen und Emigranten in China (1918–1925)]. Sost., predisl. i komment. D. G. Vul’fa, N. S. Lar’kova, S. M. Ljandresa. Rjazan’: NRIID 2006. 615 S., 12 Abb., 1 Kte. = No­vejšaja rossijskaja istorija: issledovanija i dokumenty, 9. ISBN: 5-94473-008-0.

Das vorliegende Buch, welches im Rahmen des trilateralen Projekts „Modern and Contemporary Russian History“ veröffentlicht wurde, ist die erste vollständige in Russland erschienene Ausgabe des Tagebuchs von Petr Vologodskij (18631925), des Ministerpräsidenten dreier antibolšewistischer Regierungen, u.a. während der Militärdiktatur Admiral Kolčaks. Zwar sind Name und Nachlass Vologodskijs der Wissenschaft ein Begriff (so arbeiteten u. a. J. D. Smele, N. Pereira, S. Z. Rupp, M. V. Šilovskij, E. A. Kazakova über ihn), doch blieb er bis dato an Rande des Interesses der historischen Forschung. Vologodskij war Jurist, ein fähiger Rechtsanwalt, der 1905 die Revolutionäre verteidigte und die Schwarzhunderter anklagte, Mitglied der Stadtduma in Tomsk (19011917) und Abgeordneter der II. Staatsduma. Vologodskij war ein prominenter Vertreter der liberalen Opposition im ausgehenden Zarenreich, doch Zeitgenossen wie Historiker schätzen ihn v. a. als einen der Hauptakteure des sibirischen Regionalismus (Oblastniki). Nur in Sibirien war er wirklich bekannt. 1918 verdankte er sein Amt lediglich dem Ruf eines Staatsmannes, der für verschiedene politische Gruppen – von den Sozialrevolutionären bis hin zu den monarchistischen Offizieren – akzeptabel erschien. Die These der Herausgeber in der umfassenden Einleitung über seine Rolle in der Außenpolitik der Omsker Regierung kann offensichtlich auf seine ganze Tätigkeit als Premierminister ausgeweitet werden: „Sein Hauptbeitrag zu dieser Politik beschränkte sich auf seine Anwesenheit in der Regierung.“ (S. 36).

Vologodskij beginnt sein Tagebuch im Schlüsselmoment des russischen Bürgerkrieges, und fängt prophezeiend „am Vorabend der großen Ereignisse“ an (S. 56). Von Anfang an betrachtet er seine Notizen als künftige historische Quelle, schreibt betont objektiv und nicht auf sich bezogen. Dies macht das vorliegende Tagebuch zu einem sehr seltenen und originellen Ego-Dokument.

Chronologisch wie thematisch gliedert sich das Tagebuch in zwei ungefähr gleiche Teile: vom Sommer 1918 bis Ende 1919, was für Vologodskij persönlich seine ganze Zeit „an der Macht“ bedeutet; und danach, im Exil, bis August 1925, kurz vor seinem Tode. Dabei kann die moderne historische Forschung v. a. von dreien seiner Hauptsujets profitieren: der alltäglichen Arbeit der Omsker Regierungen und den politischen Auseinandersetzungen im und um den Ministerrat 19181919; der Geschichte der ‚östlichen‘ russischen Emigration; sowie der Rolle des sibirischen Regionalismus bzw. der Oblastniki im Versuch der Wiederherstellung der russischen Staatlichkeit auf antibolschewistischer Basis.

Der Tagebuchautor widmet sich fast ausschließlich dem behördlichen Alltag seiner Amtszeit und kaum den politischen Themen. Er beschreibt detailliert Regierungssitzungen, Reden und Debatten, den Wiederaufbau der von den Bolschewiki aufgelösten gesellschaftlichen und gerichtlichen Einrichtungen und taucht tief in die Regierungsintrigen ein. Auch wenn es um die wichtigsten politischen Fragen geht – wie das Verhältnis zu den Alliierten, den Kampf um eine einheitliche Regierung in Sibirien und die Organisation des gemeinsamen Kampfes gegen die Bolschewiki – beschränkt sich der Erzähler auf die Auflistung von Namen, Gerüchten, fremden Berichten und widmet sich kaum der Analyse.

Das Tagebuch zeigt, dass Vologodskij selbst, wie auch seine ganze Regierung, kaum Einfluss auf die reale Politik hatte. Der Ministerrat stand in keiner Beziehung zu den militärischen Ereignissen, bekam kaum Nachrichten über die Vorgänge, nicht nur im Westen, sondern selbst auf eigenem Territorium, und kontrollierte lediglich einigermaßen die Zulieferungen von den Alliierten und einige wenige Städte. Nach Kolčaks Machtübernahme hatte die bürgerliche Regierung praktisch kaum noch Befugnisse; jedoch blieb ihre Arbeit formell unverändert. Die Berichte Vologodskijs über Sitzungen, Vorträge und Festessen scheinen oft der unsicheren Lage einer provisorischen Regierung mitten im Bürgerkrieg nicht angemessen zu sein. („Während wir gestern abend im Hotel ‚Europa‘ festlich dinierten …, bereitete sich in Omsk ein ernsthafter Aufstand der Arbeiter und Militäreinheiten aus, um die Macht der Bolschewiki wiederherzustellen.“ S. 123) Logischerweise nahm Kolčak fast nie an den Regierungssitzungen teil, interessierte sich kaum für ihre Beschlüsse; manchmal gab er direkte Anweisungen an seinen Premier und ließ sich kaum zu einem Gespräch mit seinen Ministern herab (S. 170f).

Das Tagebuch Vologodskijs liefert keine wesentlichen neuen Erkenntnisse zur Geschichte des Bürgerkriegs, liefert jedoch einige interessante Details über die Kriegshandlungen, über die Militärdiktatur Kolčaks und ihren Sturz, über die Ursachen der Niederlage der „weißen Bewegung“, über die Rolle der Alliierten, über die Emigration weiter Teile der liberalen Kreise. Vologodskij berichtet oft über „die Abenteuerlichkeit der Militärmacht“ (S. 441): „das Verwaltungssystem basierte auf Requisitionen, Verhaftungen, Auspeitschungen ohne Verhör, Abstrafungen ohne Gerichtsverhandlung“ (S. 221). Und als Fazit: „unsere Regierung hat gar keine Freunde, die meisten Institutionen, gesellschaftlichen Organisationen, Parteigruppierungen sind gegenüber der Regierung zumindest oppositionell, wenn nicht feindlich, eingestellt. […] Doch keine der Organisationen, keine der Parteigruppierungen stellt etwas Positives dar, niemand ist zum Schaffen fähig. Die stärksten in ihrer Organisation und in ihrem Einfluss bleiben doch die Bolschewiki“ (S. 215).

Dieses Eingeständnis des „allrussischen“ Premiers und formellen Anführers der antibolschewistischen Staatlichkeit klingt sehr beeindruckend, bleibt jedoch im Rahmen eines konventionellen historiographischen Bildes.

Informationen zum weniger bekannten Thema des Aufstiegs des sibirischen Regionalismus an die Macht, zu seiner Entwicklung und seinem Untergang liefert das Tagebuch eher implizit. Und doch ist es wohl das Wertvollste, was moderne Historiker den Aufzeichnungen entnehmen können. Es wird deutlich, welche Aufgabe Vologodskij als Premier lösen wollte: „in erster Linie unbeugsamen Kampf gegen die Bolschewiki in Sibirien, dann Säuberung des ganzen sibirischen Territoriums von den Bolschewiki, und schließlich Wiederherstellung des großen russischen Staates“ (S. 68). Ebenso deutlich wird die Vision der Oblastniki (viele von ihnen waren Minister in den Regierungen Vologodskijs) über die Zukunft Sibiriens: dass die sibirische Regierung zur „allrussischen“ hätte werden sollen (S. 87), führte zwangsläufig zum Verzicht auf radikale separatistische Forderungen. Das Tagebuch beweist, dass die liberale sibirische Öffentlichkeit in den 1920er Jahren den Separatismus ablehnte und selbst die Oblastniki ihre Hoffnungen auf Autonomie aufgeben mussten.

Der zweite Teil des Tagebuchs liefert zwar zahlreiche Informationen über die ersten Jahre der russischen Emigranten in der Mandschurei, wo sie zum Spielball zwischen den neuen sowjetischen und chinesischen Machthabern wurden, versinkt aber wieder in Lappalien, unbekannten Namen, Gerüchten und Intrigen. Auch die alltagsgeschichtliche Forschung kann nur sehr bedingt davon profitieren. Vologodskij selbst spielte in der Emigration keine politische Rolle mehr, war bemüht, sich als Rechtsanwalt und Angestellter der Chinesischen Osteisenbahn über Wasser zu halten und geriet fast völlig in Vergessenheit.

Die Edition des Tagebuchs ist eine Neuausgabe der von S. Lyandres und D. Wulff in Stanford 2002 besorgten Veröffentlichung. Eine umfassende Einleitung behandelt eingehend die Laufbahn des Autors und die Entstehungsgeschichte seiner Aufzeichnungen. Das Buch wird von einem umfangreichen und sehr informativen Anmerkungsapparat begleitet. Zahlreiche Anmerkungen, eine ausführliche Bibliographie und ein Namensregister, ein Register der geographischen Bezeichnungen und eine Karte sowie einige bis dato unveröffentlichte Photographien bieten eine oft einmalige Grundlage für weitere Forschungen. Für die vorliegende Publikation haben die Herausgeber das Original aus den Beständen der Hoover Institution sowie zwei fragmentarische, von Vologodskij selbst nachträglich überarbeitete Varianten aus weiteren Archiven hinzugezogen. Allerdings bleibt deren Korrelation an manchen Stellen unklar.

Unter mehreren Selbstzeugnissen aus dem russischen Bürgerkrieg und Exil bildet die vorliegende Edition zwar kein bahnbrechendes Dokument, aber doch eine wichtige Quelle, die dem Fachpublikum einen neuen Zugang zum unmittelbaren Erleben von Gesellschaftsgeschichte ermöglicht und Beachtung verdient.

Konstantin Tsimbaev, Tübingen

Zitierweise: Konstantin Tsimbaev über: Petr V.Vologodskij: Vo vlasti i v izgnanii. Dnevnik prem’er-ministra antibol’ševistskich pravitel’stv i ėmigranta v Kitae (1918–1925) [An der Macht und im Exil. Das Tagebuch des Premierministers antibolschewistischer Regierungen und des Emigranten in China (1918–1925)]. Sost., predisl. i komment. D. G. Vul’fa, N. S. Lar’kova, S. M. Ljandresa. Rjazan’: NRIID 2006. = Novejšaja rossijskaja istorija: issledovanija i dokumenty, 9. ISBN: 5-94473-008-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Tsimbaev_Vologodskij_Vo_vlasti.html (Datum des Seitenbesuchs)

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