Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Krista E. Zach

 

Jugoslawien in den 1960er Jahren. Auf dem Weg zu einem (a)normalen Staat? Hrsg. von Hannes Grandits und Holm Sundhaussen. Wiesbaden: Harrassowitz, 2013. 325 S., Tab. = Balkanologische Veröffentlichungen. Geschichte, Gesellschaft und Kultur in Südosteuropa, 58. ISBN: 978-3-447-07004-1.

Inhaltsverzeichnis:

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War dem sozialistischen Staat Jugoslawien der „Weg in den (unvermeidlichen?) Untergang“ vorgezeichnet, wie der „kriegsbegleitete […] Staatszerfall in den 1990er Jahren“ vielfach – rückblickend und rekonstruierend – bis heute zu erklären versucht wird? Allein schon die beiden Fragezeichen lassen vermuten, dass die drei Herausgeber der prestigeträchtigen Berliner BV-Buchreihe, von denen zwei den vorliegenden Sammelband edierten und die Einleitung dazu verfassten, bei der Prüfung solch einer (unbeantwortbaren) Frage nicht ohne metawissenschaftliche Gefühle der Nostalgie – wenn nicht gar des Bezweifelns der Unvermeidlichkeit – zu Werke gehen würden. Der Zugriff auf eine Hauptthese aus Hayden Whites Metahistory, wonach „Erklärung durch narrative Modellierung der Erzählstruktur (Handlung)“ aufgrund von nur vier „archetypischen Erzählformen“ – wie u. a. ‚Komödie‘ und ‚Tragödie‘ – der „historiographischen Sinnstiftung“ diene (Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt/Main 1991, S. 21–22; Hayden White: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. Baltimore 1973), erfolgt einleitend eher oberflächlich und kursorisch. So sind die aus Metahistory entnommenen Stellen in dieser Einleitung ungenau und ohne Seitenangabe wiedergegeben. Demnach sei dieser bündnisfreie und zunächst „über weite Strecken“ durchaus erfolgreiche sozialistische Staat in der Fachliteratur überwiegend mit dem „historischen Narrativ der ‚Komödie‘ (in der das Narrativ positiv endet)“ beschrieben worden; seit den achtziger Jahren habe dann aber immer mehr „die narrative Modellierung als ‚Tragödie‘ […] überwogen“ (S. 3).

Warum die Beschreibung Ex-Jugoslawiens in zahllosen nach den Bürgerkriegen weltweit veröffentlichten Analysen „gekippt“ sei, wollen die Herausgeber anhand von 13 relativ unterschiedlichen Beiträgen versuchen herauszuarbeiten. Diesen stellen sie in ihrer Einleitung die durchaus berechtigte, wenn auch einige Hilflosigkeit oder Skepsis offenbarende Frage voran: „Waren die Jahrzehnte des sozialistischen Jugoslawien“, so fragen sie, „über weite Strecken (oder zumindest noch in den 1950er oder 1960er oder 1970er Jahren) nicht auch die Geschichte eines erstaunlich erfolgreichen Modernisierungsschubs und Wohlstandsgewinns für immer breitere Teile der Gesellschaft? Oder waren es dann doch die immer größeren strukturellen Ungereimtheiten und Widersprüche, die die sozialistische Einparteienherrschaft unter Tito produzierte und das Modell des lange gerühmten Selbstverwaltungssozialismus immer dysfunktionaler und desintegrativer werden ließen?“ (S. 5)

Im Weiteren wird dann nicht mehr auf Hayden Whites narrative Modellierungstypen rekurriert. Es wird vielmehr nach Theorien und geeigneten Methoden gefragt, um den „Staatszerfall“ Jugoslawiens in den neunziger Jahren zu begründen: Nicht teleologisch und linear, nicht prozessgeschichtlich, sondern multiperspektivisch sollte es sein – was wohl nicht zuletzt auch den in fünf Unterkapitel geordneten Beiträgen den Rahmen gab.

Die Jugoslawien in den 1960er Jahren: Wider einen teleologischen Forschungszugang überschriebene Einleitung von Hannes Grandits und Holm Sundhaussen (S. 3–14) ist im Grunde genommen ein sehr lesenswerter, kompakter Essay über Gelingen und Scheitern des sozialistischen Jugoslawien, das aus der Vogelperspektive auf das sogenannte „Goldene Jahrzehnt“ der „langen 60er Jahre“ fixiert wird. Die unterschiedlichen historiographischen „Deutungskonflikte“ in den sie nachvollziehenden Beschreibungen und Analysen zur Verlaufsgeschichte des sozialistischen Ex-Jugoslawien – national wie international – werden gestreift; auch die „kritische Selbstreflexion“ Titos (1945–53 Ministerpräsident, 1953–1980 Staatspräsident Jugoslawiens, zuletzt auf Lebenszeit) sowie die „offene Systemkritik“ der sechziger Jahre werden hervorgehoben (S. 5–6, 9–10). Titos Korrektureingriffe wie u. a. der einer neuen (der vierten) Verfassung von 1974 mit ihrem Föderalisierungskonzept und den unbeantworteten Fragen, wer „Jugoslawe“, was die „Nation“, was „Nationalitäten“ seien (wie es die Volkszählung von 1971 erwiesen hatte), gibt weitere Hinweise auf ein „dysfunktionales“ – oder möglicherweise doch defizitäres? – Staatskonstrukt (S. 12–14). Die nach Titos Tod (1980) immer kompromissloser geführten „Grabenkämpfe“ unter seinen Erben wie die übergreifenden internationalen politischen Ereignisse – Ende des Kalten Krieges, Zerfall der Sowjetunion, weitere Entkolonialisierung etc. –, werden abschließend in dieser Einleitung als Wegmarken hin zum Narrativ einer „Tragödie“ benannt, aber nicht genauer gewichtet. Auch die alleinige Fokussierung des sog. „Goldenen Zeitalters“ der langen sechziger Jahre als pars pro toto für den Nachweis eines möglichen Gelingens des jugoslawischen Experiments, im Sinne eines Narratives der ‚Komödie‘ also, erscheint äußerst problematisch. Und es bleibt im Subtext immer der Wunsch nach dem „es hätte doch auch gelingen können“ spürbar.

Die folgenden Einzelstudien sind unter zum Teil etwas prätentiös kommentierenden Titeln in folgende Themenfelder gegliedert: Politik als Global- und innenpolitische Positionierungen im Duktus des Kalten Krieges (mit zwei Beiträgen, von Radina Vučetić und Wolf­gang Höpken); das Unterkapitel Mobilisierte sozialistische Konsumgesellschaft und -wirtschaft im Mangel zur Wirtschaft ist mit vier Beiträgen dominant (Marie-Janine Calic, Nicole Münnich, Aleksandar Jakir und Vladimir Ivanović); Intellektuelle und künstlerische Selbstverortungen bringt zwei Beiträge (Nened Stefanov und Miranda Jakiša); Literarische und sprachliche Spiegelungen jugoslawischer Realitäten versammelt mit Krunoslav Stojaković, An­ge­la Richter sowie Ksenija Cvetkovi-Sander nur drei Beiträge, und zuletzt Die religiöse Seite der Gesellschaft mit leider nur zwei Beiträgen von Klaus Buchenau und Armina Ome­ri­ka. Die fünf Themenblöcke lassen verständlicherweise noch viel Luft für ein „Mehr“, was kein Fehler sein muss. Drei Studien seien näher betrachtet:

Der Leipziger Ordinarius Wolfgang Höpken stellt unter dem Zitat-Titel (S. 59) aus der DDR-Forschung Durchherrschte Freiheit: Wie autoritär (oder wie liberal) war Titos Jugoslawien? (S. 39–65) etliche Fragen nach der „Herrschaftsqualität des jugoslawischen Sozialismus“, die es heute, „neu zu überdenken“ gelte (S. 44), ohne sich gleich den Blick durch seinen blutigen Zerfall „verengen zu lassen“ (S. 43). Zu solch „kritischer Historisierung“ müssten u. a. zwar auch die strukturellen bzw. nur graduellen Unterschiede zu anderen sozialistischen Regimes in Osteuropa, zu Polen, Ungarn und der DDR eruiert werden, wobei „manches an Zugangsweisen für solch eine Neuperspektivierung“ aus der DDR-Forschung entlehnt werden könnte (S. 43). Bezüglich der Herrschaftsqualität des jugoslawischen Sozialismus sei noch weiter zu differenzieren, da hier „die Zyklen dieser Veränderungen andere waren als in Polen, der ČSSR oder der DDR“ (S. 63).  

Unter „durchherrschter Freiheit“ versteht der Autor Elemente einer so genannten „negativen Loyalität“ zum System, zum Staat und zu dessen Lenker Tito. Sie habe sich Titos weltpolitischer Geltung, dem von ihm 1956 gemeinsam mit Nehru und Nasser begründeten und praktizierten Projekt der Blockfreiheit verdankt. Vor allem aber seien es die „Freiräume“ gewesen, die der Bevölkerung gewährt wurden – wie „räumliche Entgrenzung“ durch Reisen in die Nachbarstaaten, Gastarbeiterjobs und Konsum im Ausland, der den Mangel daheim ausgeglichen habe (ein „card Communism“, wie das die „New York Times“ in den siebziger Jahren genannt hatte) – was den Stolz auf das eigene Land befeuert habe. Derartige „Loyalitätsressourcen“ eines „besseren Sozialismus“ in Ex-Jugoslawien seien mit dem Fall der Berliner Mauer, dem Ende des Kalten Krieges und dem wirtschaftlichen Niedergang im Lande selbst dann abhanden gekommen (S. 63).

Viele Beiträge jüngerer Autoren sind in diesem Band durchaus kritischer gestimmt. Angela Richter untersucht in Streiflichtern die Ethno-Narrative in Jugoslawien, wobei sie über die „Goldene Zeit“ richtigerweise hinausblickt: Jugoslawiens 1960er Jahre literarisch: Short cuts (S. 231–255), und auch gleich zur Sache kommt: „Die Fokussierung eines Jahrzehnts hat seine Tücken, im Besonderen, wenn es um die Kunst geht“ (S. 231). Sie beginnt mit der frühen Nachkriegszeit, mit der Standardisierung der Kunst nach sowjetischem Vorbild, die anfangs auch im sozialistischen Jugoslawien praktiziert wurde. Dagegen hatte Miroslav Krleža schon 1952 in Ljubljana in seinem bekannten Grundsatzreferat Über die Freiheit der Kultur aufbegehrt und Dubravka Ugrešić 1994 schließlich den vermeintlichen „dritten Weg“, auch in der Kulturpolitik, als eine „Kultur der Lüge“ entlarvt. In den sechziger Jahren seien die Ethnonarrative im Roman tatsächlich noch nicht ausgeprägt – die Stadt, vor allem das Machtzentrum Belgrad sei bevorzugter Erzählort gewesen – das habe sich aber 1971 nach dem „Kroatischen Frühling“, den Tito brutal unterdrückte, zu ändern begonnen. Ein „nationalistischer Paradigmenwechsel“ sei damals u. a. auch in Bosnien mit Meža Selimovićs (1910–1982) Romanen erfolgt. Diese Aspekte der Kulturpolitik seien noch längst nicht aufgearbeitet, stellt Richter abschließend fest.

Klaus Buchenau fragt sich in seinem kurzen, aber differenzierenden Beitrag Goldenes Zeitalter auch in der Religionspolitik? Eine nachdenkliche Skizze (S. 281–293), welche andere Perspektive sich anböte, wenn die ideologische außer Acht bliebe, um – möglicherweise – „an den Fluchtpunkt des Auseinanderbrechens“ von Jugoslawien zu gelangen (S. 281). Die jugoslawischen Kommunisten verstanden sich, wie die für sie modellbildenden sowjetischen, als atheistisch, seien aber weniger prinzipiell gewesen. Seit den sechziger Jahren habe die anfangs tendenziell einheitliche Religionspolitik Belgrads, entsprechend nationalen und regionalen Unterschieden, ein immer heterogeneres Bild geboten, doch die Föderalisierung auch der Religionspolitik habe nicht zu der von den Kommunisten erwarteten liberalen Haltung der einzelnen Glaubensgemeinschaften – der Orthodoxen, Katholiken und Muslime – geführt. Buchenau zieht mit drei Anmerkungen ein negatives Fazit des jugoslawischen „dritten Weges“ in der Religionspolitik: Es habe an einer religionspolitischen Linie des Staates gefehlt; die Religionspolitik sei niemals autonom gewesen, sondern habe beständig Aufgaben aus dem nationalen Bereich übernehmen müssen; letztens seien die seit Jahrhunderten bestehenden historischen Traditionen der orthodoxen wie der katholischen Kirche mit ihren unterschiedlichen Vorstellungen von „gerechter Politik“, trotz vielerlei „vielversprechender Ansätze“, letztendlich nicht zu harmonisieren gewesen (S. 293).

Vermisst wird ein eigener Themenblock zur Nationalitätenpolitik. Diese ist zwar Teil einiger Beiträge, was ihre Relevanz immer wieder aufruft; ihr Fehlen mag auch mit den gescheiterten programmatischen Intentionen der Harmonisierungspolitik im sozialistischen Jugoslawien zusammenhängen.

Krista Zach, München 

Zitierweise: Krista E. Zach über: Jugoslawien in den 1960er Jahren. Auf dem Weg zu einem (a)normalen Staat? Hrsg. von Hannes Grandits und Holm Sundhaussen. Wiesbaden: Harrassowitz, 2013. 325 S., Tab. = Balkanologische Veröffentlichungen. Geschichte, Gesellschaft und Kultur in Südosteuropa, 58. ISBN: 978-3-447-07004-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Zach_Grandits_Jugoslawien_in_den_1960er_Jahren.html (Datum des Seitenbesuchs)

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