Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  4 (2014), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Christophe von Werdt

 

Börries Kuzmany: Brody. Eine galizische Grenzstadt im langen 19. Jahrhundert.  Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2011. 406 S., Abb., Ktn., Tab. ISBN: 978-3-205-78763-1.

Die mehrfach ausgezeichnete Dissertation von Kuzmany entwirft eineStadtbiografiedes österreichisch-russischen Grenzorts Brody. Der Untersuchungszeitraum umfasst die Phase von der Eingliederung der südöstlichen Gebiete Polen-Litauens ins Habsburgerreich (1772) bis zum Ersten Weltkrieg. Kuzmany strebt dabei bewusst keine chronologische Stadtgeschichte an, sondern wählt drei thematische Zugänge, um Phänomene von Peripherie und Zentralität zu erschließen. Die wirtschaftsgeschichtliche Annäherung ist der Bedeutung Brodys als osteuropäische Handelsdrehscheibe an der Grenze zwischen dem russländischen und dem Habsburgerreich gewidmet. Der lebensweltliche Fokus konzentriert sich auf den multiethnischen Charakter der Stadtauf die Grenze und die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Konfessionsethnien mit besonderer Berücksichtigung der jüdischen Bevölkerung. Der dritte Abschnitt schließlich wendet sich Brody und seiner Wahrnehmung sowie seiner Verankerung in verschiedenen Erinnerungskulturen über die Grenzen verschiedener Zeiten hinweg zu.

Obwohl der erste Teil des Buches der wirtschaftlichen Entwicklung Brodysalso eher einer trockenen Materiegewidmet ist, gelingt es Kuzmany, dieses Kapitel kurzweilig zu gestalten. Indem der Autor breit auf Archivmaterial zurückgreift und verschiedene, eingängig strukturierte wirtschaftshistorische Fragestellungen als thematische Zugänge wählt, zeichnet er ein differenziertes, facettenreiches Bild des wirtschaftlichen Auf und Abs Brodys als galizische Grenzstadt und als wirtschaftlicher Transferraum. Die besondere Stellung Brodys reichte an die Wende des 16./17. Jahrhunderts zurück, als sich die Stadt, im Besitz polnischer Magnaten von diesen gefördert, zum wichtigen Handelsknotenpunkt entwickelte. Schotten, Armenier und später, ab dem 18. Jahrhundert, vor allem Juden bildeten das Rückgrat des ost-westlichen Handelsnetzwerkes (von Leipzig über Rotreußen ins russländische und osmanische Reich), dessen wichtigstes Zentrum in Brody die Jahrmärkte waren. Nach den polnischen Teilungen genoss Brody zudem bis 1880 den Status einer Freihandelszone. Dies beflügelte insbesondere während der napoleonischen Kontinentalsperre seinen wirtschaftlichen Aufstieg und machte Brody nach Lemberg zur wichtigsten Stadt Ostgaliziens, in der wenige christliche und eine Vielzahl jüdischer Handelsfamilien die dominierende Rolle spielten. Ein verheerender Stadtbrand (1859), die daraus folgende Verschuldung, der späte Anschluss ans Eisenbahnnetz, aber auch die einseitige Ausrichtung der städtischen Wirtschaft auf den Zollfreihandel bereiteten den Niedergang der Stadt vor, der sich mit dem Wegfall des Freihandelsprivilegs und der Verlagerung der Handelswege auf Städte mit Meeranstoß (Odessa) beschleunigte. Kuzmany zeichnet in diesem Kapitel eindrücklich nach, wie wirtschaftliche Rahmenbedingungen den Gang der Stadtentwicklung letztlich bedingten.

Im zweiten Teil seiner Dissertation geht der Autorerneut auf der Basis extensiver Auswertung archivalischer Quellenden Besonderheiten der ethnokonfessionellen Gesellschaft und des Zusammenlebens in Brody nach. AlsÖsterreichs jüdischste Stadt, die die größte jüdische Gemeinde Galiziens (vor Lemberg!) beherbergte, schrieb sich Brody in die jüdisch-osteuropäische Geschichte ein. Der Anteil der jüdischen Bevölkerung nahm zwar im Laufe des 19. Jahrhunderts von 80 Prozent auf rund zwei Drittel ab, doch blieb Brody das weitherum ausstrahlende geistig-kulturelle Zentrum des osteuropäischen Judentums; ein vielstimmiges überdies, denn Anhänger der rabbinischen Orthodoxie, des Chassidismus, vor allem aber der in Brody starken jüdischen Aufklärung (Haskala) und erst später auch des jüdischen Nationalismus (Zionismus) stritten um die Ausrichtung der Gemeinde, was Kuzmany detailliert nachzeichnet. Brody war zudem schon seit dem 17. Jahrhundert eine Ausnahmeerscheinung gewesen, weil hier sowohl zu polnischer als auch zu österreichischer Zeit jüdische Einwohner der Stadt an prominenter Stelle und gemeinsam und gleichberechtigt mit einer christlichen Minderheit in den Gemeindeorganen das politische Leben der Stadt lenkten. Während in den anderen galizischen Städten jüdische Bevölkerungsmehrheiten bis zum Ersten Weltkrieg von christlichen, polnisch-ukrainischen abgelöst wurden, galt dies nicht für Brody (und eine einzige weitere galizische Stadt). Dies sowie die weitgehende Interessengemeinschaft der christlichen und jüdischen Großkaufleute Brodys dürfte die außerordentliche ethno-, später national-konfessionelle Situation in der Stadt vergleichsweise spannungsfrei geprägt haben. Dies zeigte sich etwa in der Schulpolitik, der sich Kuzmany ausführlich widmet: Die notabene immer jüdisch-polnisch-ukrainisch durchmischten Schulenselbst die Israelitische Realschule war gemischtwurden erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg von der deutschen auf die polnische Unterrichtssprache überführt: von der Sprache der jüdischen Aufklärer und einer gesamtstaatlichen Orientierung der städtischen (jüdischen) Eliten auf jene einer polnisch dominierten österreichischen Provinz. Fokussiert auf die Situation an den Brodyer Schulen analysiert der Autor das multi-ethnokonfessionelle Zusammenleben in der Stadt. Überwiegende Mehrsprachigkeit und gemeinsam ausgetragenenationaleFeste prägten den Alltag. Nationale Orientierungen und Institutionen gewannen erst ab dem Ende des 19. Jahrhunderts Gewicht, wobei auch diese Tatsache noch keine unüberwindbaren nationalen Gräben schuf. Verschiedene konfessionell-nationale Identitätsangebote waren überdies nicht nur Bestandteil der jüdischen, sondern auch derukrainischenGesellschaft Brodys. Zur Lebenswelt einer galizischen Grenzstadt gehörten schließlich auch die Exposition gegenüber Flüchtlingsströmen aus dem russländischen Reich, Spionage und Schmuggel, die Kuzmany im zweiten Teil ebenfalls beschreibt.

Im dritten Teil seiner Abhandlung wendet sich Kuzmany Brody als Wahrnehmungsgegenstand und Erinnerungsort in Reiseberichten, belletristischen Werken (besonders Joseph Roth) sowie ukrainischen, polnischen und jüdischen Gedenkbüchern zu. Hier referiert er vor allem die Brody betreffenden Inhalte der verschiedenen herbeigezogenen Quellen, weshalb dieses Kapitel erstaunlicherweise etwas blass bleibt. Nicht überraschend weist Kuzmany nach, dass die Erinnerungsbilder zu Brody wesentlich vom Standort der jeweiligen Autoren abhängen. Als hingegen besonders reizvoller Versuch der Rekonstruktion von Erinnerungsorten ist der reich bebilderte virtuelle Spaziergang zu werten, den Kumany mit seinen Leserinnen und Lesern durch die heutige Stadt Brody und die dort noch verbliebenen architektonischen Zeugnisse ihrer Geschichte unternimmt.

Kuzmany ist zweifelsohne eine überzeugendeStadtbiografiezu Brody während galizischer Zeit gelungen. Diese wertet nicht nur eine Vielzahl von Archivbeständen (Ukraine, Österreich, Frankreich, Polen, Russland, Deutschland) und gedruckten Quellen aus. Sie nähert sich ihrem Forschungsgegenstand überdies unter drei sich ergänzenden Perspektiven und bedient sich nicht zuletzt auch einer sehr gut lesbaren, konkreten Sprache. Die Schlussfolgerungen bringen den Inhalt des Buches nochmals konzis auf den Punktnämlich,dass Brody nicht nur in zeitlicher Abfolge zentraler europäischer Transferraum und periphere regionale Grenzstadt war, sondern je nach Analyseebene gleichzeitig zentral und peripher sein konnte. Brody ist ein Paradebeispiel für sich überlagernde Geographien: [].(S. 332). Das Buch macht zugleich deutlich, dass für gewisse lebensweltliche Fragestellungen wie das alltägliche Zusammenleben der verschiedenen Konfessionsethnien in einer galizischen Kleinstadt schlicht die Quellen zu fehlen scheinen, dass also bei der Erforschung einer galizischen Kleinstadt selbst im 19. Jahrhundert Leerstellen bleiben.

Christophe von Werdt, Bern

Zitierweise: Christophe von Werdt über: Börries Kuzmany: Brody. Eine galizische Grenzstadt im langen 19. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2011. 406 S., Abb., Ktn., Tab. ISBN: 978-3-205-78763-1, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/von_Werdt_Kuzmany_Brody.html (Datum des Seitenbesuchs)

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