Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 5 (2015), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Marija Wakounig
Tatjana Tönsmeyer: Adelige Moderne. Großgrundbesitz und ländliche Gesellschaft in England und Böhmen 1848–1918. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2012. 372 S. = Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, 83. ISBN: 978-3-412-20937-7.
Tatjana Tönsmeyer hat mit ihrer überarbeiteten und veröffentlichten Habilitationsschrift eine bemerkenswerte Studie über das Obenbleiben, Stabilisieren und Aushandeln von adeliger „Herrschaft über Land und Leute“ in England und Böhmen vorwiegend in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorgelegt.
Den Vergleich zwischen den insularen und kontinentalen „Großregionen“ – wie die beiden Monarchien genannt werden (vgl. z.B. S. 32) – argumentiert die Autorin überzeugend mit der Darlegung von Vergleichsparametern: Der englische und der böhmische Land(Hoch)Adel verfügten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jeweils etwa über ein Viertel des Grund und Bodens; in beiden Ländern war eine durchschnittliche Besitzgröße von 12.000 Hektar und mehr nicht unüblich. Neben der Besitzstruktur und -größe gab es auch Ähnlichkeiten hinsichtlich des „Besitzschutzes“ (in England das strict family settlement, in Böhmen das Fideikommiss), der Einkommensquellen (u.a. Waldwirtschaft, Industrieunternehmen, Bergbau), der sozialen Abschottung nach unten (Exklusivelite), des Fehlens eines verarmten Kleinadels und des Besitzes von Palais in den urbanen Zentren, die vor allem dem gesellschaftlichen Leben während der Wintersaison dienten; die Landadeligen in diesem Zusammenhang als „die ersten modernen Pendler“ (S. 27) zu bezeichnen ist, bemüht, zumal das Wechseln der Jahreszeitensitze seit der Frühen Neuzeit zum adeligen savoir-vivre gehörte. Weitere Vergleichsmöglichkeiten ergaben sich durch die jeweiligen nationalen Meistererzählungen. Die beiden Landadelsgesellschaften zeichneten aber auch Unterschiede beispielsweise im Zugang zur staatlichen Verwaltung aus. Ein wesentliches Distinktionsmerkmal dürfte den Reiz dieser Studie ausgemacht haben, nämlich die Frage, welchen Einfluss die bereits im Spätmittelalter in England und erst 1848 in Böhmen erfolgten Aufhebungen der Grundherrschaften auf die soziale Praxis des Hochadels hatten. Oder mit anderen Worten: ob sich damit erklären lässt, dass die jagdbesessene englische Aristokratie die Wilderei der Landbevölkerung als Konfliktpotential sah, die nicht minder jagdaffinen böhmischen Herren hingegen den Diebstahl von Holz oder Sand?
Für die Beantwortung der komparativen Forschungsfragen, u.a. wie der Landadel oben zu bleiben versuchte oder wie er die Herrschaft ausgehandelt und welche Instrumentarien er dafür gewählt und herangezogen hat, waren umfangreiche Quellenrecherchen (staatliche wie herrschaftliche (Selbst-)Verwaltungsakten, Selbstzeugnisse, Vereinsakten, zeitgenössische Medien etc.) in Großbritannien und in der Tschechischen Republik unerlässlich, die sowohl durch die Zugänglichkeit als auch die daraus resultierende Selektion eine Beschränkung erfuhren, zumal bei den ausgewählten Adelsfamilien Vergleichsmöglichkeiten gegeben sein mussten, beispielsweise betreffend Ländereien in verschiedenen Regionen bzw. Grafschaften, den Besitz von Unternehmen, Religionszugehörigkeit (England) oder Mehrsprachigkeit (Böhmen). Für die Untermauerung ihrer Thesen und Schlussfolgerung sowie für die methodische Ausführung hat sich Frau Tönsmeyer reichlich einer mehrsprachigen, modernen Referenzliteratur bedient und diese sehr geschickt eingesetzt. Manche überbordenden Informationen in den Anmerkungen wären allerdings besser weggelassen oder einem separaten Aufsatz vorbehalten worden.
Die Autorin leitet ihren sechsteiligen Aufriss mit der Vorstellung des ländlichen Raums in den beiden Untersuchungsregionen ein (S. 45–54), widmet sich im anschließenden Abschnitt den Akteuren der Agrargesellschaft, die den Raum geprägt und gegliedert haben (S. 55–114), und beschließt diesen auch mit einer Zusammenfassung. Dass diese Sinn macht, erschließt sich aus dem Kapitel Die Arbeitswelt der Güter: Praktiken und Konflikte, das sich den jeweiligen Regionen zwar nicht seitenmäßig, jedoch inhaltlich-sachlich ausgewogen widmet (S. 119–192). Im vierten Abschnitt wird den traditionellen Formen der Adelsherrschaftsstabilisierung, d.h. den charity-Aktivitäten, den Patronagen, der Armenfürsorge und den Bildungsinitiativen nachgegangen, ferner dargestellt, wie der Adel seine im Jahreszyklus und Lebensrhythmus stattfindenden Feste zelebrierte, sowie auch die jeweiligen Unterschiede (fein ziseliert) herausgearbeitet (S. 193–263). Das fünfte Kapitel darf als doppelter Vergleich interpretiert werden, geht die Autorin doch nicht nur auf die regionalen Unterschiede ein, sondern arbeitet auch den Unterschied zu Kapitel 4 heraus und widmet sich den zeitgemäßen Möglichkeiten, die Adelsherrschaft zu stabilisieren, die wären: Lokalverwaltung sowie Vereine und Verbände (S. 263–306). Im sechsten und abschließenden Kapitel wagt die Autorin einen Nutzen des Vergleichs für die europäische Geschichte, was soviel bedeutet, wie auf zweiundzwanzig Seiten die „Adelige Moderne“ in „Herrschaft, Staat, Nation und Klasse“ einer Analyse und auch Qualifizierung zu unterziehen. Abgeschlossen wird die Monographie durch ein Abkürzungs-, ein aufgeschlüsseltes Quellen- und Literatur-, sowie ein zweifaches Ortsnamensverzeichnis; bei letzterem ist nicht nachvollziehbar, warum es ein tschechisch-deutsches und ein deutsch-tschechisches gibt, denn eines hätte gereicht.
Unbeschadet der minimalen Kritikpunkte – wie der unpassende Pendlervergleich (S. 27), die Unterstellung, wenn auch in Anführungszeichen, dass einige Adelsgeschichten von „‚ihren‘ Historiographen“ verfasst worden seien (S. 35), die nicht ganz treffende Zustandsbeschreibung der tschechischen Adelsarchive (S. 42), das Fehlen eines Personenregisters, oder die Jahreszahlen im Titel, die mehr versprechen als sie halten (können) – sind Fakten festzuhalten, die die Attraktivität und auch Notwendigkeit dieser Studie belegen: a) der strukturelle Vergleich von Adelsgesellschaften zweier Monarchien, die sich auf den ersten Blick nicht dafür anbieten; b) die Fragestellung nach den Praxen, wie adelige „Herrschaft über Land und Leute“ begründet und gehalten werden konnte; c) der Beweis, dass Adelsgeschichte nicht Niedergangsgeschichte bedeutet, sondern eine spannende Darstellung einer durchaus im Aufbruch befindlichen, sich an die politischen Gegebenheiten adaptierenden Elitengeschichte sein kann – wenn man es zulässt; d) das Zurechtrücken manch lieb gewordener Vorurteile wie jenes vom per se „geschäftsfeindlichen“ und folglich wirtschaftlich rückständigen Adel; e) der Nachweis, dass Vereine und Verbände als Stabilisierungsfaktor und Ausbaubasis der „Herrschaft über Land und Leute“ erkannt wurden etc. Mit ihrer Monographie hat Tatjana Tönsmeyer ein Forschungsdesiderat erfüllt und die Erfordernis für weitere (Vergleichs-)Studien über den europäischen Adel nachhaltig aufgezeigt.
Zitierweise: Marija Wakounig über: Tatjana Tönsmeyer: Adelige Moderne. Großgrundbesitz und ländliche Gesellschaft in England und Böhmen 1848–1918. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2012. 372 S. = Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, 83. ISBN: 978-3-412-20937-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Wakounig_Toensmeyer_Adelige_Moderne.html (Datum des Seitenbesuchs)
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