Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 62 (2013), S. 439‒440
Verfasst von: Joachim Bahlcke
Buňatová, Marie Die Prager Juden in der Zeit vor der Schlacht am Weißen Berg. Handel und Wirtschaftsgebaren der Prager Juden im Spiegel des Liber albus Judeorum 1577–1601. Kiel: Solivagus-Verlag, 2011. 341 Seiten. ISBN: 978-3-9812101-6-3.
Bei den Libri albi Judeorum, den sogenannten Weißen Judenbüchern (tsch. Knihy židovské bílé), handelt es sich um Rechtsdokumente christlicher Provenienz, denen für das Studium des frühneuzeitlichen Prag und besonders für die Rechts-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte der dortigen jüdischen Gemeinde größte Bedeutung zukommt. Die von 1577 bis 1857 geführten Bücher der Prager Altstadt, insgesamt 93 Bände, sind vollständig überliefert und liegen heute im Archiv der Hauptstadt Prag (Archiv hlavního města Prahy). Die Anlage dieser separaten juristischen Bücher erfolgte vermutlich durch einen Befehl der Böhmischen Kammer – in rechtlicher Hinsicht galten die jüdischen Einwohner Prags als „Besitz“ der Kammer (servi camerae) – an den Rat der Prager Altstadt. Der Landesherr gewann auf diese Weise allgemein eine bessere Kenntnis über das Vermögen der jüdischen Bevölkerung, und die einzelnen Behörden konnten solider die Höhe regelmäßiger oder außerordentlicher Steuern festlegen. Gleichzeitig erhielt die jüdische Bevölkerung allerdings auch, und diese Überlegung war ebenfalls im Interesse des Königs, größere Sicherheiten für ihr Leben und ihre geschäftlichen Tätigkeiten. Ihrem Charakter nach sind die Libri albi Judeorum – der erste Band von 1577 bis 1601 wurde ausschließlich in tschechischer Sprache geführt, der zweite (1601–1701) auf Tschechisch und Deutsch, die übrigen nur noch auf Deutsch – Bücher der städtischen Gerichtsbarkeit. Sie dienten zur Verschriftlichung sämtlicher rechtlichen Angelegenheiten zwischen Christen und Juden oder zwischen zwei jüdischen Parteien. Sie enthalten entsprechend Einträge zu einer Vielzahl von Rechtsgeschäften und Angelegenheiten, etwa zum Erwerb und Verkauf von Immobilien, zu Obligationen und Testamenten. Daneben enthalten sie Urteile verschiedener Gerichtsinstanzen, des Stadtgerichts, des Prager Appellationsgerichts und des Oberstburggrafenamtes beispielsweise oder niederer Instanzen der Altstädter Selbstverwaltung wie des Sechsherrenamtes oder des Zehnherrenamtes.
Auf diese außergewöhnliche Quelle vor allem stützt sich Marie Buňatová in ihrer 2009 an der Universität Wien eingereichten historischen Dissertation über die Wirtschafts- und Handelsgeschichte der Prager Juden in der Frühen Neuzeit, die nun in einem noch jungen Kieler Wissenschaftsverlag im Druck erschienen ist. Missverständlich ist freilich die zeitliche Angabe des ersten Liber albus Judeorum im Untertitel, denn die Untersuchung erfasst einen wesentlich größeren Zeitraum als die gut zwei Jahrzehnte von 1577 bis 1601: In mehreren Kapiteln wird die sehr viel längere Zeitspanne von 1497 bis 1620 – von der jagiellonischen Herrschaft in den böhmischen Ländern bis zur Schlacht am Weißen Berg bei Prag und den mit ihr einhergehenden politisch-rechtlichen Umbrüchen – behandelt. Im Zentrum der klar strukturierten, auf hohem Niveau argumentierenden und sehr gut lesbaren Abhandlung stehen eine Definition der juristischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Stellung der Prager jüdischen Gemeinde im Rahmen der frühneuzeitlichen Gesellschaft Böhmens und die Charakterisierung der Beziehungen dieser jüdischen Kommunität mit der christlichen Bevölkerung. Dabei wird eine Vielzahl von Einzelfragen aufgegriffen und diskutiert: die Entwicklung der einschlägigen Gesetzgebung, der einzelnen Formen des Geld- und Warenkreditwesens, das Verwaltungssystem der jüdischen Bevölkerung, die Entwicklung ihrer Steuerpflichten, die gesellschaftliche Herkunft der Christen, die mit den Juden Kreditbeziehungen eingingen, sowie allgemein die Frage nach der Zusammenarbeit von Christen und Juden bei Finanztransaktionen.
Die Ergebnisse der Studie, die neben der eingangs genannten Hauptquelle eine große Zahl weiterer archivalischer und gedruckter Quellen heranzieht und darüber hinaus eine souveräne Kenntnis der vielsprachigen Fachliteratur erkennen lässt, sind reichhaltig und nicht nur für die Geschichte der Prager Juden von Belang. Überdies ist der räumliche und zeitliche Schwerpunkt der Studie gut gewählt, entwickelte sich die zu Beginn des 16. Jahrhunderts rund 600 Personen umfassende jüdische Gemeinde in der böhmischen Hauptstadt doch in rudolfinischer Zeit zu einer der größten und bedeutendsten Gemeinden in ganz Mitteleuropa. Von dem gewaltigen Aufschwung Prags während der Herrschaft Rudolfs II. profitierte eben auch, das belegen nicht zuletzt die seit 1575 errichteten Synagogen sowie die vielen neuen Häuser reicher Handelsleute, die Prager Judenstadt; sie entwickelte sich, wie Buňatová betont, zu einer Metropole in der Metropole. Wer diese Gemeinde nach außen hin vertrat, wer in ihr zur Oberschicht zählte und führende Funktionen wahrnahm und wer schließlich die üppigsten finanziellen Möglichkeiten besaß – all das und noch viel mehr wird auf breiter Quellenbasis rekonstruiert, diskutiert und analysiert. Die Prager jüdischen Händler waren schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts für die christlichen Geschäftsmänner eine ernstzunehmende Konkurrenz gewesen, und entsprechend liest sich ihr Aufstieg parallel als eine Geschichte von Beschränkung, Diskriminierung und rechtlicher Ausgrenzung. Auch das ist Teil dieser bemerkenswerten, intellektuell ebenso anregenden wie aufregenden Arbeit.
Zitierweise: Joachim Bahlcke über: Buňatová, Marie Die Prager Juden in der Zeit vor der Schlacht am Weißen Berg. Handel und Wirtschaftsgebaren der Prager Juden im Spiegel des Liber albus Judeorum 1577–1601. Kiel: Solivagus-Verlag, 2011. 341 Seiten. ISBN: 978-3-9812101-6-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Bahlcke_Bunatova_Prager_Juden.html (Datum des Seitenbesuchs)
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