Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Gerhard Wettig

 

Andreas Hilger (Hg.): Diplomatie für die deutsche Einheit. Dokumente des Auswärtigen Amtes zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen 1989/90. 284 S., München: Oldenbourg, 2011. = Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Band 103. ISBN 978-3-486-70659-8.

Für den Band wurden Schlüsseldokumente der Gespräche zwischen den Außenministern über die deutsche Vereinigung ausgewählt, deren umfassende Veröffentlichung in etwa zehn Jahren nach Ablauf der üblichen 30-Jahres-Frist in der Reihe „Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland“ vorgesehen ist. Mit Blick darauf, dass dann eine intensive und ausführliche Bearbeitung erfolgen wird, wurde auf extensive Erläuterungen in den Annotationen verzichtet, so dass diese im Wesentlichen formale Hinweise – vor allem inhaltliche Querverweise und Referenzen auf Angaben in anderen Dokumentenbänden – enthalten. Mit auch nur minimalen Vorkenntnissen, wie wir als Zeitgenossen sie in aller Regel besitzen, lässt sich ein gutes Bild der damaligen Geschehnisse gewinnen. Die Außenminister waren zwar nicht die hauptsächlich entscheidenden Akteure, aber ihre Unterredungen und Verhandlungen haben alle Entwicklungen begleitet und in praktische Regelungen übersetzt. Sowohl in den Zwei-plus-vier-Verhandlungen im Frühjahr und Sommer 1990 als auch in den  Gesprächen namentlich zwischen Genscher und Schewardnadse spiegeln sich die zwischenstaatlichen Interaktionen wider, an deren – zu Anfang noch nicht absehbarem – Ende das allgemeine Einvernehmen über die Wiederherstellung der deutschen Einheit stand, die nicht nur unter demokratischem Vorzeichen, sondern auch im Rahmen der NATO vollzogen wurde. Zum ersten Mal in seiner Geschichte befand sich Deutschland in Übereinstimmung mit allen Ländern ringsum. Alle waren mit seiner Vereinigung einverstanden. Seine Einbindung in das atlantische Bündnis und in den europäischen Integrationsverbund boten sowohl Deutschland selbst als auch den Nachbarstaaten die Gewähr dafür, dass es weder in bedrohliche Isolation geraten noch durch sein Vorgehen andere bedrohen konnte.

Die Lektüre der  – sehr gut gegliederten und hervorragend edierten – Dokumentensammlung vermittelt daher wichtige Eindrücke und Einsichten, welche die Erkenntnisse aus den bisher erschienenen Quelleneditionen ergänzen, die Unterlagen aus dem Bundeskanzleramt (Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, bearbeitet von Hanns Jürgen Küsters und Daniel Hofmann. München: Oldenbourg 1998) und aus sowjetischen Aktenbeständen (Aleksandr Galkin / Anatolij Tscher­njajew (Hg.): Michail Gorbatschow und die deutsche Frage. Sowjetische Dokumente 1986–1991, München: Oldenbourg 2011 – von Joachim Glaubitz übersetzte und von Andreas Hilger mit Annotationen versehene deutsche Ausgabe der 2006 in Moskau erschienenen Publikation: Michail Gorbačev i germanskij vopros. Sbornik dokumentov 19861991 gg.) zutage gefördert haben. Der vorliegende Band enthält 49 Gesprächsprotokolle und Aufzeichnungen aus dem Bonner Auswärtigen Amt. Am Anfang steht die Fest­stellung Schewardnadses im Juni 1989, die Auflösung der NATO wäre zwar wünschenswert, lasse sich aber kaum durchsetzen. Zugleich gab er der Überzeugung Ausdruck, dass die Berliner Mauer nicht auf lange Sicht bestehen bleiben könne. Damit deutete sich auf sowjetischer Seite ein Umdenken an, das nach der Perestrojka im Innern auch die Außenpolitik erfasste. Im September berichtete Botschafter Blech aus Moskau, dass sich dort das Verhältnis zur DDR deutlich verschlechtert habe. Wie es sich weiter entwickeln werde, hänge davon ab, ob man auch in Ost-Berlin Reformen einleiten und so den Gleichklang mit der UdSSR herstellen werde. Wie der Diplomat betonte, war der Kreml bereit, in Osteuropa alle aus der politischen Umorientierung erwachsenden Konsequenzen zu akzeptieren, solange die Bindungen an die sowjetische Führungsmacht und die Legitimität des bestehenden Regimes nicht angetastet würden. Der Bundesrepublik boten sich Chancen, denn sie war nach Blechs Einschätzung der einzige Staat im Westen, an dessen Kooperation man in Moskau ernstes Interesse hatte.

Mithin erkannte der Botschafter schon damals die Faktoren, welche die Haltung der UdSSR in der Vereinigungsfrage fortan bestimmten: die zunehmende Entfremdung von der DDR, die beginnende Abkehr von der „Breshnew-Doktrin“, also die wachsende Bereitschaft zum Verzicht auf den kommunistischen Charakter der Regime im sowjetischen Lager, und das vor allem wirtschaftlich begründete Bedürfnis nach Zusammenarbeit mit Westdeutschland. Berücksichtigt man zudem, dass sich Gorbatschow schon seit 1985 um sicherheitspolitische Kooperation mit den USA bemühte, die später die Vereinigungspolitik von Bundeskanzler Kohl von Anfang an mit allem Nachdruck unterstützten, dann sind rückblickend schon im Frühherbst 1989 die Entwicklungslinien klar, die zuletzt dazu führten, dass die sowjetische Führung nicht nur die DDR fallen ließ und die demokratische Vereinigung Deutschlands akzeptierte, sondern auch mit dessen Bindung an die NATO einverstanden war, denn darauf bestanden ebendiejenigen Partner, auf die man sich in Moskau angewiesen sah: die USA und die Bundesrepublik. Die Schritte, die auf diesem Weg getan wurden, lassen sich den Dokumenten des vorliegenden Bandes in aller Deutlichkeit entnehmen.

Gerhard Wettig, Kommen

Zitierweise: Gerhard Wettig über: Andreas Hilger (Hg.): Diplomatie für die deutsche Einheit. Dokumente des Auswärtigen Amtes zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen 1989/90. 284 S., München: Oldenbourg, 2011. = Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Band 103. ISBN 978-3-486-70659-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Wettig_Hilger_Diplomatie.html (Datum des Seitenbesuchs)

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