Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 6 (2016), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Stefan Wiese
Yohanan Petrovsky-Shtern: The Golden Age Shtetl. A New History of Jewish Life in East Europe. Princeton, NJ, Oxford: Princeton University Press, 2014. 431 S., 50 Abb., 1 Kte. ISBN: 978-0-691-16074-0.
Es gibt wohl keinen Begriff, der so sehr für die Geschichte der Juden in Osteuropa steht wie das Shtetl, und doch wissen wir im Grunde recht wenig über das Leben dort. Hatte Life is with People, jene Pionierstudie aus dem Jahr 1952, das Shtetl als Ort authentisch-jüdischer Rechtgläubigkeit und Traditionsverbundenheit beschrieben, so beschäftigten sich jüngere Arbeiten oft damit, Repräsentationen des Shtetl, genauer gesagt seine Konstruktion als Sehnsuchtsort, zu verstehen und zu hinterfragen. Die soziale Wirklichkeit des Shtetl hingegen blieb lange unterbelichtet, nicht zuletzt, weil sie sich kaum von den großen zentralen Archiven aus erforschen lässt. Diese Lücke will Yohanan Petrovsky-Shtern mit seinem neuen Buch schließen, und er hat den Weg in die Regionalarchive wahrlich nicht gescheut. Ganze 34 Einträge zählt die Liste der Einrichtungen, in denen er recherchiert hat. Die ungeheure Fülle empirischen Materials ist ein großer Vorzug dieses Buches – und ein Problem, doch dazu später.
Petrovsky-Shtern will zeigen, dass das Shtetl in dem halben Jahrhundert von etwa 1790 bis etwa 1840 sein „Goldenes Zeitalter“ erlebte. Das ist sehr bemerkenswert, da doch bisher Armut, Verfolgung und Rückzug in die Frömmigkeit das Bild des Shtetl dominierten. Dieses Bild, so der Autor, mag ab dem späten 19. Jahrhundert zutreffen, nicht jedoch vorher. Im Goldenen Zeitalter hingegen, so die These, war das Shtetl als Ort einer „Russian-Jewish symbiosis“ (S. 66) „economically vigorous, financially beneficial, and culturally influential“(S. 2). Diese Symbiose funktionierte so lange, wie der Russische Staat dem „gesunden Menschenverstand“ (S. 52) folgte; sie endete, als konservative, judenfeindliche „Ideologie“ begann, das Handeln der politisch Verantwortlichen zu bestimmen.
Doch was genau war ein Shtetl überhaupt? Der Autor führt dem Leser zu Beginn des Buches genüsslich vor, welche Schwierigkeiten die Zeitgenossen hatten, diese Frage zu beantworten. Eine Lokalgeschichte als Privatbesitz eines polnischen Adligen, eine sozioökonomische Struktur mit dem jüdisch dominierten Marktplatz im Zentrum und die administrative Kategorisierung waren typische Kriterien, die allerdings große Grauzonen ließen. Hinzu kommt, dass das „Shtetl“ vor allem eine Fremdbezeichnung war. Seine jüdischen Einwohner sprachen von einer Stadt; den Diminutiv führten eher die akkulturierten Juden der Großstädte im Mund. War das Shtetl aus Sicht des Staates nicht leicht dingfest zu machen, so wurde es von den Herrschern doch nicht als Problem gesehen: Juden galten anfangs als „nützliche“ und auch als loyale Untertanen, und deshalb brachte der Staat ihnen auch so viel „Vertrauen“ (S. 50) entgegen, dass sie wichtige Positionen, etwa im Postwesen und in der Lokalverwaltung, wahrnehmen durften. Die folgenden drei Kapitel sind unterschiedlichen Facetten des Wirtschaftslebens gewidmet, dem Schmuggel, den Jahrmärkten und dem Handel mit Alkohol. In allen Bereichen passten sich die Shtetl-Bewohner ohne Schwierigkeiten geänderten ökonomischen und politischen Bedingungen an, schufen Wohlstand und damit die Basis für die Blüte des Shtetls in anderen Bereichen. In weiteren drei Kapiteln wendet sich Petrovsky-Shtern der Alltagsgeschichte zu. Er untersucht, wie Konflikte, insbesondere interreligiöser Art, ausgetragen wurden, und betont dabei die Rolle von keineswegs einseitiger Gewalt. Er fragt nach Vorstellungen von Gerechtigkeit und Wegen, diese herzustellen, und nach den typischen Familienstrukturen. Ein dritter Block untersucht die materielle Kultur des Shtetls und stellt dabei Aufbau und Funktionen des Wohnhauses, die Synagoge und rituelle Gegenstände sowie im letzten Kapitel die Bücher des Shtetl in den Mittelpunkt. Im letzten Kapitel geht es um den Niedergang des Shtetls und seine Ursachen.
Dabei gelingt es Petrovsky-Shtern immer wieder zu zeigen, dass das Shtetl anders war, als es in der Breitenkultur und auch im größten Teil der wissenschaftlichen Literatur erscheint. Nehmen wir allein seine äußere Gestalt: In Life is with People war ausgeführt worden, dass die Häuser im Shtetl gar nicht anders als schäbig hätten sein können, da die Bewohner in ihnen nur eine vorübergehende Bleibe bis zum eigentlich angestrebten Erreichen des Heiligen Landes sehen konnten. Petrovsky-Shtern zeigt nun, dass es eine Zeit gab, in der vielen Shtetlbewohnern sehr wohl daran gelegen war, dass man ihren Wohlstand an der Gestaltung und Einrichtung ihrer Häuser ablesen konnte. Der halbverfallene Zustand ganzer Straßenzüge war das Produkt einer späteren Zeit, jener, in der das Shtetl als literarischer Topos geprägt und in der jene Fotografien gemacht wurden, die das Bild des Shtetls bis heute prägen. Neues hat Petrovsky auch über das Verhältnis von Juden und Christen zu berichten, wenn er ein Bild intensiver Kontakte zeichnet, die ebenso häufig konflikthaft wie kooperativ ausfallen konnten. Juden wie Nicht-Juden vertraten ihre Interessen selbstbewusst und schreckten dabei auch nicht vor Beleidigungen und Gewalttaten zurück, sondern sahen in beidem „acceptable means of communication“ (S. 152). Die Juden gingen beim Verfolgen ihrer Interessen flexibel Allianzen ein: im Kampf gegen staatliche Handelsbeschränkungen verbündeten sich jüdische und christliche Schmuggler, bei innerjüdischen Konflikten rief nicht selten eine Partei die staatlichen Behörden um Unterstützung an, Juden und Nicht-Juden boykottierten gemeinsam einen Schnaps-Großhändler, der die Preise zu stark angehoben hatte. Hier gab es jenen Pragmatismus, den Petrovsky-Shtern als Kennzeichen des „Goldenen Zeitalters“ ausmacht.
Aber bedeutet das auch, dass die Kernthese zutrifft, die Blüte des Shtetls sei ein Produkt staatlichen Pragmatismus und sein Niedergang die Folge von dessen Ende? Zunächst ist Petrovsky-Shtern zugute zu halten, dass er selbst die Bedeutung anderer Faktoren für den Niedergang betont: Die Industrialisierung, der Aufstieg der Großstädte, aber auch Brände hätten mehr zum Ende des Shtetls beigetragen als alle Petersburger Verordnungen. Aber auch abgesehen davon stimmt die Behauptung nicht. Die aufgeklärte Ansicht, es bei den Juden mit einer besonders „nützlichen“ Bevölkerung zu tun zu haben, war nicht weniger „ideologisch“ als die späteren antijüdischen Unterstellungen, und was Petrovsky-Shtern als anfänglichen Pragmatismus bezeichnet, dürfte in den meisten Fällen eine Folge von Staatsferne, der dann stärkere staatliche Druck hingegen zu einem guten Teil eine Folge des zunehmenden Ausbaus der Verwaltung gewesen sein.
Leider enthält das Buch noch mehr Passagen, die von präziserer Analyse profitiert hätten. Immer wieder werden sehr weitgehende Verallgemeinerungen offenbar auf Basis anekdotenhafter Evidenz getroffen. Die Folge ist ein zwar farbiges, aber auch merkwürdig widerspruchsfreies Bild des Shtetl. Vielleicht hat das damit zu tun, dass dieses Buch mit dem Shtetl einen „Helden“ hat, noch dazu einen, der lange Zeit nicht angemessen gewürdigt wurde, und den der Autor nun gleichsam ins Recht setzen will. Es zeichnet das Shtetl als Ort des Guten: Es war liberal, tolerant, prosperierend. Egal ob seine Bewohner schmuggelten, prügelten oder dem Suff verfielen: Petrovsky-Shtern sieht darin ein Ringen um Freiheit und Würde. So viel Begeisterung für seinen Gegenstand steckt in dem Text, dass Fragen nach alternativen Lesarten der Quellen oder danach, wann Motive analysiert und nicht nur unterstellt werden, zu häufig unbeantwortet bleiben.
Kritikwürdig ist schließlich Petrovsky-Shterns Umgang mit seinem empirischen Material. Beispiele und Anekdoten bilden einen erheblichen Teil des Buches, und manchmal ist nicht klar, welcher Erkenntnisgewinn von ihnen ausgehen soll. Sie sollen wohl unterhalten, tatsächlich ermüden sie und schmälern die Freude an einem sonst brillant geschriebenen Buch, das, bei aller Kritik, ein ganz neues Licht auf einen klassischen Gegenstand der osteuropäischen und jüdischen Geschichte wirft, und dem deshalb eine große Leserschaft zu wünschen ist.
Zitierweise: Stefan Wiese über: Yohanan Petrovsky-Shtern: The Golden Age Shtetl. A New History of Jewish Life in East Europe. Princeton, NJ, Oxford: Princeton University Press, 2014. 431 S., 50 Abb., 1 Kte. ISBN: 978-0-691-16074-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Wiese_Petrovsky-Shtern_The_Golden_Age_Shtetl.html (Datum des Seitenbesuchs)
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