Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 7 (2017), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Gerhard Wettig
Thomas Kunze / Thomas Vogel: Das Ende des Imperiums. Was aus den Staaten der Sowjetunion wurde. Berlin: Links, 2015. 324 S., Abb., Tab. ISBN: 978-3-86153-894-3.
Das vorliegende Sachbuch stellt Entwicklungen in der einstigen UdSSR seit deren Zerfall Ende 1991 dar. Einer der zwei Verfasser, Thomas Kunze, war lange in Russland tätig; dort, in anderen früheren Sowjetrepubliken und bei anderen Gelegenheiten hat er allein und auch zusammen mit seinem Koautor Thomas Vogel zahlreiche Gespräche geführt, welche die aus diversen Publikationen zusammengetragenen Informationen ergänzen. Auf dieser Grundlage können die beiden öfters kleine Geschichten „aus dem Nähkästchen“ ausplaudern, die dem Buch journalistische Würze geben. Dagegen fehlt eine zuverlässige Quellenbasis mit der Folge, dass das Geschehen zwar chronologisch und sachlich gut gegliedert dargeboten wird, aber vielfach mit Irrtümern, Lücken und Einseitigkeiten behaftet ist. Da sich die Darstellung nicht auf Dokumente und archivalisch fundierte Arbeiten, sondern primär auf Medienberichte stützt, werden beispielsweise zwei herausragende Gewaltakte in der national auseinander fallenden Sowjetunion, das Blutbad in Tiflis und der Geheimpolizei-Einsatz in Vilnius, Gorbaěv zugeschrieben (mit dem entschuldigenden Hinweis, dass er unter Druck gehandelt habe). In Wirklichkeit lehnte dieser, als er hinterher – ein Indiz des einsetzenden Kontrollverlusts – vor vollendeten Tatsachen stand, das Vorgehen scharf ab und verhinderte im litauischen Fall eine Fortsetzung. Eine erhebliche Informationslücke ist das Fehlen der Angabe, dass der russische Präsident Jelzin als seinen Nachfolger zunächst nicht Putin, sondern den liberalen Politiker Nemcov im Auge hatte, diesen aber fallen ließ, weil der die Zugehörigkeit Tschetscheniens zu Russland nicht mit Waffengewalt und notfalls Terror erzwingen wollte.
Die besondere Vertrautheit zumindest von Kunze mit Russland führt dazu, dass dessen amtliche Vorstellungen die Einschätzungen und Bewertungen stark beeinflussen. Putins autokratisches Regime wird mit der unter sein Foto gesetzten Behauptung verklärt, er genieße in Russland „Kultstatus“. Die Konflikte im Verhältnis zu den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion werden auf eine durch die Auflösung des Imperiums entstandene schlechte Lage zurückgeführt. Sie erscheinen sie als geradezu natürliche Folge einer fatalen Trennung, welche die frühere Einheit zerstört habe. Die Zeit der staatlichen Gemeinsamkeit wird als nach wie vor das politische Bewusstsein weithin prägend angesehen, das – vom Sonderfall Baltikum abgesehen – die Basis eines alle verbindenden Zusammengehörigkeitsgefühls sei. Die Situation der Russen in den nunmehr selbständig gewordenen Republiken wird als generell beklagenswert hingestellt, was dem Leser den Eindruck vermittelt, Putins Anspruch, unter Hinweis auf angeblich missachtete Rechte der russischen Bevölkerungsteile mit Forderungen und Pressionen in die inneren Angelegenheiten anderer Nachfolgestaaten einzugreifen, sei vollauf berechtigt.
Zu dieser Sichtweise passt, dass der Majdan-Revolution in Kiew eine kühle Darstellung gewidmet wird, während die Annexion der Krim unter Bruch internationaler und bilateraler Verträge wegen der dort zahlreich lebenden Russen als begründet erscheint. Im Donbass waren, wie es heißt, nur Separatisten am Werk, die erst hinterher in Moskau Unterstützung fanden. Der kriegerische Konflikt mit Georgien wird auf dessen Angriff gegen Russland zurückgeführt. Auch wenn anderslautende Befunde nicht herangezogen werden, fällt es schwer, sich ein derart verwegenes Vorgehen eines Kleinstaates gegen eine weit stärkere Macht vorzustellen. Das allgemeine Problem der Unterlegenheit des „Nahen Auslands“ gegenüber Russland und der dadurch geschaffenen Druckempfindlichkeit bleibt unerörtert.
Putins zunehmende Konfrontationsneigung gegenüber dem Westen wird auf fehlende westliche Bereitschaft zum Eingehen auf berechtigtes russisches Verlangen zurückgeführt. Diesem Kooperativitätsdefizit wiederum liege ein fortgesetztes Kalte-Kriegs-Denken im Westen zugrunde, das von den alten Sowjetologie-Instituten geschürt werde. Demnach handelt es sich um ein Problem, das sich mit mehr Verständnis für russische Anliegen lösen ließe, indem man – etwa im Fall der Ukraine – der russischen Seite das Feld überließe, um ihrem Verlangen zu entsprechen, dass das „Nahe Ausland“ nicht abdriften darf. Dabei lassen Kunze und Vogel außer Betracht, ob dabei nicht Rechte der demokratischen und nationalen Selbstbestimmung anderer Länder geopfert würden und ob Putins Ambitionen nicht noch weiter reichen, vielleicht gar auf die Auflösung der EU und die Errichtung einer russischen Hegemonie auf dem europäischen Kontinent abzielen.
Es ist freilich zweifelhaft, ob man ein journalistisches Sachbuch, dessen Zweck ein genereller Überblick ist, mit der Untersuchung so weitgehender zeitgeschichtlicher Probleme befrachten sollte. Das würde ausführliche fachhistorische Erörterungen auf der Basis von Originalquellen statt bloß journalistischer Materialien erfordern, was aber den Rahmen eines Sachbuchs sprengen würden. Die wissenschaftliche Herangehensweise lässt sich vernünftigerweise nicht dadurch ersetzen, dass gemäß vorgefassten Standpunkten politische Positionen bezogen werden, die dem Leser eine scheinbar objektive Wahrheit vorspiegeln. Aus der Entscheidung, darauf zu verzichten, würde die Konsequenz folgen, von allen Urteilen und Behauptungen dieser Art abzusehen und die thematisch relevanten Tatbestände möglichst meinungsneutral darzustellen, was die Wiedergabe der jeweils gegensätzlichen Auffassungen nicht aus-, sondern einschließt. Nur auf diese Weise kann ein Sachbuch seiner Aufgabe gerecht werden.
Es ist sehr zu bedauern, dass politische Voreingenommenheit der vorliegenden Publikation über ein wichtiges Thema, die ansonsten solide gearbeitet ist, interessante Angaben enthält und einen vorhandenen Informationsbedarf befriedigt, viel von ihrem Wert nimmt und im Grunde nur für kritische Leser geeignet ist, die bereits über die Entwicklungen nach dem Zusammenbruch der UdSSR Bescheid wissen. Sollte sich der Verlag zu einer dritten Auflage des Buches entschließen, wäre eine gründliche Revision zur Beseitigung der einseitig-parteilichen Darstellungsweise erforderlich.
Zitierweise: Gerhard Wettig über: Thomas Kunze, Thomas Vogel: Das Ende des Imperiums. Was aus den Staaten der Sowjetunion wurde. Berlin: Links, 2015. 324 S., Abb., Tab. ISBN: 978-3-86153-894-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Wettig_Kunze_Das_Ende_des_Imperiums.html (Datum des Seitenbesuchs)
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