Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Band 58 (2010) H. 3, S. 401-405
Orlando Figes The Whisperers. Private Life in Stalin’s Russia. Henry Holt and Company New York 2008. XXXVIII. ISBN: 978-0-312-42803-7.
Eine ‚große Erzählung‛ des Lebens im Stalinismus
Die Absicht der Monographie ist es, „die Stalinperiode durch das Prisma privaten Lebens normaler Familien zu verstehen“ (S. 658). (Die Übersetzungen stammen von mir.) Zugleich, so deklariert Figes, interessiert ihn auch das private Leben, durchdrungen vom allgegenwärtigen Stalin. Dies gelte selbst noch für die Zeit nach dessen Tode (S. XXXI–XXXII).
Die Basis der Ausführungen bilden Erinnerungen, Tagebücher und unzählige Interviews mit Zeitzeugen und ihren Kindern, die seit den achtziger Jahren durchgeführt worden sind. Gegenstand der Selbstzeugnisse ist nicht nur die Stalinzeit im engeren Sinne, sondern mehr oder minder die gesamte Sowjetperiode Russlands. Im Zentrum steht allerdings ein begrenztes Sample von Familien. Ihre Angehörigen wurden etwa zwischen 1917 und 1925 geboren, und sie haben ihre Sozialisation in den späten zwanziger und dreißiger Jahren erfahren. Der Faden ihrer Biographien wird immer wieder in den verschiedenen Stationen ihres Lebens aufgenommen. Mithin führt die ‚große Erzählung‛ durch die Geschichten einer Reihe von russischen oder russisch-jüdischen Familien. Deren Auswahl – siehe die „Stammbäume“ der wichtigsten Familien auf den Seiten XXI bis XXV – ist sicher auch bestimmt durch die Existenz ausreichender Zeugnisse. Erfasst wird, ergänzt durch viele Memoiren und Interviews, ein Spektrum, das von Partei- und Funktionärsmilieus über solche der russischen Intelligenz bis hin zu solchen von Angestellten, Händlern und Bauernfamilien („Kulaken“) reicht. Zentral sind hierbei die Geschichten der Familien des Schriftstellers Konstantin Simonov, der viermal verheiratet war. Mit Ausnahme von Simonovs engerer Familie handelt es sich um Familien, die mittel- oder unmittelbar von den Repressalien unter Stalin betroffen waren, also ‚dunkle Flecken‛ in ihren Biographien aufwiesen. Es geht nicht zuletzt darum, wie in der Stalinzeit und danach diese ‚dunklen Flecken‛ und andere stigmatisierende Elemente verleugnet, verborgen, camoufliert und kompensiert, wie sie bestenfalls angedeutet oder „flüsternd“ mitgeteilt wurden. Figes spielt auf diese Weise mit dem Gegensatz zwischen der triumphalistischen Propaganda, den dröhnenden Bekenntnissen und der pathetischen Rede, wie sie die öffentliche Kommunikation der gesamten Sowjetzeit geprägt hat, und dem „Flüstern“ über unangenehme und bedrohliche Erlebnisse und Erfahrungen seiner Helden.
Der Untertitel „Privates Leben in Stalins Russland“ wird seinem Anspruch, aus privater Sicht eine Geschichte des stalinschen Russlands zu liefern, allerdings kaum gerecht. Vielleicht ist dies angesichts der Größe und Heterogenität des Landes und der Dauer der Epoche auch ‚objektiv‛ nicht möglich. Die Bedeutung seines Themas und die Auswahl der Familien begründet Figes damit, dass zwischen 1928 und 1953 etwa 25 Millionen Sowjetbürger von Repressalien betroffen waren. Dabei sind die Kriegstoten und die Opfer der Hungersnöte nicht einmal dazu gerechnet. Diese 25 Millionen Menschen repräsentierten etwa ein Achtel der sowjetischen Bevölkerung; auf eineinhalb Familien entfiele somit ein Opfer stalinscher Gewaltmaßnahmen (S. XXXI).
Das private Leben ist Gegenstand besonders der ersten Kapitel, in denen es um den Alltag, die Erziehung und die Sozialisation geht. Im Vordergrund steht der byt, die Lebensweise, von Angehörigen des Partei- und Funktionärsmilieus, deren Familienleben und Umgang mit den Kindern völlig dominiert worden seien durch den „Dienst“ an, wenn nicht gar die „Hingabe“ für die Partei oder für das sowjetische Projekt. Von Privatheit kann hier zumeist gar nicht die Rede sein. Unter den spartanischen, oft auch ärmlichen, militanten, ganz der Partei verpflichteten Eltern litten zweifellos die Kinder und Jugendlichen. Sie lernten familiäre Geborgenheit, Wärme und Vertrautheit kaum kennen. Bestenfalls vermittelten hier die Großmütter Elemente von familiärem Behütetsein. Indirekt begründet Figes damit die beträchtliche Resonanz, die Pavlik Morozov, also der Junge, der seinen Vater als Klassenfeind an die „Organe“ auslieferte, unter der Jugend fand. Seit der Kollektivierung der Landwirtschaft wurden unter Jugendlichen die Denunziation und das Verleugnen „sozial fremder“ oder „klassenfeindlicher“ Eltern und Verwandter zur vielfach akzeptierten und praktizierten Norm. Manchmal legten bedrohte Eltern ihren Kindern eine Distanzierung sogar nahe, um deren Zukunft nicht zu ruinieren. Sofern die verlassenen Kinder nicht in Kinderasylen landeten, waren es dann wieder vor allem die Großmütter, die für die Enkel sorgten.
Einen Kontrast dazu bildet die Darstellung sowohl der immer noch von patriarchalischen Normen dominierten Bauernfamilie der Golovins (S. 50ff.) als auch der jüdischen Händlerfamilie Laskin (S. 64ff.). Eigentlich kann nur in diesen Familien von einem privaten, familienzentrierten Leben die Rede sein.
Mit der Familie Simonovs porträtiert Figes einen dritten Typus aus den bürgerlich-adligen Milieus, die sich nolens volens den Bol’ševiki zur Verfügung stellten. Sein Nachwuchs – hier in Gestalt Konstantin Simonovs – polte seine ganze Orientierung und Karriere (!) auf bolschewistische Normen um. Dies fiel dem ehrgeizigen Konstantin angesichts der Nähe zwischen überkommenen militärischen, wenn nicht gar militaristischen Normen in der Offiziersfamilie der Simonovs und bolschewistischer Militanz nicht besonders schwer.
Mit der Darstellung des unterschiedlichen Alltags der zwanziger Jahre entwirft Figes ein Panorama gesellschaftlicher Normen und habitueller Praktiken, die den Umgang mit Repressalien aller Art, mit Stigmatisierung und Leidenserfahrung nachhaltig prägen sollten. Diese Normen und Praktiken erwiesen sich auf Dauer als so beherrschend und ‚zwingend‛, dass den Opfern Stalins keine alternative Sprache und keine alternativen Wert- und Verhaltensorientierungen zur Verfügung standen, um das eigene Leiden jenseits stalinscher und – später – gemilderter sowjetischer Normen verarbeiten zu können. Dies ist dann das zentrale Thema der letzten drei Kapitel. Nur „dekabristische“ Stimmungen der siegreich aus dem Krieg heimkehrenden Soldaten und der Nationalismus unter Balten und Ukrainern hätten nach dem Zweiten Weltkrieg den Insassen des Gulag alternative Orientierungen geliefert, die auch zu Widerstand befähigten. Sie erreichten aber kaum die weitere Gesellschaft (S. 459ff., 530ff.).
Die Lebensgeschichten nach den Katastrophen der Verhaftung oder des Verschwindens behandeln die Trennung von Familien und die spätere Zusammenführung der Überlebenden sowie den Alltag in Lagern, Baracken und beengten Gemeinschaftswohnungen (kommunalka). Ob es hier ein ‚privates Leben‛ überhaupt gegeben hat, wird kaum thematisiert. In einigen Interviews, die ich gelesen habe, lässt sich gelegentlich der Kampf um Nischen des Privaten erkennen. Privatheit bedeutete hier allerdings häufiger, sich gegen das Umfeld abzuschließen, Tabus zum eigenen Schutz, aber auch zum inneren Frieden zu beachten, Verstecke zu suchen. Privatheit hatte offenbar viel mit Verbergen, Camouflieren und Schweigen zu tun, um kognitive Dissonanzen im Zaum zu halten. Wenn Figes mehr als Familiengeschichten und -dramen hätte erzählen wollen, wären Erörterungen zum Verhältnis und zur gegenseitigen Durchdringung zwischen privater, öffentlicher und politischer Sphäre notwendig gewesen. Die Interviews liefern jedenfalls eine Fülle von Material zu diesem Thema.
Figes’ Buch liefert das Panorama eines Segments einer Generation, die als Opfer und manchmal als Profiteure des Regimes das sowjetische Projekt um fast jeden Preis mitgetragen haben. Es ist im Grunde die Perspektive des heimlichen Helden Konstantin Simonov, welche die ‚große Erzählung‛ des Buches bestimmt. Dies wird deutlich, wenn man darauf achtet, welche Aspekte des stalinschen Sozialismus nicht behandelt werden: Angehörige nicht-russischer Volker kommen in den Selbstzeugnissen fast nicht vor. Mit Ausnahme des Antisemitismus und „Antikosmopolitismus“ spielen nationale Beziehungen und ihre Verwerfungen keine Rolle. Stalins Russland erscheint hier fast als russischer Nationalstaat. Ebenso einseitig bzw. perspektivisch verengt ist die Sicht auf den „Großen Vaterländischen Krieg“: Die Erfahrungen der Bevölkerung unter deutscher Besatzung, Kollaboration, Massendesertionen, die Deportationen und Zwangsarbeit unter nationalsozialistischer Herrschaft, der Holocaust auf sowjetischem Territorium, die Deportationen am Ende des Krieges, die Nachkriegsfiltrationen kommen hier, der Perspektive Simonovs und seiner Familien folgend, nicht vor.
Dietrich Beyrau, Tübingen
Zitierweise: Dietrich Beyrau über: Orlando Figes The Whisperers. Private Life in Stalin’s Russia. Henry Holt and Company New York 2008. XXXVIII. ISBN: 978-0-312-42803-7, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 3, S. 401-405: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Beyrau_Figes_Whisperers.html (Datum des Seitenbesuchs)
*Rezensiert auf der Grundlage der englischen Originalfassung: Orlando Figes The Whisperers. Private Life in Stalin’s Russia. Henry Holt and Company New York 2008. XXXVIII, 740 S., Abb., Ktn., Tab. ISBN: 978-0-312-42803-7.
1Alexander Solshhenizyn Der Archipel GULAG. 1918‒1956. Versuch einer künstlerischen Bewältigung. Bd. 1. Bern 1974, S. 18 (Anm.).
2Siehe hierzu Igal Halfin From Darkness to Light. Class, Consciousness and Salvation in Revolutionary Russia. Pittsburgh 2000; Jochen Hellbeck Revolution on My Mind. Writing a Diary under Stalin. Cambridge, MA, London 2006.
3Catherine Merrydale Steinerne Nächte. Leiden und Sterben in Russland. München 2001, S. 27ff.
4Siehe hierzu Susanne Schattenberg Stalins Ingenieure. Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren. München 2002.
5Vgl. Malte Rolf Das sowjetische Massenfest. Hamburg 2006; Katharina Kucher Der Gorki-Park. Freizeitkultur im Stalinismus 1928–1941. Köln, Weimar, Wien 2007; Karl Schlögel Terror und Traum: Moskau 1937. München 2008.
6Siehe Michael David-Fox [u.a.] Marketing Russian History, in: Kritika 9 (2008) H. 3, S. 497–504.