Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2011, 1

Verfasst von: Dietmar Wulff

 

Rašid T. Muchaev Istorija gosudarstvennogo upravlenija v Rossii [Geschichte der staatlichen Verwaltung in Russland]. Izdat. JuNITI-DANA Moskva 2007. 607 S. = Gosudarstvennoe i municipalnoe upravlenie. ISBN: 978-5-238-01254-4.

Lehrbücher haben an russischen Hochschulen Konjunktur. Sie sind unverzichtbares Attribut eines jeden Studienganges, vermitteln den Überblick über den zu erlernenden Stoff und geben den Studierenden im idealen Fall auch inhaltlich Orientierung. Den Verfassern sichern sie einen stabilen Leserkreis, hohe Auflagen und somit ansehnliche Honorare. Rašid T. Muchaev, Professor am Lehrstuhl für angewandte Politikwissenschaft an der Higher School of Economics in Moskau, gehört zu den besonders produktiven Lehrbuchautoren. Allein seit 2005 kamen sieben Lehrbücher aus seiner Feder auf den Markt – von der Politikwissenschaft, über die Soziologie, die Jurisprudenz bis hin zur Geschichte von Staat und Recht sowie Geopolitik. Als Autor von Monographien ist Muchaev hingegen nicht in Erscheinung getreten.

Das zu rezensierende Lehrbuch richtet sich in erster Linie an Studierende der Studiengänge „Staatliche und munizipale Verwaltung“. Es behandelt den Zeitraum von den Anfängen der russischen Geschichte im 9. Jahrhundert bis 2006. Einem einleitenden Kapitel, in dem die Geschichte der staatlichen Verwaltung als wissenschaftliche Disziplin, deren Begriffsapparat und konzeptionelle Grundlagen dargelegt werden, folgen in chronologischer Ordnung 6 Abteilungen mit insgesamt 19 Kapiteln. Die Darstellung entspricht der üblichen Periodisierung. Jede Abteilung beginnt mit einer Einleitung, in der übergreifende Probleme der russischen Staatsverwaltung, ihre Ziele, Objekte und Ideologie zu Sprache kommen. Innerhalb der Kapitel überwiegen dann systematische Gesichtspunkte. Der Autor fragt stets nach den inneren Herausforderungen und äußeren Gefahren, die er für die wesentlichen Triebkräfte bei der Entwicklung des Staatswesens hält; danach geraten die zentralen und lokalen Staatsorgane ins Blickfeld. Der Reihe nach folgen Darlegungen über die staatliche Verwaltung von Wirtschaft und Finanzen, über Armee, Polizei, das Gerichtswesen, seltener über Bildung und Kirche. Gelegentlich untersucht der Verfasser die sozialen Grundlagen der Verwaltung, auffallend häufig geht er auf Reformbemühungen ein. Über Institutionen und Strukturen informiert das Lehrbuch zuverlässig. Kulturgeschichtliche Zusammenhänge, etwa die Metamorphosen der Staatsdiener selbst oder die Kommunikation zwischen Verwaltern und Verwalteten, werden dem Leser vorenthalten. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse bietet das Lehrbuch dem Genre entsprechend nicht.

Zu fragen bleibt nach der geschichtsideologischen Grundierung und dem didaktischen Konzept, mit deren Hilfe die künftigen russischen Staatsdiener ihr historisches Rüstzeug erhalten. Was die erste Frage anbelangt, so folgt das Lehrbuch konsequent dem politischen Mainstream im Russland der Gegenwart. Gut in der Geschichte war, was den Zentralstaat stärkte. Mit der staatlichen Verwaltung und den Beamten dagegen geht der Autor durchaus hart ins Gericht. Die Staatsverwaltung im heutigen Russland erfülle weder ihre sozialen noch ihre politischen Funktionen bei der Entwicklung der Zivilgesellschaft, lautet das Verdikt des Verfassers. Schuld daran trage der Dauerkonflikt zwischen Staatsmacht und Gesellschaft, der im allenthalben nur schwach oder gar nicht ausgeprägten Rechtsbewusstsein wurzele. Von politischem Schwachsinn der Staatsdiener ist in Anlehnung an den in Mode gekommenen Philosophen I. Il’in die Rede, oder, mit Präsident Medvedev, von ausgeprägtem Rechtsnihilismus. Kom­men allerdings die wirklichen oder vermeintlichen ausländischen Herausforderungen an den Staatsapparat ins Spiel, geriert sich das Lehrbuch patriotisch. In Bezug auf die Wirren Anfang des 17. Jahrhunderts heißt es z.B. kurz und bündig, das russische Volk habe in einem einzigartigen patriotischen Aufschwung die Kraft gefunden, aus seinen Reihen die Volkshelden Kuz’ma Minin und Dmitrij Požarskij her­vorzubringen, die ausländischen Feinde zu zerschlagen und aus dem Land zu werfen. Und natürlich findet auch die Okkupation der baltischen Staaten und der polnischen Territorien im Anschluss an den deutsch-sowjetischen Nichtan­griffspakt vom August 1939 eine Rechtfertigung.

Das Lehrbuch ist spartanisch ausgestattet. Es verfügt weder über einen wissenschaftlichen Apparat, noch über eine Auswahlbibliographie oder ein Verzeichnis der einschlägigen Quellen. Es gibt keine Verweise auf Internetportale, keine Überblicke über Hilfsmittel, Institutionen oder Fachzeitschriften. Dies erscheint beabsichtigt. Der Studierende soll Wissen akkumulieren und Lehrmeinungen beherrschen, nicht Interpretationen abwägen. Fakten sind wichtig, nicht Fähigkeiten und Problembewusstsein.

Dietmar Wulff, Bielefeld

Zitierweise: Dietmar Wulff über: Rašid T. Muchaev Istorija gosudarstvennogo upravlenija v Rossii [Geschichte der staatlichen Verwaltung in Russland]. Izdat. JuNITI-DANA Moskva 2007. = Gosudarstvennoe i municipal'noe upravlenie. ISBN: 978-5-238-01254-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Wulff_Muchaev_Istorija_gosudarstvennogo_upravlenija.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2011 by Osteuropa-Institut Regensburg and Dietmar Wulff. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@osteuropa-institut.de