Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Tobias Weger

 

Benedict Wagner-Rundell: Common Wealth, Common Good. The Politics of Virtue in Early Modern Poland-Lithuania. Oxford: Oxford University Press, 2015. XI, 189 S. = Oxford Historical Monographs. ISBN: 978-0-19-873534-2.

Lässt sich eine auf „virtus“ aufgebaute Politik realisieren? Diese Frage beschäftigte bereits Autoren im antiken Griechenland wie Aristoteles oder Cicero, die sie beide bejahten und die Unterordnung des Individuums unter die moralische Kategorie der „virtus“ als Voraussetzung für das politische Wesen ansahen – im Unterschied zum privaten Wesen, das Sicherung von Besitz, individuelle Freiheiten usw. in den Mittelpunkt seines Handelns rückt. Benedict Wagner-Rundell legt eine konzise Studie vor, die jene Frage am politischen Denken und Tun der polnischen Szlachta um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert überprüft. Es handelt sich, so viel sei an dieser Stelle gleich gesagt, um eine brillante Untersuchung des politischen Denkens eines wichtigen Teils der polnischen Eliten in der Frühen Neuzeit. Mit seiner diskursanalytischen Herangehensweise, die gleichwohl nie die strukturellen Realitäten aus dem Auge verliert, gelangt der Autor zu Einsichten, die in der Forschung zur Frühen Neuzeit der Rzeczpospolita innovativ und originell sind. Seine stilsichere und argumentativ gewandte Darstellung liest sich flüssig.

Das mangelhafte Funktionieren des Systems deutet der Verfasser auf der Grundlage zeitgenössischer Diskurse als moralisches Versagen der Eliten, das eine Renaissance der „virtus“ im politischen Diskurs nach sich gezogen habe. Die Betonung der Tugendhaftigkeit sei dabei weder eine Flucht vor den tatsächlichen Herausforderungen noch eine Worthülse für mangelnde Reformbereitschaft gewesen – ganz im Gegenteil: An einem Mangel an Reformwillen habe es zur Zeit König Augusts II. nicht gefehlt, das Scheitern erkläre sich vielmehr aus den Spannungen zwischen verschiedenen Reformansätzen und der ausgebliebenen Verständigung auf ein einzelnes Konzept. Das angelsächsische Staatsdenken jener Zeit, das nicht von der Überwindung, sondern der Einbindung und Kanalisierung privater Interessen im institutionellen Gefüge ausging, habe bei der Szlachta zu jener Zeit keinen nennenswerten Widerhall gefunden. Stanisław Herakliusz Lubomirski etwa sei davon ausgegangen, nicht die Institutionen, sondern das persönliche Verhalten der Einzelnen verlange nach Reformen.

Dabei habe in der Rzeczpospolita nicht prinzipiell ein Mangel an Reformansätzen geherrscht. Diese seien allerdings zugunsten von Ansätzen zu einer Steigerung der „virtus“ zurückgedrängt worden. Das Versagen des Staates im 18. Jahrhundert hätten die meisten Angehörigen der Szlachta nicht mit dessen Systemschwierigkeiten erklärt, sondern mit menschlichem Versagen. Dabei führt Wagner-Rundell eine Reihe von Autoren an, die durchaus zu radikalen Reformen (bis hin zu einer Reform des Sejm und zur Abschaffung des Liberum Veto) bereit gewesen seien; in ihren Argumentationen hätten sie jedoch erneut die Tugend als Gegenpol zum herrschenden Sittenverfall herausgestellt, so dass die „virtus“ auch im 18. Jahrhundert ein Schlüsselelement des politischen Diskurses geblieben sei.

Nicht von ungefähr ist die Studie von Benedict Wagner-Rundell in der Reihe Oxford Historical Monographs erschienen, die herausragenden, an der Universität Oxford entstandenen Doktorarbeiten vorbehalten ist. Besonders hervorzuheben ist die Darstellung des Sejms von 1712/13 und der sich anschließenden Konföderation von Tarnogród. Bei diesen lebendig geschilderten Momenten der sogenannten Sachsenzeit werden die Protagonisten mit ihrem Handeln und Denken lebendig, verwandelt sich der Leser quasi zum Zeugen einer spezifischen Diskussionskultur, stets aber wird er vom Autor mit Zwischenfazits wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt und mit einem gut nachvollziehbaren Interpretationsangebot versorgt.

Bei der Konfrontation Polens mit anderen Nationen verfällt Wagner-Rundell an keiner Stelle der beliebten Angewohnheit, eine vermeintliche Rückständigkeit der Rzeczpospolita beweisen zu wollen. Im Gegenteil, man spürt bei der Lektüre sein aufrichtiges und von Empathie für seinen Gegenstand durchzogenes Interesse, bei aller Kritik dem Denken der polnischen Szlachta gerecht zu werden, ohne es andererseits einseitig zu historisieren.

Der Verfasser hat eine große Menge zeitgenössischer Quellen ausgewertet, die er in neun über ganz Polen verstreuten Archiven und Bibliotheken ausfindig gemacht hat. Daneben hat er für seine Analyse zeitgenössische Sitzungsprotokolle, Manifeste, Programme und historiographische Werke in gedruckter Form herangezogen. Die Sekun­där­literatur in polnischer und englischer Sprache ist ihm bestens vertraut, wobei er Ansätze deutscher und ungarischer Historiker zumindest in englischer Übersetzung rezipiert hat. Der Vorbemerkung zu dem Buch kann man entnehmen, dass Wagner-Rundell neben dem Quellen- und Literaturstudium in regem Austausch mit polnischen und britischen Fachkollegen stand und damit  seine Erkenntnisse kontinuierlich mit deren Wissen abgeglichen hat. Die Monographie ist jedoch nicht nur hinsichtlich ihres Entstehungsprozesses, sondern auch ihres inhaltlichen Anspruchs ein gutes Beispiel für eine „entangled history“: Im Schlusskapitel seiner Arbeit unternimmt Wagner-Rundell den Versuch, das politische Denken der polnischen Szlachta im 18. Jahrhundert mit dem politischer Philosophen in anderen Teilen Europas und der Welt zu konfrontieren, ein Ansatz, den er in der Zusammenfassung sogar bin in die Gegenwart fortführt. Mit dieser Skizze zeigt der Autor, dass er nicht nur in den polnischen historischen Zusammenhängen bestens bewandert ist, sondern einen breiten geschichtlichen Horizont besitzt. Auf weitere Veröffentlichungen aus seiner Feder darf man sich bereits freuen.

Tobias Weger, Oldenburg

Zitierweise: Tobias Weger über: Benedict Wagner-Rundell: Common Wealth, Common Good. The Politics of Virtue in Early Modern Poland-Lithuania. Oxford: Oxford University Press, 2015. XI, 189 S. = Oxford Historical Monographs. ISBN: 978-0-19-873534-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Weger_Wagner-Rundell_Common_Wealth_Common_Good.html (Datum des Seitenbesuchs)

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