Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 8 (2018), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Politik und Gesellschaft nach Tschernobyl. (Ost-)Europäische Perspektiven. Hrsg. von Melanie Arndt. Berlin: Links, 2016. 315 S., Abb. = Kommunismus und Gesellschaft. Reihe des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam, 1. ISBN: 978-3-86153-890-5.
Inhaltsverzeichnis:
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Nach der Atomkatastrophe von Fukushima vor einigen Jahren war in Deutschland der Atomausstieg innerhalb von wenigen Wochen beschlossene Sache und parteiübergreifender Konsens, während sich in der Energiepolitik Belgiens und Frankreichs seitdem so gut wie nichts geändert hat. Ähnliches passierte bekanntlich vor dreißig Jahren nach dem Supergau im ukrainisch-sowjetischen Tschernobyl. Wie stark jedes Land in Europa 1986 betroffen war, hing nicht nur von der geographischen Distanz zur heutigen Geisterstadt Prypjat’ und von der weit schwieriger zu berechnenden Verteilung des radioaktiv verseuchten Niederschlags ab. Auch diese Realität war nur teils mit einem Geigerzähler messbar und zu einem beträchtlichen Teil sozial, medial oder politisch „konstruiert“. Die Tagung Tschernobyl – Wendepunkt oder Katalysator? der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin hat dies den Zuhörern zuletzt nochmals eindrücklich vor Augen geführt.
Genau zum dreißigsten Jahrestag des größer-als-anzunehmenden Atomunfalls hat Melanie Arndt, die unangefochtene Autorität in Deutschland zu diesem Thema, einen Band über nationale Perspektiven auf und Debatten nach Tschernobyl vorgelegt. Diese Punktlandung war aber eigentlich reiner Zufall, da das Buch aus einer Tagung am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam im Jahre 2011 entstanden ist. Diese Tagung war auf den zwanzigsten Jahrestag ausgerichtet und fand gewiss unter dem Eindruck der Reaktorkatastrophe in Japan kurz davor statt. Von den zwölf Beiträgen befassen die meisten sich erwartungsgemäß mit den am meist betroffenen Sowjetrepubliken und mit Polen, ergänzt um Fallstudien zu Frankreich, der Türkei und Japan. Hinzu kommt eine Einleitung der Herausgeberin zu Ökologie und Zivilgesellschaft und eine besondere Gender-Perspektive aus Vilnius.
Oleksandr Stegnij, Historiker und Soziologe in Kiew, erörtert in einem interessanten, aber sperrig formulierten Beitrag die wechselhafte Entwicklung der ukrainischen Umweltbewegung seit 1986 sowie ihre historischen Ursprünge. Auch hier ist die Grundidee, dass die Enormität des Super-GAUs zu einer sagenhaften Stärkung der Zivilgesellschaft und zu einem Demokratisierungsschub hätte führen sollen. Für Stegnij gibt es verschiedene ernüchternde Erklärungen dafür, dass diese wünschenswerten Entwicklungen lange ausblieben. Nicht nur der sowjetische Einparteienstaat gehört dazu, sondern auch das ungerechtfertigt große Vertrauen der sozialistischen Bürger in die Handlungsfähigkeit des Staatsapparates, auch noch nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1991. Wie aus vielen Transformationsländern bekannt, verdrängten auch hier alsbald Alltagssorgen die Spätfolgen des AKW-Unfalls. Außerdem, so Stegnij, war die Massenmobilisierung der Umweltbewegung für viele Politiker nur ein opportunistischer Zwischenschritt auf der Karriereleiter. Sie zogen weiter, als das öffentliche Interesse für das Thema nachließ, während ein anderer Teil der Umweltbewegung zum traditionellen Naturschutz zurückkehrte. Die Enttäuschung des Autors über diese politische und gesellschaftliche Entwicklung ist gewiss nachvollziehbar. Was jedoch auch hier merkbar mitschwingt, ist die Grundannahme, dass Tschernobyl (genauso wie Fukushima ein Vierteljahrhundert später) in Ost-, aber auch in Westeuropa zu einer demokratischen Protestbewegung und einem umweltpolitischen Umdenken hätte führen müssen. Ähnliche Studien für westliche Staaten heben meistens den beharrlichen Widerstand der Industrie und des Staates als Erklärung für den zähen Kampf der Bürger und ihrer Umweltbewegungen hervor. Für die Ukrainer lautet hier das Fazit, dass die postsowjetische Mentalität der Bürger und der Opportunismus der angeblich Umweltbewegten ebenfalls Demokratisierung und Umdenken verhinderten.
Evgenija Ivanova vom Zentrum für Gender Studies an der Europäischen Humanistischen Universität in Vilnius befasst sich mit Gender-Aspekten von Katastrophen. Auf den ersten Blick unterscheidet radioaktive Strahlung nicht zwischen Männern und Frauen. Mit Ulrich Beck stellt Ivanova aber fest, dass existierende gesellschaftliche Trennlinien im Ausnahmezustand stärker vortreten und dass die Gender-Trennlinie dazugehört. Außergewöhnliche gesellschaftliche und politische Aktivitäten fanden nach Tschernobyl sehr wohl gegenderte Rechtfertigungen. Aus einer subtilen Analyse von Interviews und offiziellen Bildern schlussfolgert die Autorin, dass das Bild des Helden, in erster Linie das der Liquidatoren, männlich geprägt war. Frauen wurden dagegen in der offiziellen Darstellung eingesetzt, um die Rückkehr zu einer wie auch immer gearteten Normalität zu gestalten. Interviews und Medienanalyse berühren aber nicht nur die üblichen Themen wie Heldentum und Beschwerdebriefe, sondern auch persönliche Konsequenzen der Katastrophe wie Schwangerschaftsabbruch oder Impotenz. Einige weibliche Opfer aus der Region stellten zu ihrem eigenen Erstaunen fest, dass sie der Katastrophe auch etwas Positives abgewinnen konnten. Der Super-GAU hatte ihnen Zugang zu einer politischen Öffentlichkeit verschafft, wenn auch in einer traditionellen Rolle als Frau und Mutter.
Der Beitrag von Astrid Sahm über Tschernobyl und Fukushima bietet interessante Informationen über die Solidarität, den praktischen Erfahrungsaustausch zwischen Kiew, Minsk und Tokio. Leider wird die ebenfalls relevante Frage eines Vergleichs der politischen und öffentlichen Reaktionen in diesen so unterschiedlichen Systemen und Gesellschaften nur kurz angerissen. Bemerkenswert ähnlich waren das Versagen der Informationspolitik und die generelle Überforderung des Staatsapparates, dies auch im hochmodernen Japan und nicht nur im strukturschwachen Transformationsland Ukraine. Parallelen gab es auch beim kaum begründbaren Vertrauen der Bürger in den Staat und das Expertentum. Ein solcher Vergleich, der – inklusive Three Mile Island – auch in der Einleitung der Herausgeberin angesprochen wird, hätte einige der Schlussfolgerungen über die Ukraine und den Tschernobyl-Unfall relativieren können. War dies „ein genuin sowjetischer Unfall?“ (S. 13) Auch diese Autorin verbindet viel normative Hoffnung mit der Zivilgesellschaft als Träger der Demokratisierung und als Gegengewicht zu Staat und Politik: „Ebenso sind Ansätze zu erkennen, dass die nach Tschernobyl entstandene internationale Solidaritätsbewegung zivilgesellschaftlicher Initiativen sich auch für die Fukushima-Betroffenen engagiert.“ (S. 284)
Insgesamt ist es eine hochinteressante, kohärente Studie, die anerkannte Experten zu dem politisch relevanten Thema „Verhältnis zwischen der Wahrnehmung ökologischer Probleme und deren Potenzial zur gesellschaftlichen Mobilisierung in einer postkatastrophalen Situation“ zusammenbringt. (S. 10) Dem aufmerksamen und vielleicht skeptischen Leser drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass das Vertrauen der Autoren und der Herausgeberin in das schwer greifbare Konzept „Zivilgesellschaft“ vielleicht größer ist, als ihre eigenen Forschungen belegen können. Dies gilt für eine gewisse Überschätzung des „zunehmenden Verfalls des propagierten Fortschritts- und staatlichen Regulierungsglaubens in der Bevölkerung“ wie auch der „Antriebskraft gesellschaftlichen Engagements und Wandels“. (S. 11) Die programmatische Aussage, dass in diesen komplexen Handlungsmustern „die idealtypischen Trennlinien zwischen Staat, Wirtschaft und (entstehender bzw. sich wandelnder) Zivilgesellschaft verblassen“ (S. 12), findet nicht in allen Beiträgen Unterstützung. Wie so oft in Fragen der Umweltpolitik und Umweltbewegung können die katastrophalen Konsequenzen des nuklearen Fallouts niemanden kalt lassen. Folglich ist auch diese Studie eine Gratwanderung zwischen distanzierter Analyse und gesellschaftspolitischem Engagement, zwischen historischen Narrativen und Politikempfehlung – und in dieser doppelten Zielsetzung überaus gelungen.
Wim van Meurs, Nijmegen/Kleve
Zitierweise: Wim van Meurs über: Politik und Gesellschaft nach Tschernobyl. (Ost-)Europäische Perspektiven. Hrsg. von Melanie Arndt. Berlin: Links, 2016. 315 S., Abb. = Kommunismus und Gesellschaft. Reihe des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam, 1. ISBN: 978-3-86153-890-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/van_Meurs_Arndt_Politik_und_Gesellschaft.html (Datum des Seitenbesuchs)
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